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4. Das Reich und die deutsche Nation

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Kombiniert man das Bild vom Reich mit dem der Territorien um 1500, könnte der Eindruck einer unzusammenhängenden und unvollständigen Masse entstehen, die kaum mit dem Begriff Einheit bezeichnet werden kann. Das Reich hat, so scheint es, weder Zentrum noch einigende Kraft. Die Autorität der herrschenden Dynastie war nicht gefestigt und, gemäß vielfachem Urteil, in weiten Teilen des Nordens gar nicht vorhanden und strahlte, wo es sie gab, nicht von einem Zentrum, sondern von der südöstlichen Peripherie aus. Zudem hatte das Reich kein Kernterritorium, kein Gravitationszentrum, das vergleichbar wäre mit (um ein Beispiel zu nennen) der Provinz Holland in den Vereinigten Niederlanden. Auch gab es offensichtlich keine ideologische Klammer vergleichbar derjenigen, die die Schweizer Kantone zusammenhielt, die erst ein eigenständiges Bündnis im Reich und schließlich nach 1648 einen selbstständigen Staat bildeten. Dem Flickenteppich der Territorien entsprach die Vielfalt der Wirtschaftsstrukturen. So viel Verschiedenheit von den Alpen bis zum Baltikum, von den westlichen Rheingebieten bis zu den slawischen Siedlungen im Osten scheint wenig Anlass für gemeinsame Interessen zu bieten. Um 1500 hatte das Reich etwa 16 Millionen Einwohner (mit etwa zwei Millionen in den Niederlanden, ebenso viel in den böhmischen Gebieten und etwa 600.000 in der Schweiz, aber mit Ausschluss der italienischen Reichsterritorien) und damit gut ein Viertel der Bevölkerung von Gesamteuropa.1 In welchem Sinn lässt sich dabei von einer wirklichen Interessengemeinschaft oder gar einer Einheit sprechen? Wie nahmen Zeitgenossen »Deutschland« wahr?

Sicher hatten einige Gebiete um 1500 bereits ihre eigene Identität entwickelt oder waren im Begriff, es zu tun. Deshalb gehören weder die Schweizer Kantone noch die Niederlande in die frühmoderne Geschichte des Reichs, oder bestenfalls an den Rand. Böhmen ist möglicherweise ein weiterer Sonderfall, auch wenn es im Reich verblieb und in dessen späterer Geschichte eine bestimmte Rolle spielte. In vielen Reichsgebieten sollte man den Grad an Integration nicht unterschätzen, den die Netzwerke adliger Familien und die von Fürstenhöfen wie auch die vom monarchischen Hof selbst unterhaltenen Systeme von Gefolgschaft und Schirmherrschaft herzustellen imstande waren. So schufen beispielsweise in der Wetterau Mischehen zwischen den Grafenfamilien der Region sowie Landtausch durch Kondominiumverträge und »Erbverbrüderungen« ein Gewebe aus Bündnissen und ein gruppenbezogenes Identitätsgefühl, das schließlich zur Entstehung eines »korporativen« oder »quasiterritorialen« Staats führte.2 In ähnlicher Weise unterhielten Fürstentümer wie die Pfalz und Württemberg gefolgschaftliche Netzwerke, die sich weit über die je eigenen Territorien erstreckten und ansonsten unabhängige Adlige wie auch gebildete Bürger von den Reichsstädten an den herrscherlichen Hof brachten. In kirchlichen Territorien wurde der Hof durch das Domkapitel ergänzt, beides Institutionen, die außenstehende Adlige zu integrieren vermochten. Das größte Netzwerk dieser Art aber unterhielt der herrscherliche Hof selbst, ein Netzwerk, das sich nach Westen hin über praktisch das gesamte südliche Reich erstreckte.3

Die Bedeutung dieser ihrem Wesen nach feudalen Netzwerke hat manche Historiker fragen lassen, ob ein »nationaler« Interpretationsansatz für die Geschichte des Reichs überhaupt gerechtfertigt werden kann.4 Andererseits gibt es reichlich Hinweise darauf, dass eine »nationale« Dimension um 1500 zunehmend an Bedeutung gewann. Es fällt ins Auge, dass Begriffe wie deutsche Nation oder deutsche Sprache gerade zu dieser Zeit im Kontext einer neuen Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit und der Frage nach der Identität der Deutschen häufiger als je in Umlauf waren.

Die Historiker sind sich uneins darüber, wie dieses Phänomen interpretiert werden sollte. Kaum noch Unterstützung findet die Sichtweise traditioneller Historiker, die in den patriotischen Ergüssen bestimmter Humanisten Beweise für die allmähliche Entstehung der deutschen Nation sahen, der dann durch politische Ereignisse gleich wieder Knüppel zwischen die Beine geworfen wurden.5 Ähnlich irren moderne Gelehrte, die solche Gefühle als »kompensatorischen« Nationalismus bezeichnen; auch sie messen spätmittelalterliche Verhältnisse an denen des 19. und 20. Jahrhunderts.6 Das wiederum lässt andere Historiker leugnen, dass es vor der Epoche der Moderne überhaupt so etwas wie Nationalismus gegeben habe.

Es scheint jedoch recht eindeutig, dass es sogar schon im Mittelalter so etwas wie nationales Bewusstsein gegeben hat. Im 15. Jahrhundert gewann der Begriff natio, der ursprünglich Untergruppen in Körperschaften wie der Kirche oder Kirchenräten, einer Universität oder einer Kaufmannsgilde bezeichnete, eine umfassendere Bedeutung, indem er sich nun auf eine größere sprachliche oder kulturelle Gemeinschaft bezog. Natürlich lagen Welten zwischen dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Nationalbewusstsein und dem späteren Nationalismus. In der Regel war die soziale Reichweite solcher Vorstellungen viel begrenzter, obwohl es Hinweise darauf gibt, dass sie in der volkstümlichen Mythologie und Propaganda vorhanden waren. Auch ihre politischen Implikationen reichten nicht sehr weit und führten nicht zur Forderung nach einem Nationalstaat.

Ein anderes Problem ist, dass die Begriffe selbst gar nicht genau festlegbar waren. So ließ sich zum Beispiel deutsche Nation nicht ohne Weiteres auf ein geografisches Gebiet beziehen; schließlich war das Reich ein »Personenverband«, nicht aber ein Territorialstaat. Dennoch gab es zwei den Begriff deutsche Nation stützende Traditionen: zum einen die Überzeugung, dass die Deutschen eine einzigartige und besondere Sprache besäßen, zum anderen die Überzeugung, dass sie durch eine kontinuierliche verfassungsmäßige Tradition Erben des Römischen Reiches seien.7

Besonders faszinierend ist dabei die Sprachproblematik, auch deshalb, weil Forscher wie Herder und Jacob Grimm im 18. und 19. Jahrhundert die Sprache als zentrales Element für die Herausbildung kollektiver ethnischer und nationaler Identitäten begriffen. Rüdiger Schnell zufolge gibt es Hinweise darauf, dass trotz des Bewusstseins der tiefgreifenden regionalen Unterschiede vom 9. bis zum 16. Jahrhundert die Überzeugung herrschte, es gebe eine einzige deutsche Sprache. Allerdings wird diese Überzeugung wohl nicht von philologischen Erkenntnissen unterstützt. Abgesehen davon, dass es im Reich fortwährend nichtdeutsche Sprachgruppen gab, bildete sich eine deutsche Standardsprache erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts heraus. Die Beweise für eine vorherige Standardisierung sind sehr dünn.8

Wenn es damals einen verbreiteten Sprachstandard gab, dann das in Lübeck beheimatete Niederdeutsche in schriftlicher und gesprochener Form, das sich mit dem Aufstieg der Hanse ausgebreitet hatte. Um 1500 reichte das Niederdeutsche im Norden vom westlich gelegenen Emden bis nach Dorpat, Riga und Reval an der baltischen Ostseeküste.9 Die Lage in Mittel- und Süddeutschland war sehr viel komplizierter. Diese Gebiete wurden von philologischen Forschungen eher bevorzugt, weil das moderne Deutsch sich aus einem Amalgam von dort verwendeten Formen und Dialekten entwickelte.Viele Annahmen hinsichtlich der Entwicklung dieses Amalgams beruhen auch auf der Ansicht, dass Martin Luther der Ahnherr des modernen Deutsch sei.Viel Bedeutung wird dabei Luthers Bemerkung (in seinen Tischgesprächen um 1532), er habe keine besondere deutsche Sprache, sondern das »gemeine Deutsch« benutzt, das von Ober- und Niederdeutschen gleichermaßen verstanden werden könne: »Ich rede nach der Sechsischen cantzley, quam imitantur omnes duces et reges Germaniae; alle reichstette, fürsten höfe schreiben nach der Sechsischen cantzleien unser churfürsten. Ideo est communissima lingua Germaniae. Maximilianus imperator et elector Fredericus imprium ita ad certam linguam definerunt, haben also alle sprachen in eine getzogen.«10

Luthers Schlussfolgerung ist vielleicht ein wenig voreilig. Der Einfluss seiner Schriften im Norden wurde durch ihre Übersetzung ins Niederdeutsche unterstützt.11 Allerdings verweisen seine Kommentare auf einige der Kräfte, die eine begrenzte Standardisierung vor den 1520er Jahren befördert haben könnten. Die Umgangssprache im deutschen Südwesten, »das gemeine Deutsch«, scheint als Sprache des Handels im Süden vorherrschend gewesen zu sein. Diese wiederum hatte vieles mit den schriftlichen Formen gemein, die in Maximilians Kanzlei entwickelt und vom Kanzler, Niclas Ziegler, nach Kräften gefördert wurden. Ziegler sorgte auch dafür, dass die kaiserlichen Dokumente, ob sie nun in Innsbruck oder den Niederlanden entstanden, zunehmend in einer einheitlichen Orthografie abgefasst wurden.12 Wenn die kaiserliche Kanzlei dergestalt vom Südwesten aus ihren Einfluss geltend machte, lässt sich Gleiches von der sächsischen Kanzlei in Meißen annehmen, die ihr Deutsch in Mitteldeutschland durchsetzte. Natürlich gab es zwischen den beiden Kanzleien politische Verbindungen, sodass es schwierig ist, die jeweiligen Einflussbereiche genau festzulegen. Allerdings herrschte der Meißener Stil in Mainz vor und bestimmte die Sprache der »Reichsabschiede«, worin die kaiserlichen Erlasse verkündet wurden. Ebenso wurde er bald nach 1500 von den weiter nördlich situierten Kanzleien übernommen, wobei Brandenburg den Anfang machte. Diese Ausbreitung des Meißener Stils trug wesentlich zum allmählichen Niedergang des Niederdeutschen als Schrift- und Verwaltungssprache bei.13

Es gibt sehr unterschiedliche Ansichten darüber, wie rasch sich dieser Wandel vollzog oder welche Bedeutung den diversen Sprachformen, die zu ihm beitrugen, beizumessen ist. Sicher ist jedoch, dass dieser Prozess um 1500 in einem sehr frühen Stadium war. So hatte sich zum Beispiel der Einfluss des um 1450 erfundenen Buchdrucks noch nicht geltend gemacht. Das endgültige Aus für das Niederdeutsche als vorherrschender Sprachform im Norden des Reichs hatte sich mit dem Niedergang der Hanse nach 1450 zwar schon leise angekündigt, kam jedoch erst nach 1550 (und überlebte in Orten wie Hamburg bis ins 18. Jahrhundert). Abgesehen von allen Ausnahmen, war die tatsächliche Standardsprache für Gelehrte, Verwalter und dergleichen um 1500 immer noch das Latein.14 Selbst für jene Humanisten, die das Loblied der Umgangssprache sangen, blieb das Latein vorherrschend. Typischerweise zählte der erste Versuch einer Geschichte der deutschen Literatur – Johannes Trithemius’ De viris illustribus Germaniae (1495) – an die dreihundert Autoren auf, von denen jedoch nur ein einziger auf Deutsch geschrieben hatte: Otfried von Weissenburg im 9. Jahrhundert.15

Die Kluft zwischen der Wirklichkeit einer sprachlichen Vielfalt und der Idee einer einzigen Sprache wirkt weniger paradox, wenn man sie vor dem Hintergrund der zweiten mittelalterlichen Überlieferung sieht: dem Bewusstsein von einer kontinuierlichen Verfassungstradition in einem von Rom abstammenden Reich. Diese Vorstellung ist stärker in der politischen Wirklichkeit verwurzelt. Die Ideen einer translatio imperii und einer bis zum antiken Rom zurückreichenden Kontinuität waren Leitmotive der Ära des Mittelalters insgesamt, erlangten aber in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts neue Dimensionen. Ein veränderter politischer Kontext sorgte für einen Rahmen, innerhalb dessen humanistische Gelehrte landläufige Ideen höchst vielfältig variierten. Dabei ging es um »vorpolitische« Ideen über Ursprünge, Sprache und Gebräuche sowie das, was wir heute als Vorstellungen von ethnischer Identität bezeichnen. All das blieb jedoch fest mit Anschauungen über die wesentlichen Funktionen des Heiligen Römischen Reichs verbunden. Jene Ideen und Vorstellungen waren keine Manifestationen eines frühen Nationalismus, der einen zukünftigen Nationalstaat ersehnte, sondern Reflexionen des gegenwärtigen Stands der Dinge.

Die Entstehungsgründe der neuen, in den 1470er Jahren einsetzenden Triebkraft der Reichspolitik sind schon in der Erörterung der Reichsverfassung angesprochen worden. Die Bedrohung durch die Türken im Osten und durch Burgund/Frankreich im Westen führte zu einer rhetorischen Beschwörung nationaler Verteidigungsbereitschaft, die der Sprache der Reichspolitik ein neues Vokabular bescherte. Was zur »deutschen Nation« gehörte, also zu den Gebieten, in denen, wie man einfacherweise definierte, die »deutsche Zunge« erklang, musste vom gesamten Reich verteidigt werden. Zur selben Zeit erwuchs aus dem Widerstand gegen habsburgische Ambitionen in Italien eine weitere Differenz: Man unterschied zwischen dem, was deutsch, und dem, was »welsch« (lateinisch oder italienisch) war. Maximilian bestand darauf, dass die deutschen und die »welschen« Nationen gemeinsame Interessen besäßen, worauf die deutschen Stände im Reichstag reagierten, indem sie ausschließlich die Interessen der »deutschen Nation« betonten.16

Solche Wortgefechte hatten nichts Nationalistisches an sich. Es ging nicht um die »Nation« in der Bedeutung, die der Begriff im 19. Jahrhundert bekommen sollte, sondern um ganz reale Probleme, um Geld, Verteidigung und Macht.17 Der Propagandawert solcher Ausdrücke wie deutsche Nation ist ersichtlich aus der Tatsache, dass 1474 sogar die Stadt Bern an ihre Schweizer Nachbarn appellieren konnte, sich gegen die burgundischen Angreifer im Namen der »teutschen Nation« zu erheben und diese Nation gegen die »Türk im Occident« zu verteidigen. Mit ihrer Gleichsetzung von Karl dem Kühnen mit Mehmet II. ahmt diese Sprache Kaiser Friedrich III. nach, der 1455 an die Schweizer appellierte, die »deutsche Nation« gegen die Türken zu verteidigen.18 Ebenso hatten Maximilians Aufrufe an seine Nationen in den 1490er Jahren nichts Nationalistisches oder gar »Multinationalistisches« an sich. Seine autobiografischen Schriften lassen erkennen, dass Nation, Reich und sogar Christenheit – jene Begriffe, die seine öffentlichen politischen Äußerungen prägten – gegenüber seiner Person sekundär waren. Maximilian stilisierte sich gern in den Heldenfiguren von »Weisskunig« und dem weisen und kühnen Kreuzritter Theuerdank.19

In der literarischen Vorstellungswelt von Kaiser Maximilian stimmt die Sprache der politischen Propaganda mit der Art und Weise überein, in der die Humanisten die Frage der Nation im Zusammenhang mit literarischen und mythologischen Narrativen erörterten. Auch sie bezogen sich auf mittelalterliche und volkstümliche Traditionen. So wurde der Mythos vom schlafenden Reich, in dem Kaiser Barbarossa der ersehnte Retter der Deutschen ist, in weitverbreiteten prophetischen Schriften bis zur Reformationszeit immer wieder vorgetragen.20 Es waren jedoch die humanistischen Schriftsteller, die ab den 1480er Jahren diese langlebigen Eschatologien in einen neuen Diskurs einsetzten. Zudem waren ihre Schriften sowohl mit der wachsenden politischen Diskussion über die Notwendigkeit, das Reich zu verteidigen, als auch mit den Ambitionen Maximilians selbst eng verbunden. Die Notwendigkeit, das Reich zu verteidigen, wurde von der Notwendigkeit begleitet, seine Feinde neu zu bestimmen, die nationalen und moralischen Grenzen zwischen den Deutschen und ihren Gegenspielern deutlicher darzustellen. Zugleich förderte die wachsende Einsicht in die Notwendigkeit einer Reform des Reichs den Wunsch, seinen Charakter und sein Potenzial zu bestimmen.

Und schließlich machte sich Maximilian die aufkommende Diskussion dieser Themen zunutze, indem er hartnäckig den Versuch unternahm, die Schreibfedern der Gebildeten so zu mobilisieren, wie er die militärischen Ressourcen des Reichs zu mobilisieren suchte. Die Umwandlung der Institution des poeta laureatus caesareus (des kaiserlichen lorbeerbekrönten Dichters) zeigte die neu eingeschlagene Richtung an. Der Wandel begann bereits in den späteren Regierungsjahren Friedrichs III. Die traditionelle Krönungszeremonie für den poeta laureatus mit der impliziten Aufforderung, der Gekrönte solle Kaiser und Reich verherrlichen, war nur hin und wieder vorgenommen worden, und dann zumeist in Italien. Mit der 1487 vollzogenen Krönung von Conrad Celtis, dem ersten deutschen Dichter, dem diese Ehrung widerfuhr, nahm das bislang eher unbestimmte Amt eine neue politische Bedeutung an.

Celtis machte sich nützlich, indem er 1501 in Wien die Akademie der Dichter und Mathematiker gründete. Er wurde der erste laureae custos et collator (Hüter und Sammler des Lorbeers) und erhielt von Maximilian das Recht verliehen, herausragende Personen zu Dichtern zu krönen. Celtis’ literarischer Ehrgeiz und Patriotismus fand in Maximilian einen verwandten Geist. Die beiden krönten mehr Dichter als dies in den vorangegangenen Epochen geschehen war; als Maximilian 1519 starb, hatte er die Krönung von nicht weniger als 37 Dichtern veranlasst. Sein Ziel war es, eine ganze Legion von literarischen Propagandisten für das Reich zu gewinnen, die ihren Einfluss und ihre Verbindungen nutzen konnten, um ein Netzwerk von Humanisten zu schaffen.21 Hervorgehoben wurde ihre politische Funktion durch die Verpflichtung, bei der Eröffnung eines Reichstags eine versifizierte Lobrede zu halten. Auf diese Weise sollten die gekrönten Dichter zusammen mit weiteren Zeremonialbeamten wie den Reichsherolden, die ebenfalls eine literarische Funktion besaßen, das Gefühl von Einheit und Solidarität der zum Reichstag Versammelten stärken.22

Natürlich machen ein paar Hundert Humanisten noch keine Nation aus. Die Frage, wie weit hinein in die unteren Schichten der Gesellschaft die Auffassungen der Humanisten oder die politischen Anliegen des Reichstags wirklich reichten, dürfte schwierig zu beantworten sein. Jedoch gibt es viele Hinweise darauf, dass einige Elemente von beidem sich mit sozialen Bewegungen und Meinungsäußerungen auf der Ebene des »gemeinen Mannes« zumindest überschnitten oder sie sogar prägten. 1493, 1502, 1513 und 1517 gab es Aufstände der Bundschuh-Bewegung, protestierender Bauern, im Elsass und im Südwesten. Neben eher lokalen und materiellen Forderungen wurden jedes Mal Rufe nach der Reform des Reichs und der Verteidigung gegen Frankreich laut. Die astrologischen Fantasien von Johannes Lichtenberger (besonders seine populäre Schrift Prognosticatio in latino von 1488, die zwischen 1492 und 1530 nicht weniger als 29-mal nachgedruckt wurde) liefen auf die Mahnung hinaus, dass die Türken Köln erobern würden, wenn man das Reich nicht reformierte.23 In ähnlicher Weise verband der anonyme Oberrheinische Revolutionär humanistische Mythologie mit millenaristischer Erwartung, als er 1509 über die Bruderschaft vom Gelben Kreuz schrieb, die einen neuen Kaiser Friedrich (der aus dem Elsass stammen sollte) unterstützen würde, wenn dieser ein neues Tausendjähriges Reich als Vorspiel zum Goldenen Zeitalter errichtete.24 Und schließlich lässt sich nachweisen, dass es aus Anlass der Kaiserwahl von 1519 starke Emotionen in der Bevölkerung gab. Unter anderem berichtete der englische Gesandte Richard Pace, dass es eine Revolution geben würde, wenn der französische König den Vorzug vor dem »deutschen« Karl erhielte. (Karl war ein mehrsprachiger Habsburger mit burgundischen, deutschen und spanischen Vorfahren, dessen »Nationalität« zu bestimmen nahezu unmöglich ist.25)

Diese Themen werden im Zusammenhang mit Reformation und Bauernkrieg wiederkehren. Ihre Bedeutung liegt darin, zu zeigen, dass solche Diskussionen keineswegs nur in den Höhen begrifflicher Abstraktion von einer Minderheit geführt wurden. Mit ihrem wiederholt geäußerten Beharren auf der Notwendigkeit, Reich und Kirche zu reformieren, rücken die radikaleren Manifestationen einen wichtigen Punkt des neuen humanistischen Diskurses über die Nation in den Vordergrund.

Insgesamt ging es den deutschen Humanisten um neue Variationen zum alten Thema der translatio imperii.26 Schon nach kurzer Zeit zeigte sich an den unterschiedlichen Interpretationen der Riss zwischen Katholiken und Protestanten, und das einige Jahre vor der Reformation. Die alte Sichtweise vom Reich als einem universellen christlichen Imperium wurde noch von Humanisten wie Johannes Cochlaeus gepflegt. Mit seinem »Teutschlandt uber alle Welt« bezog er sich auf das »deutsche« Reich als Mittelpunkt dieses Weltreichs. Später missverstand man seine Äußerungen als Behauptung deutscher Überlegenheit. Im 19. Jahrhundert machte Hoffmann von Fallersleben daraus die Liedzeile »Deutschland, Deutschland über alles«, was später, ebenso missverstanden, zur Hymne des militanten deutschen Nationalismus wurde.27 Cochlaeus bezog sich, wie andere humanistische »Traditionalisten«, lediglich auf die Zentralstellung »Deutschlands« im damaligen Reich.28

Bei anderen Humanisten stand die Abneigung gegen Italien im Vordergrund, die sich häufig als scharf formulierte Abneigung gegen Rom konkretisierte. Sie beharrten auf dem eigenständigen ethnischen Charakter der Deutschen und »entdeckten« deren trojanische oder vortrojanische Ursprünge. Dadurch erhielten die Deutschen einen neuen und unabhängigen Status, woraus einige Humanisten die Rechtfertigung ableiteten, das moderne Rom in Gestalt des Papsttums zu verwerfen. Ulrich von Hutten etwa ließ sich von den ersten Büchern der Annalen des Tacitus inspirieren, die man wiederentdeckt und 1515 veröffentlicht hatte. Dort fand er die Geschichte des Sieges von Arminius (bzw. Hermann dem Cherusker) über die römischen Legionen unter Quintilius Varus in der Schlacht im Teutoburger Wald 9 n. Chr.29 Zwar lag die Blütezeit der Arminius-Mythologie erst im 17. und 18. Jahrhundert und gewann im 19. Jahrhundert Kultcharakter, doch bilden die Ursprünge des Mythos im frühen 16. Jahrhundert eine weitere Quelle für die Idee einer deutschen Nation zu Beginn der frühen Neuzeit.30 Autoren wie Hutten und Jakob Wimpfeling zogen aus einigen Jahrzehnten humanistischer Forschung den Schluss, man müsse die Befreiung vom römischen Joch fordern. Diese Tendenz ist mit dem Ausdruck partielle Nationalisierung der Reichsidee angemessen beschrieben worden. Die translatio imperii wurde nun als Prozess begriffen, durch den die Dienste der Deutschen am Christentum mit der Verwaltung des Römischen Reichs belohnt wurden.

Wie so vieles an den Diskussionen über die Verfassungsreform waren auch die politische Sprache und »nationale« Selbstdefinition der Epoche um 1500 nur Präludien. So, wie das Verfassungssystem sich während des folgenden Jahrhunderts entfaltete, so entwickelte sich auch die Auffassung über die geschichtlichen Ursprünge des Reichs. Aber erst 1643 widersprach Hermann Conring schließlich der traditionellen Überzeugung vom römischen Ursprung und formulierte die Theorie einer spezifisch deutschen Genese des Reichs.31 Die Humanisten hatten jedoch dafür das Fundament gelegt und damit ein Gefühl von Gemeinschaft, von gemeinsamen politischen und verfassungsmäßigen Traditionen verstärkt, das die deutschen Lande miteinander verband und das Reich zu einer Ganzheit fügte. Seine Grenzen waren fließend und sein Inneres ein Flickenteppich. Sein Verfassungssystem fand in manchen Territorien des Nordwestens noch keinen anderen Ausdruck als das rein formale und in der Praxis bisweilen wenig starke Band der feudalen Beziehung zwischen Oberherrn und Vasallen. Aber die wesentlichen Elemente, die in der frühen Neuzeit zwar keinen deutschen Nationalstaat, aber eine Gemeinschaft der deutschen Lande hervorbrachten, begannen im späten 15. Jahrhundert zusammenzuwachsen. Paradoxerweise war das nächste Stadium in der Verwirklichung dieser Gemeinschaft eine Herausforderung, die sie in gewisser Weise spaltete: die Reformation.

Anmerkungen

1 Rabe, Geschichte, 42–43.

2 Schmidt, Grafenverein, 1–5, 113–159.

3 Press, »Patronat«, 20–28.

4 Press, »Patronat«, 36.

5 Stauber, »Nationalismus«.

6 Vgl. etwa Reinhardt, »Primat«, 91.

7 Moraw, »Voraussetzungen«, 101–102; Thomas, »Identitätsproblem«, 155.

8 Schnell, »Literatur«, 298.

9 Wiesinger, »Sprachausformung«, 339–340.

10 Wells, German, 141, 198, 455.

11 Wiesinger, »Sprachausformung«, 339.

12 König, Atlas, 95.

13 König, Atlas, 93; Wells, German, 136–137, 141, 198; Coupe, Reader, XIII–XVIII.

14 Wells, German, 133–134, 141–142; Lutz, Ringen, 79; Schnell, »Literatur«, 298–300, 307.

15 Schnell, »Literatur«, 308.

16 Schröcker, Nation, 118–119.

17 Schröcker, Nation, 141.

18 Sieber-Lehmann, »Teutsche Nation«.

19 Schröcker, Nation, 143–144; Benecke, Maximilian I, 7–30; Silver, Maximilian, passim, analysiert die Ikonografie mitsamt ihrer Projektion und Dissemination.

20 Borchardt, Antiquity, 199–297.

21 Mertens, »poeta laureatus«, 155–157; Flood, Poets laureate, Bd. I, LXXXVIII–CIII.

22 Schubert, Reichstage, 174–189.

23 Lutz, Ringen, 92; Killy, Lexikon, Bd.VII, 266–267; ADB, Bd. XVIII, 538–542.

24 Borchardt, Antiquity, 116–119.

25 Schmidt, »Reichs-Staat«, 23–24.

26 Garber, »Nationalismus«, 24–25.

27 Hoffmann von Fallersleben war ein politischer Liberaler, der an die Deutschen appellierte, Deutschland höher zu schätzen als ihre jeweilige Heimatregion: Schlink, Hoffmann, 45–69.

28 Bagchi, »Nationalismus«, 52; Schmidt, »Reichs-Staat«, 22–23.

29 Roloff, »Arminius«

30 Kuehnemund, Arminius, 1–19; Dorner, Mythos, 131–132.

31 Willoweit, »Conring«, 141–143.

Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien

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