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7. Reich, Papsttum und Reichskirche
ОглавлениеMartin Luthers Bestreben, eine grundlegende Reform der Kirche und ihrer Lehren anzustoßen, wurde Gegenstand der Politik, als er 1521 vor den Reichstag zu Worms geladen wurde, um seine Ansichten zu widerrufen. Luther aber verknüpfte, wie wir noch sehen werden, höchst selbstbewusst seine Forderungen mit anderen Reformbedürfnissen, die im Reich bereits eine lange Geschichte und eine beträchtliche Anhängerschaft besaßen. Jedoch war die Reformation nicht das direkte Ergebnis einer Entwicklung der deutschen Kirche während des 15. Jahrhunderts. Es lässt sich nämlich in dieser Zeit keine Krise in Kirche oder Gesellschaft, die mit der explosiven Anfangsentwicklung der Reformationsbewegung oder ihrem weitreichenden Einfluss auf die deutschen Lande in Beziehung zu setzen wäre, entdecken, und das gilt auch für die Regierungszeit Maximilians I. insgesamt.
Der Einfluss der Reformation war deshalb so tiefgreifend, weil religiöse Probleme eng mit sozialen, wirtschaftlichen und politischen Angelegenheiten verknüpft waren. Das konnte in einer Gesellschaft, in der es zwischen Religion und Leben keinen Unterschied gab, auch kaum anders sein. Doch waren die Probleme der vorreformatorischen Epoche nicht so neu, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mochten. Über sie ist nur mehr bekannt, weil sich eine große Anzahl von Quellen erhalten hat. Bis zu einem gewissen Grad spiegelt sich darin jedoch vor allem die energische Verschiebung von einer oralen hin zu einer schriftlichen Kultur, die im 14. Jahrhundert begann. Die Tatsache, dass Beschwerden nunmehr in schriftlicher und, gegen Ende des 15. Jahrhunderts, sogar in gedruckter Form kursierten, führte, zusammen mit der Entstehung einer »Klageliteratur«, zu einem wachsenden Krisenbewusstsein. Hinzu kommt die Rhetorik der Reform selbst, die regelmäßig nostalgische Bilder eines nur vage bestimmten Goldenen Zeitalters beschwor, von dem die Gegenwart sich in gefährlicher Weise weit entfernt habe.
So waren die vorreformatorischen Jahrzehnte von einer Überfülle apokalyptischer Denkweisen geprägt, von einem ständig sich steigernden Gefühl, dass irgendetwas bald geschehen würde, dass ein großer Reformer, von manchen auch als »Engelsfürst« bezeichnet, auftauchen und die Welt zurechtrücken würde.1 Viele dieser Hoffnungen richteten sich auf Kaiser Maximilian. Sein Tod im Jahr 1519 und das darauf folgende Interregnum schufen ein Vakuum, das von Karl V. nicht angemessen gefüllt wurde. Vielmehr schien die kaiserlose Zeit gerade die richtigen Bedingungen für die Intensivierung einer Erwartungshaltung, für die Verwandlung des Gefühls, etwas werde geschehen, in die Überzeugung, etwas müsse getan werden, zu schaffen. Jedenfalls gibt es Hinweise darauf, dass während des Interregnums Luther selbst weithin als der lang erwartete heilige Mann und Reformer angesehen wurde, wodurch sich zumindest kurzfristig Bestrebungen nach Reform und Erneuerung mit eher diffusen apokalyptischen Vorstellungen zusammenschlossen.
Will man die offensichtlichen Widersprüche in der Entwicklung der Kirche im Reich während des 15. Jahrhunderts miteinander aussöhnen, muss man zwischen Vorstellung und Wirklichkeit unterscheiden. Wiederholt gab es Forderungen nach einer Reform und eine grundlegende Neugestaltung von Kirche und Gesellschaft war bislang ausgeblieben. Dennoch sollten die fortwährenden Mahnungen nicht als Hinweis darauf verstanden werden, dass nichts geschehen sei. Einerseits gab es auf allen Ebenen, vom Papsttum bis zu den Gemeinden, strukturelle Probleme, von denen viele die Kirche in allen europäischen Ländern betrafen, während andere wiederum typisch für deutsche Zusammenhänge waren oder in diesen Zusammenhängen ein anderes Gewicht besaßen. Andererseits war die Epoche durch zahlreiche Reforminitiativen und Erneuerungsbewegungen gekennzeichnet, die durch Bischöfe, Kleriker, weltliche Regenten und auch Laien vorangetrieben wurden. Sie bewirkten keine grundlegende Reform, waren aber zahlreich und beharrlich genug, um dem Leben der Kirche eine Kraft einzuhauchen, die um 1500 ihren Ausdruck in lautstarker Kritik an Missbrauch sowie in einem beispiellosen Ausmaß an Frömmigkeit und Andacht fand.
So war das 15. Jahrhundert eine Epoche der Erneuerung und Reform, die sich im Kontext der unvollendet gebliebenen Arbeit der Konzile von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449) entwickelte. Hier wurde der Versuch unternommen, die durch das Exil der Päpste in Avignon (1309–1378) und das Große Abendländische Schisma (1378–1417) hervorgerufenen Probleme zu lösen.2 Diese Ereignisse hatten tief greifende Auswirkungen auf die Entwicklung des Papsttums und die Stellung der Kirche in Europa insgesamt. Die Autorität des Papsttums war schwer beschädigt; die Jahrzehnte der »babylonischen Gefangenschaft« in Frankreich hatten die politische Bedeutung des Amtes auf Kosten der religiösen Autorität in den Vordergrund gerückt. Diese Jahrzehnte vergrößerten die Kluft zwischen Papsttum und Kurie einerseits und der von den Bischöfen repräsentierten Kirche andererseits. Das beförderte den Unmut gegen eine zentrale Autorität in der Kirche, vergleichbar den Bedenken der Stände in Monarchien und Fürstentümern. Zudem wurde das Papsttum zunehmend bürokratisiert und verfolgte eine rüde Besteuerungspolitik, die den Eindruck vermittelte, die Päpste würden die Kirche auf jeder Ebene melken, von den Beiträgen neuer Pfründeninhaber in hohen Kirchenämtern bis zu den Steuern für den niederen Klerus.
Das Schisma beschädigte auch den inneren Zusammenhang der Kirchenlehre. Die Frage, ob man Rom oder Avignon Gehorsam schulde, riss zwischen der großen theologischen Schule in Paris und dem Reich eine Kluft auf. Die deutschen Könige und Fürsten hielten mehr oder weniger dauerhaft Rom die Treue und mussten nun im Reich Universitäten gründen für all diejenigen, die nicht mehr in Paris ausgebildet werden konnten. Zwischen 1348 und 1502 wurden 17 solcher Institutionen ins Leben gerufen. Eine solche Ausbreitung von Zentren theologischer Lehre beförderte die Entwicklung unterschiedlicher Lehren in der Kirche selbst. 1520 ließen sich nicht weniger als acht verschiedene Denkschulen finden: Wasser auf die Mühlen der akademischen Theologen, aber Verwirrung und Zweifel für die Laien.3
Das Schisma wirkte sich auch nachhaltig auf die Politik aus.Weltliche Regenten nutzten die Schwäche des Papsttums, um größere Kontrolle über die kirchlichen Institutionen im eigenen Land zu erlangen. Durch eine Reihe von Konkordaten wurden nationale oder regionale Kirchen geschaffen, was die Führungsmacht des Papstes erheblich einschränkte. Das wiederum trug zur »Säkularisierung« des Papsttums bei, weil der Vatikan zunehmend auf die Ressourcen seiner Territorien in Italien zurückgreifen musste. Die gewaltigen Kosten, die für den Bau des Petersdoms aufzubringen waren sowie der ganz offen unmoralische Lebenswandel vieler Päpste waren weitere Anlässe für Klagen in der Laienschaft. Und während weltliche Regenten sich Machtbefugnisse über die Kirche verschafften, gewann auch die Laienschaft angesichts der Dauerproblematik im Vatikan an Einfluss. Gestalten wie Wyclif und Hus stellten die herkömmlichen Autoritäten und die römische Hierarchie infrage. Sie predigten ein erneuertes, »reines«, wieder auf der Bibel beruhendes Christentum, das durch eine Kirche verkörpert wurde, die aus den von Gott wahrhaft Erwählten bestand.4 Näher am tradierten Katholizismus, aber doch auf ganz neuem Weg, waren Gruppen wie die Brüder vom gemeinsamen Leben: Laiengemeinschaften ohne Gelübde, aber einem Leben in Frömmigkeit (der Devotio moderna) verpflichtet. Sie entstanden in den 1380er Jahren in Deventer und Zwolle.5
In anderen Gebieten Europas führte die Schwäche des Papsttums zu einer neuen Einigung zwischen Papst und Monarchen; ein Beispiel ist die Pragmatische Sanktion von Bourges, die 1438 die Rechte der französischen Krone über die gallikanische Kirche festlegte. Im Reich war das Ergebnis weniger umfassend und klar. Zugleich wurden Argumente für eine Verbesserung der Situation in eine allgemeinere Auseinandersetzung über Reformen mit einbezogen, die Reich und Kirche gleichermaßen betraf.
Trotz aller Probleme im Reich zur Zeit des Schismas (1410 gab es neben drei Päpsten nicht weniger als drei deutsche Könige), spielte das Reich eine Schlüsselrolle bei deren Bewältigung. Deutsche Gelehrte wie Konrad von Gelnhausen entwickelten die Theorie, dass nur ein Kirchenkonzil für eine Lösung der Probleme zuständig sei.6 Heinrich von Langenstein, wie Konrad Theologe an der Universität von Paris, schlug weitergehend vor, dass solch ein Konzil die Reform der Kirche insgesamt angehen sollte. Die Ideen der beiden wurden zunächst nicht aufgegriffen und sie mussten auf Druck der französischen Monarchie, die lieber den Papst stürzen als die Kirche reformieren wollte, Paris verlassen. Als sich jedoch die politischen Konstellationen veränderten, erhielt die Idee eines Konzils neue Nahrung. In veränderter Form wurden die Argumente jetzt von Theologen in Heidelberg vorgetragen, einer dem Wittelsbacher König Ruprecht nahestehenden Universität. Ruprecht, ehemals Graf der Pfalz, gab die Stoßrichtung vor und Konrad Koler von Soest zum Beispiel kritisierte den Konziliarismus der Kardinäle als fundamentale Bedrohung für die Kirche in Deutschland. Darin äußerte sich eine deutliche Vorliebe für einen schwachen Papst im Gegensatz zu einer einflussreichen Oligarchie von Kardinälen. Aus Konrads Sicht hatte der römische König als künftiger Kaiser das Vorrecht, ein Kirchenkonzil einzuberufen.7
Ruprecht aber konnte die von den Heidelberger Theologen in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Er war ein schwacher König, dem es nicht gelang, die Stände zu einigen, unter denen der abgesetzte König Wenzel immer noch erheblichen Einfluss ausübte. Erst die von Ruprechts Nachfolger Sigismund durchgesetzte Konsolidierung der königlichen Macht brachte den Durchbruch. Sigismund erklärte anlässlich der Thronbesteigung, dass er Kirche und Reich in gute Ordnung bringen wolle. Das war der Beginn langwieriger Versuche in dieser Richtung. Sigismunds Absicht wurde durch die Schriften der Heidelberger Schule unterstützt. Ihre theoretische ausgearbeitete Idee eines allgemeinen Konzils als Grundlage für ein umfassendes Reformprogramm bildete das Fundament für das Konzil von Konstanz, das Sigismund selbst einberief und dessen Verlauf er bestimmte.
Im Endeffekt brachten weder das Konstanzer noch das darauf folgende Basler Konzil die grundlegende Reform von Kirche oder Reich zustande.8 Immerhin führten sie zur Aufstellung einer Agenda. Das Konzil zu Konstanz hatte in dem Dekret Haec Sancta Synodus (Diese heilige Synode) seine eigene Überlegenheit über den Papst proklamiert. Dem folgte das deutsche Konkordat von 1418, das Probleme auflistete und Lösungen empfahl. Das Übereinkommen war auf fünf Jahre begrenzt, danach, so legte es das Edikt Frequens (über die Häufigkeit von Konzilien) fest, sei der Papst verpflichtet, ein neues Konzil einzuberufen. Papst Martin V. machte seine Haltung deutlich, indem er gegen den Papst gerichtete Appelle an das Konzil mit dem Bann belegte. Außerdem löste er ohne große Umstände das in Übereinstimmung mit Frequens 1423 nach Pisa und Siena einberufene Konzil auf, als es das Dekret Haec Sancta erneuern wollte. Durch diesen erneuten Konflikt zwischen Papst und Konzil verlor die deutsche Kirche viel an dem im Konkordat von 1418 gewonnenen Boden. Die Erzbischöfe von Mainz und Köln zogen daraus die Konsequenz und beriefen im Vorfeld des Konzils von Basel eine Reihe von Provinzialsynoden ein. Die geplante nationale Synode kam nicht zustande, aber in Basel 1433 war die deutsche »Nation« dennoch in der Lage, eine kohärente und umfassende Reformagenda vorzustellen.
Wieder einmal wurden die Verhandlungen durch die grundlegende Frage, ob dem Konzil oder dem Papst das Supremat gebühre, überschattet. Um wenigstens eine gewisse Hoffnung auf einen praktischen Erfolg zu bewahren, versuchte Sigismund, einen neutralen Kurs zu steuern. Diese Politik wurde nach seinem Tod von Albrecht II., seinem Nachfolger, und den Kurfürsten fortgesetzt. 1438 akzeptierte eine französische Nationalsynode in der Pragmatischen Sanktion die Dekrete von Basel und zog sich aus dem Streit zurück, indem sie dem König weiterreichende Befugnisse auch bei Bischofswahlen und ähnlich hochrangigen Stellen zugestand und so die Macht des Papstes ebenso einschränkte wie das Recht auf freie Wahlen. Dagegen hofften die deutschen Fürsten noch auf einen durch Verhandlungen erreichbaren Mittelweg. In der sogenannten Mainzer Akzeptation befürworteten sie die meisten der Basler Reformdekrete, mit der bemerkenswerten Ausnahme jenes entscheidenden Dekrets, das im Endeffekt eine Erneuerung des Haec Sancta und den Anspruch des konziliaren Vorrangs vor dem Papst darstellte.9 Für die nächsten acht Jahre garantierte diese Neutralität, dass die Entscheidung von Mainz hielt, doch schließlich fiel sie dem hartnäckigen Disput über die Superiorität zum Opfer. Unterdessen war der Papst verpflichtet, darauf zu achten, dass die Fürsten nicht dem Konziliarismus huldigten.
Diesem Zweck diente auch das vom Haus Habsburg 1445 lancierte Abkommen. Papst Eugen IV. gestand Friedrich III. das Recht auf Nominierung für die sechs Bistümer in seinen eigenen Gebieten zu und machte noch weitere Zugeständnisse, darunter das Recht auf zahlreiche geringere Pfründe. Im Gegenzug erkannte Friedrich Eugen als den rechtmäßigen Papst an. Zwei Jahre später erreichten die Kurfürsten im »Fürstenkonkordat« einen ähnlichen Kompromiss. Der Papst akzeptierte die Forderung nach Anerkennung der Dekrete von Basel (mit Ausnahme von Haec Sancta und Frequens), während unter anderen Österreich, Böhmen, Mainz, Brandenburg und Sachsen dem Papst Gehorsam schworen. Da Eugen in der Folgezeit die Gültigkeit dessen, dem er zugestimmt hatte, in Zweifel zog, wurde erst unter seinem Nachfolger, Nikolaus V., mit dem Wiener Konkordat von 1448 ein Abschluss erreicht.10
Das Abkommen wurde in Form eines päpstlichen Privilegs veröffentlicht, was den Erfolg des Papsttums im Kampf gegen den Konziliarismus besonders hervorhob. Der Papst erhielt das Besetzungsrecht für eine erhebliche Anzahl von deutschen Pfründen in den ungeraden Monaten. Die Bischofswahlen in den kirchlichen Fürstentümern lagen fest in den Händen der Domkapitel, während der Papst sich ein Einspruchsrecht vorbehielt. Die Annaten (eine Pfründensteuer) und Servitien (das erste Jahreseinkommen eines neu gewählten Bischofs oder Abts) wurden als rechtmäßiges päpstliches Einkommen bestätigt. Überdies ersetzte das Konkordat explizit die Basler Dekrete. Alle weiteren Themen sollten in separaten Abkommen mit den jeweiligen Fürsten geregelt werden. Das geschah innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte und führte dazu, dass das Recht auf Einziehung der Annaten in den meisten territorialen Bistümern in den Händen der Regenten vor Ort lag. Das verstärkte die Unterscheidung zwischen zwei Arten kirchlicher Herrschaft im Reich. Einerseits gab es die Reichskirche, die aus in den Fürstenstand erhobenen Bischöfen und Äbten, gewählt von Domkapiteln und Stiften, bestand. Das waren Vasallen des Monarchen, aber von ihm so unabhängig wie die weltlichen Fürsten, Adelsherren und Städte. Andererseits blieb es in den diversen Fürstentümern den Regenten überlassen, ob und inwieweit sie die kirchlichen Institutionen ihrem Willen und Einfluss und der Befugnis weltlicher Autoritäten unterstellten.
Das Wiener Konkordat erhielt nie den Status eines Reichsgesetzes, da es nicht auf einem Reichstag durch einen Reichsabschied verkündet wurde, aber es bestimmte die Beziehung zwischen Papsttum und der deutschen Kirche bis zur Auflösung des Reichs 1806.Vergleiche mit der Pragmatischen Sanktion in Frankreich oder mit der Situation in England oder Spanien könnten die traditionelle Auffassung bestätigen, dass das Konkordat »nationale« Interessen verraten oder zumindest nicht geschützt habe. Doch obwohl in Deutschland keine »Nationalkirche« entstand, war die Situation hier ähnlich wie in anderen Ländern. Die universelle Kirche wurde durch eine »regionalisierte« Kirche gemäß den sich herausbildenden staatlichen und territorialen Grenzen ersetzt, eine Teilung, die eher den Gebieten der Stände als dem Reich selbst entsprach.11
Das Schisma und dessen bis zum Wiener Konkordat reichende konziliare Nachwehen hatten noch weitere Auswirkungen auf die deutschen Lande, zu deren wichtigster die Entstehung einer Literatur gehörte, die eine Reform von Kirche und Reich zugleich forderte.12 Die Idee einer reformatio, verstanden als Rückkehr zu einem gottgewollten ursprünglichen Zustand war nicht neu, sondern im 14. Jahrhundert sogar zu einer Art Klischee geworden, da praktisch jedes neue Gesetz als reformatio vorgestellt wurde. In der konziliaren Epoche bekam der Begriff jedoch eine neue Vordringlichkeit und eine umfassendere Bedeutung als Schlüssel zu einer durchgängigen Erneuerung der menschlichen Gesellschaft.
Entscheidend waren dabei offenbar König Sigismunds persönliches Interesse an der kombinierten Reform von Kirche und Reich sowie seine Vorstellung davon, wie das Bindeglied zwischen diesen Reformen beschaffen sein müsse. Das Programm wurde in einer Reihe von theoretischen Schriften im Zusammenhang mit den Konzilen von Konstanz und Basel ausgearbeitet. 1417 nahm der ehemalige Berater von König Ruprecht, Job Vener, Themen auf, die zuvor von Autoren wie Alexander von Roes und Dietrich von Niem (oder Nieheim) bearbeitet worden waren.Vener forderte auf dem Konzil die Erneuerung von Kirche und Reich gleichermaßen.13
Ähnliche Gedanken finden sich auch in der Schrift De concordantia catholica (Über die katholische Harmonie oder Über die allumfassende Einheit), die Nikolaus von Kues 1433 dem Konzil von Basel vorlegte.14 Wie Vener ging es auch Nikolaus im Wesentlichen um das allgemeine Prinzip, ohne Erörterung der Einzelheiten. Andere jedoch, wie Bischof Johann Schele aus Lübeck (um 1436) und Heinrich Toke (1442), legten umfangreiche Listen von Maßnahmen für die Reform von Papsttum, deutscher Kirche und Reich vor.15 Während die gelehrten Abhandlungen von Vener und seinen Nachfolgern eindeutig für den Monarchen und die Fürsten gedacht waren und sich mit der Reform von Institutionen beschäftigten, geht die 1439 anonym veröffentlichte Schrift Reformatio Sigismundi (Die Reformation des Königs Sigismund) erheblich weiter. So fordert sie etwa die Absetzung aller geistlichen Fürsten und die Aufteilung ihrer Ländereien an die Städte und den niederen Adel sowie Maßnahmen zum Schutz des gemeinen Mannes vor der Unterdrückung durch den Adel. Dieses Werk zirkulierte zwischen 1476 und 1497 in vierzehn Abschriften und vier Druckausgaben (1520–1522 kamen noch weitere vier hinzu), was zeigt, auf welchen Widerhall solche Ideen stießen.16
Nach dem Konzil von Basel konzentrierte sich das Reformschrifttum mehr auf die Institutionen des Reichs und auf den Konflikt zwischen dem Monarchen und den Ständen. Dennoch blieb das Interesse an einer Kirchenreform erhalten. Es tauchte regelmäßig in der populäreren Beschwerdeliteratur auf, wie etwa in dem Traktat des »Oberrheinischen Revolutionärs« (um 1500–1510).Vor allem aber wurde es in den Gravamina nationis Germanicae institutionalisiert.17
Dieser Katalog von »Beschwerden der deutschen Nation« über die Kirche entstand, weil das Wiener Konkordat die Dekrete von Basel außer Acht gelassen hatte. Mit ihnen hätte man sich diversen Auswüchsen widmen können (wuchernde vatikanische Bürokratie, Steuerlasten, Missbrauch kirchlicher Gerichtsverfahren). So aber wurden sie schon bald zu einem Politikum gemacht, nicht zuletzt durch die Kirchenfürsten selbst, deren Einkünfte betroffen waren. Ein erster Entwurf wurde auf der Mainzer Provinzialsynode von 1455 formuliert und im folgenden Jahr auf dem Reichsdeputationstag in Frankfurt (Main) erörtert. 1458 wurde die Liste erweitert und formell vom Reichstag übernommen. Danach stand sie bei praktisch jedem Reichstag und Reichsdeputationstag auf der Tagesordnung. Die Gravamina wurden in der Reichspolitik zu einer Art fixer Idee und später von den Humanisten wie auch von Maximilian I. in seiner (primär politisch ausgerichteten) Kampagne gegen das Papsttum zu Propagandazwecken ausgenutzt. 1518 beriefen sich die Stände darauf, um ihre Ablehnung der materiellen Unterstützung eines Kreuzzugs gegen die Türken zu rechtfertigen. Im darauffolgenden Jahr nahm Karl V. sie in seine Wahlkapitulation auf und 1520 fanden sie ihren wirksamsten Verfechter in Luther, der sie zur Grundlage seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation machte.
Eine besondere Schärfe erhielten die Gravamina durch die Behauptung, Franzosen, Italiener und Spanier würden die Kurie dominieren, während der Vatikan die deutschen Lande härter als alle anderen auspresste, um die dekadente Lebensweise der Päpste und ihrer Günstlinge zu finanzieren. Die Gültigkeit dieser Behauptungen ist schwer nachzuweisen. Die Vorherrschaft von Franzosen und Italienern in der Kurie von Avignon wurde durch eine wachsende deutsche Präsenz in Rom während des Schismas ausgeglichen und fand ihren Höhepunkt in den Pontifikaten von Martin V. und Eugen IV. Danach scheint der päpstliche Hof für die Deutschen nicht mehr so attraktiv gewesen zu sein, denn das Fürstenkonkordat und das Wiener Konkordat sorgten für die Entstehung von Landeskirchen im Reich.18
Wie immer die nationale Zusammensetzung der Kurie gewesen sein mag – die Päpste jedenfalls sorgten für ihr materielles Wohlergehen mit Methoden, die zunehmend Kritik herausforderten. Besonders ging es dabei um die Versorgung von Kurienkardinälen mit mehrfachen Pfründen, denn solche Personen waren selten mit nur zwei oder drei solcher Posten zufrieden. Der Bischof und Kardinal Willem van Enckenvoirt (*1464, †1534) etwa sammelte neben zwei Bistümern noch mehr als einhundert weitere Pfründe, darunter zwei Bistümer in 26 Diözesen, was ihm ein jährliches Einkommen von 25.000 Dukaten bescherte. Darüber hinaus versorgte er noch weitere Familienmitglieder im Gebiet von Lüttich und unternahm sogar den Versuch, einige dieser Quellen vererbbar zu machen.19 Es wundert nicht, dass antipapistische Flugschriften Hohn und Spott über die römischen »Kurtisanen« ausgossen, die zynisch die Gläubigen ausbeuteten und ihre Kirchen usurpierten.
Die Frage der fiskalischen Ausbeutung ist noch schwerer zu beantworten. Maximilian behauptete, der Papst ziehe 100-mal so viel Geld aus dem Reich wie er selbst.20 Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die tatsächlich vom Reich nach Rom fließende Geldmenge keineswegs so riesig war, wie die Polemik unterstellte, und de facto erheblich weniger, als die »nationale« Kirche von Frankreich zahlte. Grundsätzlich verließ sich das Papsttum nach dem Schisma zunehmend auf die Einkünfte des Kirchenstaats und weniger auf Beiträge der allgemeinen Kirche. Selbst die protestantischen Abspaltungen im 16. Jahrhundert, aufgrund derer man einen beträchtlichen Gewinneinbruch hätte erwarten können, scheinen dem päpstlichen Einkommen kaum geschadet zu haben.21
Aber Ungerechtigkeit und Ausbeutung gerieten immer deutlicher ins Blickfeld. In gewissem Maß hing das mit der Erinnerung an jene Periode besonders intensiver Ausbeutung während des Schismas zusammen, als der römische Papst fast ausschließlich von Gewinnen aus dem Reich lebte. Danach wurden zwar die papsteigenen Ländereien zunehmend wichtig, doch sorgten die päpstliche Besteuerung von Pfründen sowie der immer umfangreichere Ablasshandel nach 1450 für den nicht mehr verstummenden Ruf nach Reformen.
Die Verwendung des Terminus Nation im Zusammenhang mit den Gravamina ist häufig als Hinweis auf die Nachteile verstanden worden, die Deutschland aus dem Fehlen einer Nationalkirche à la England oder Frankreich erwuchsen. Selbst abgesehen davon, dass Frankreich sehr viel mehr als die Reichsstände zahlte, ist das Argument falsch, denn die Gravamina waren die Beschwerden der »Nation« der Stände, nicht der »Nation« des Volkes. Vor allem stellten sie die Beschwerden der geistlichen Fürsten dar, die einen beträchtlichen Teil ihrer Pfründe an Rom abführen mussten. Zu einem geringeren Teil ging es auch um die Beschwerden weltlicher Fürsten und Städte, die zunehmend die Kontrolle über die Kirche in ihren Territorien erlangten und nicht einsahen, warum sie einem weit entfernten und »säkularisierten« Papst in Rom Steuern zahlen sollten. Für kirchliche wie weltliche Regenten war auch der Missbrauch kirchlicher Gerichte materiell und politisch bedenklich.
Die Gravamina wurden zu einem Schlüsselelement der Reichspolitik unter Maximilian, aber die geistlichen Fürsten hatte die erste Zusammenstellung und ihre Erweiterung schon vor dem letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts formuliert. Zwar schienen diese Fürsten für die Nation als Ganze zu sprechen, doch waren sie in Wirklichkeit ungeeignet, einem korrupten Papsttum moralische Vorhaltungen zu machen, denn ihre eigene Situation war für manche Beobachter ähnlich problematisch. Denn die deutschen Bischöfe waren, wie die Päpste und im Gegensatz zu ihren Amtskollegen in anderen europäischen Monarchien, zugleich geistliche und weltliche Führer. Die Reichskirche war mehr als nur die Summe der Diözesen im Reich. Sie war integraler Bestandteil seiner verfassungsmäßigen Struktur und seines politischen Systems. Im Wormser Konkordat von 1122 hatte der Kaiser den Anspruch auf die Investitur an die Kirche abgetreten und dafür das Recht erhalten, den Bischöfen die Regalien vor der Weihe zu überreichen. Infolgedessen wurde die Kirche zu einem Vasallen der Krone und die Bischöfe erhielten dieselben Rechte über ihre Territorien wie ihre weniger zahlreichen weltlichen Kollegen.
Eine Landkarte der deutschen Kirche würde ähnliche Komplikationen aufweisen wie eine Karte des Reichs und die Auflistung der Bistümer und anderer Institutionen würde dieselbe Art von Problemen zeitigen wie die Beschreibung der meisten Aspekte des Reichs. Im späteren Mittelalter gab es nördlich der Alpen etwa 50 Bistümer, mehr als 250 dagegen auf dem viel kleineren Gebiet Italiens und etwa 75 in Frankreich.22 Die Bistümer im Norden waren in zehn Provinzen unterteilt, die jeweils einem Erzbischof als Metropoliten unterstanden.
Es gab kein formelles geistliches Oberhaupt in der deutschen Kirche, aber es herrschte Einigkeit darüber, dass der höchstrangige Geistliche der Erzbischof von Mainz war, Kurfürst und Reichserzkanzler, dessen Provinz dreizehn Diözesen, von Halberstadt im Norden bis Chur im Süden, umfasste. Die Erzbischöfe von Trier und Köln waren ebenfalls Kurfürsten. Jedoch konnte sich nur Köln (obwohl rangniedriger als Trier) als Erzbistum für fünf Bistümer, darunter Lüttich und Utrecht, mit Mainz vergleichen, während die Suffraganbistümer von Trier – Metz, Toul und Verdun – weniger bedeutend waren und zudem außerhalb des »deutschen« Reichs lagen, wie es sich im 15. Jahrhundert herauskristallisierte. Von den anderen Erzbistümern konnten um 1500 nur Salzburg, Hamburg-Bremen und Magdeburg sinnvollerweise als zum Reich gehörig bezeichnet werden. Die von Besançon, Gnesen, Prag, der Tarentaise (Erzbistum für Sitten/Sion) oder des Patriarchen von Aquileia (Erzbistum für das Trentino) waren eher randständig, auch wenn der Erzbischof von Besançon bis 1679 Reichsfürst war und die Erzbischöfe von Prag als Reichsfürsten auftraten, ohne jemals auf einem Reichstag zu erscheinen.
Angesichts dieser Unwägbarkeiten lässt sich nicht einmal die Anzahl der Bistümer im Reich genau beziffern. Das biografische Lexikon der deutschen Bischöfe im Zeitraum von 1448 bis 1648 vermerkt Details von insgesamt 62 Bistümern.23 Dazu gehören jedoch viele in nichtdeutschen oder peripheren Gebieten des Reichs und seiner unmittelbaren Nachbarn. Bistümer wie Utrecht, Lausanne oder Sion, Pedena oder Triest, Pomesanien oder das Samland lenken die Aufmerksamkeit ab vom harten Kern jener Bistümer, die zugleich Fürstentümer des Reichs waren. Selbst die »Reichsmatrikel« von 1521 führt hier in die Irre. Dort werden neben den Kurfürsten von Mainz, Trier und Köln 50 weitere Bistümer aufgelistet, dazu 65 Äbte und Pröpste, 14 Äbtissinnen und vier Komtureien der Deutschordensritter.
Wer in der Matrikel aufgeführt wurde, besaß »Reichsstandschaft«, das heißt das Recht, am Reichstag teilzunehmen und abzustimmen sowie sich in Form von Steuerzahlungen aktiv am Reich zu beteiligen. Dennoch dürften die tatsächlichen Zahlen beträchtlich niedriger sein, denn einige der dort aufgeführten Stände waren de facto nicht rechtlich unabhängig und im 15. Jahrhundert territoriale Bistümer geworden. So waren Brandenburg, Meißen, Merseburg und Naumburg-Zeitz dem Kurfürstentum Sachsen untergeordnet, Schwerin wurde von Mecklenburg und Cammin von Pommern kontrolliert, das Samland und Pomesanien waren zunächst dem Deutschen Orden und nach 1525 Preußen unterstellt, Schleswig war irrtümlich aufgeführt, denn es gehörte zu Dänemark und auf jeden Fall zum Erzbistum Lund.
In der Matrikel von 1521 tauchen auch vier Bistümer auf, die zum Erzbistum Salzburg gehörten (die »Eigenbistümer« Chiemsee, Gurk, Lavant und Seckau, wobei Chiemsee Weihbistum war, während Lavant und Seckau Generalvikariate für jeweils die Steiermark und Kärnten waren). Ihre Bischöfe nannten sich Fürsten, ohne als solche auf dem Reichstag zu erscheinen. Schließt man weiterhin die acht Bistümer in den Niederlanden, Frankreich und der frankophonen Schweiz aus (obwohl sie zu Beginn des 16. Jahrhunderts als funktionierende Mitglieder des Reichstags betrachtet wurden), dürfte die wahre Anzahl der »aktiven« deutschen Fürstbischöfe bei etwa 40 liegen.
In all diesen Fällen war das Diözesangebiet erheblich umfangreicher als das dem Bischof direkt unterstellte Territorium, das Hochstift.24 Auch so waren diese Territorien insgesamt von beträchtlichem Ausmaß: Ein Sechstel bis ein Siebtel des Reichsgebiets befand sich in kirchlichem Besitz.25 Da die viel größeren Diözesangebiete in das Territorium benachbarter weltlicher Fürstentümer und unabhängiger Städte hineinreichten, gab es häufig Anlass zu Auseinandersetzungen über Kollations- und Besteuerungsrechte, über das Recht, Statuten für den niederen Klerus aufzustellen und, last, not least, über die Rechtsprechung kirchlicher im Gegensatz zu der weltlicher Gerichte. Streitigkeiten zwischen Bischöfen und Reichsstädten waren, wenn der Bischofssitz in der Stadt lag, im späteren Mittelalter weit verbreitet und endeten oft mit der Vertreibung des Bischofs aus der Stadt. Um 1500 hatten die Fürstbischöfe von Augsburg, Basel, Köln, Konstanz, Speyer, Straßburg und Worms gezwungenermaßen Zuflucht in Residenzen außerhalb der Stadtmauern gefunden. Der spätere Glanz dieser Residenzen, wie etwa Bonn für Köln oder Meersburg für Konstanz, ließ vergessen, dass es ursprünglich Symbole einer Niederlage waren.26
Obwohl die Residenzen und Regierungssitze einiger Bischöfe nicht bei ihren Kathedralen lagen und der bischöfliche Einfluss jenseits des Hochstifts generell unsicher war, waren viele die Herren über Territorien von beträchtlicher Größe. Salzburg, Münster, Köln, Mainz, Trier und Würzburg konnten es fast mit den größten weltlichen Fürstentümern aufnehmen. Freising, Straßburg, Konstanz, Regensburg, Worms und Chur waren relativ klein und die letzten drei besonders arm, dennoch befanden sie sich, was Größe und Einfluss anging, auf den mittleren Rängen der deutschen Territorien.
Selbst die weniger bedeutenden kirchlichen Regenten konnten in der Landes- oder gar Reichspolitik bisweilen eine wichtige Rolle spielen, wenn eine Verbindung zu einem größeren weltlichen Territorium hergestellt wurde. So waren Worms, Speyer und der Deutschritterorden (dessen Hochmeister nach 1527 vom schwäbischen Mergentheim aus über einen territorialen Flickenteppich herrschte) praktisch zu Anhängseln des Kurfürstentums Rheinpfalz geworden. Die bayrischen Wittelsbacher beherrschten Freising und Regensburg und konkurrierten mit den Habsburgern um den Einfluss auf die Domkapitel und die von den Stiftsherren gewählten Vertreter.27
Viele Kritiker der Kirche in Deutschland empfanden es als problematisch, dass die Kirchenführer sich kaum anders als weltliche Herrscher benahmen und allzu häufig ihre geistlichen Vorrechte und Pflichten ausnutzten, um rein weltliche Ziele zu verfolgen. Das konnte allerdings nicht überraschen. Ab dem frühen Mittelalter war die Reichskirche ein Spiegel der Struktur des Reiches selbst gewesen: Es war eine aristokratische Kirche. Die Bischöfe wurden von den Domkapiteln gewählt, und die bestanden zumeist aus Aristokraten. In Straßburg beispielsweise gehörten dem Kapitel ausschließlich Angehörige des Hochadels (Grafen und Ritter) an. In Köln waren zukünftige Stiftsherren durch ein Statut von 1475 verpflichtet, 32 adlige Vorfahren nachzuweisen; ein vergleichbares Statut für Trier aus dem Jahr 1500 machte 16 adlige Vorfahren zur Voraussetzung. Im späten 15. Jahrhundert scheinen die Domkapitel sich generell gegen die Vorboten der neuen, nach oben strebenden, universitär gebildeten Klasse von Verwaltungsfachleuten abgeschottet zu haben. Zwischen 1474 und 1517 wurden Nichtadlige in Basel, Augsburg, Paderborn, Münster und Osnabrück per Statut von den Domkapiteln ausgeschlossen.
Im Nordwesten und Südosten des Reichs war die Zusammensetzung der Kapitel nicht so einheitlich; dort fand man auch Bauern und Bürger unter den Stiftsherren. Im Westen dagegen war der Einfluss des Adels ungebrochen. Dort hatten die exklusiven Domkapitel, Stifte und Abteien wirklich die Bezeichnung »Spitäler des deutschen Adels« verdient, die häufig der Reichskirche insgesamt verliehen wurde. Erst nach langen und zähen Kämpfen konnte Maximilian I. 1500 das Domkapitel von Augsburg zu der Ausnahme überreden, seinen Schützling Matthäus Lang, den späteren Kardinal und Erzbischof von Salzburg, als Propst aufzunehmen. Nur selten wurde die Exklusivität der adligen Kapitel durchbrochen. So sagte man, dass in Sankt Alban vor Mainz (ein Kollegiatstift, das keineswegs zu den exklusivsten gehörte) nicht einmal Jesus Christus selbst als Stiftsherr aufgenommen worden wäre.28
Da die Domkapitel mit Männern besetzt waren, die sich in erster Linie als Adlige und dann erst als Geistliche sahen, wählten sie auch nur Kandidaten von gleichem oder, häufiger noch, höherem Rang in die höchsten Ämter.Von 166 Erzbischöfen, die zwischen 900 und 1500 im Reich gewählt wurden, sind nur vier als Nichtadlige bekannt.29 Von 2074 Bischöfen, die zwischen dem 7. und 15. Jahrhundert gewählt wurden (wobei die 31 Prager Bischöfe unberücksichtigt bleiben), kamen nur 115 nicht aus dem Adel. Dagegen entstammten 1169 dem höheren Adel (waren »freiadlig« oder »edelfrei«, das heißt Vasallen des Monarchen) und 359 dem niederen Adel (waren Vasallen eines Fürsten).30 Konnte sich doch einmal ein Nichtadliger durchsetzen, dann fast immer, weil er reich war oder von einem Fürsten protegiert wurde. Fromme Gelehrte aus einfachen Verhältnissen wie Nikolaus von Kues, der Sohn eines moselanischen Bootsführers und spätere Kardinal und Bischof von Brixen, waren die absolute Ausnahme.
Die Lage am Vorabend der Reformation war Spiegelbild der Entwicklung im Mittelalter. Analysiert man 38 Bistümer, die von 33 Fürstbischöfen regiert wurden, findet man unter diesen lediglich fünf Nichtadlige (Lübeck, Ratzeburg, Brandenburg, Cammin und Chur). Alle Bischöfe waren Deutsche und keiner von ihnen fiel in die Kategorie »römische Höflinge«, die einigen Kritikern zufolge die deutsche Kirche unter Kontrolle hatten. Zwölf Bischöfe waren Söhne von Fürsten und vier von ihnen regierten mehr als ein Bistum. Albrecht von Brandenburg war Erzbischof von Mainz und Magdeburg, ferner Bischof von Halberstadt sowie Inhaber einer Vielzahl kleiner Pfründe. Christoph von Braunschweig-Wolfenbüttel war für Bremen und Verden zuständig; Erich von Braunschweig-Grubenhagen war Bischof von Münster und Paderborn. Philipp von der Pfalz amtierte nicht nur in Naumburg, sondern auch in dem gut 400 km entfernten Freising.31
Insgesamt waren die Bischöfe für ihr Amt – wenn überhaupt – durch ihre Fähigkeiten als Politiker und Verwalter qualifiziert, nicht durch religiöse Bildung oder Frömmigkeit. Allzu vielen war weitaus mehr an weltlichen Gütern und Vergnügen gelegen als an ihrer Aufgabe als geistlichen Hirten. Ruprecht von Pfalz-Simmern war von 1440 bis 1478 Bischof von Straßburg, hielt aber keine einzige Messe ab. Bei seinem Tod kam heraus, dass er offensichtlich seine Amtsinsignien verloren hatte, denn weder Mitra noch Krummstab waren zu finden. Wilhelm von Honstein, 1506 in Straßburg gewählt, ging in den 28 Jahren als Bischof weder zur Beichte, noch predigte er.32 Von Heinrich Wied, gewählt 1515 in Köln, hieß es, er sei unfähig gewesen, das lateinisch abgefasste Beglaubigungsschreiben des englischen Gesandten Richard Pace zu verstehen, als er 1519 auf dem Reichstag an der Kaiserwahl teilnehmen wollte. Und es ist nicht einfach zu verstehen, wie Magnus von Mecklenburg als glaubwürdiger Diener der Kirche angesehen werden konnte, da er im Alter von sieben Jahren 1516 zum Bischof von Schwerin gewählt wurde.
Aber auch Nichtadlige, die das »Glasdach« der Aristokratenkirche durchbrechen konnten, benahmen sich bald ebenso wie ihre adligen Kollegen. Matthäus Lang, der Sohn eines verarmten Augsburger Patriziers hatte gekämpft, um am Domkapitel zu Augsburg 1500 seinen ersten Posten als Propst zu erlangen. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere verfügte er über Pfründe in Italien, Spanien und Frankreich wie auch in Deutschland und, wie es heißt, über ein Einkommen von etwa 50.000 Gulden.33 Nach 1519, als Erzbischof von Salzburg, ließ er seiner monumentalen Eitelkeit und Arroganz freien Lauf. Er übertraf viele seiner aristokratischen Kollegen an Pomp und zeremoniellen Gepflogenheiten, indem er darauf bestand, jederzeit von einem Gefolge von nicht weniger als 80 Personen umsorgt zu werden. Das zumindest galt für einen geistlichen Potentaten im Reich als angemessen. Als, ganz im Gegensatz dazu, der fromme Friedrich, Graf von Hohenzollern, von 1486 bis 1505 Bischof von Augsburg, auf den Nürnberger Reichstag 1487 in geistlicher Kleidung erschien, wurde er gnadenlos als »welscher« Italiener auf der Suche nach einem Kardinalshut verspottet.34
Derlei Zustände zogen unvermeidlich Kritik auf sich.35 Der kampflustige Prediger Johann Geiler von Kaysersberg (*1445, †1510), der die Korruption in der Kirche geißelte, behauptete gar, seit einhundert Jahren habe man keinen deutschen Bischof mehr bei der Ausübung einer geistlichen Pflicht beobachten können. 1519 äußerte Berthold Pürstinger, der nichtadlige Bischof von Chiemsee (1508–1526), der schließlich sein Amt aufgab, um sich im Kloster Gebeten und geistlichen Studien hinzugeben, dass die Pflichtvergessenheit seiner Bischofskollegen die Kirche an den Rand des Ruins und die Welt zur Aussicht auf die Apokalypse gebracht habe. Solche Kritik war, zusammen mit der Realität, die ihr Nahrung gab, Wasser auf die Mühlen der Historiker bei ihrer Suche nach den Ursachen der Reformation. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Zeitgenössische Kritiker der Hierarchie äußerten sich zwar lautstark, waren jedoch nicht zahlreich. Zudem haben Autoren in der Folgezeit zu häufig die spätmittelalterliche Kirche an den vom Konzil von Trient gesetzten Maßstäben gemessen. Das nachtridentinische Bischofsideal kannte aber nur wenige kirchengeschichtliche Modelle.
Für sich betrachtet war die Führungsschicht der deutschen Kirche möglicherweise besser oder doch nicht so schädlich, wie ihr historischer Ruf vermuten lässt. So fällt die Tatsache ins Auge, dass die Reichskirche insgesamt die Reformation überlebt hat. Jene Teile, die schließlich protestantisch wurden, waren im Norden, vor allem in den Einflusssphären von Sachsen und Brandenburg, angesiedelt und auch dort fand die formelle Konversion erst nach 1550 statt. Das Überleben der Bistümer und anderer kirchlicher Institutionen zeugt immerhin von dem politischen, diplomatischen und militärischen Können ihrer Oberhäupter. Mögen manche auch eine weltliche und ausschweifende Lebensweise gepflegt haben, so waren sie doch der Institution, die sie repräsentierten, angesichts ihrer Gefährdung verpflichtet.
Ebenso gilt, dass viele geistliche Fürsten ehrlich bemüht waren, ihren spirituellen Verpflichtungen nachzukommen. Im späteren 15. Jahrhundert gab es in Köln zwischen den Erzbischöfen, dem Klerus, dem Stadtrat und der Laienschaft ein friedliches Ringen um die Verbesserung der religiösen Lebensweise der Gemeinde.36 Die Bischöfe von Straßburg haben die Messe vielleicht nicht regelmäßig, bisweilen auch gar nicht, gehalten, aber sie beriefen Synoden ein und unternahmen wiederholt weitreichende Reformversuche zur Verbesserung der Bedingungen in den Kirchspielen. Wie wirksam diese waren, steht auf einem anderen Blatt, doch ist auffällig, dass der niedere Klerus vielen Reformvorschlägen energischen und erfolgreichen Widerstand entgegensetzte. Genauere Informationen fehlen, aber es hat den Anschein, als sei es im Zeitraum zwischen 1450 und 1515 in vielen Bistümern zu verstärkten synodalen Aktivitäten gekommen.37
Auch in anderer Weise wurde die geistliche Führungskraft gestärkt. Im 15. Jahrhundert gab es, zusätzlich zu den Beamten, die für die Rechtsangelegenheiten einer Diözese zuständig waren, eine bedeutsame Zunahme von Auxiliaroder Weihbischöfen und Generalvikaren.38 Um 1500 hatten 21 Fürstbistümer Weihbischöfe, Mainz sogar deren zwei: einen für das Rheinland, den zweiten für Thüringen. Ursprünglich sollten sie, als Hilfskräfte eines Bischofs, die Befugnisse der Erzdiakone beschränken, die im 13. Jahrhundert so mächtig geworden waren, dass einige Bischofssitze Gefahr liefen, von ihnen übernommen zu werden. Um 1500 waren die Weihbischöfe und Generalvikare die geistlichen Vertreter der Bischöfe und im Kontrast zu ihren Vorgesetzten, die sich mit dem geistlichen Amt bisweilen schwertaten, gebildet, nichtadlig und stammten häufig aus Mönchsorden. So waren sie typischerweise gute Kirchenmänner und Theologen – und zudem, was nicht unwichtig war, preiswert, denn die Bischöfe mussten sie aus eigener Tasche bezahlen.
Zwar waren unter den deutschen Bischöfen Theologen selten und Heilige eher gar nicht vorhanden, doch hatten etliche ausgeprägt humanistische Interessen. Dazu gehörte Albrecht von Mainz, Magdeburg und Halberstadt, dessen zynischer Umgang mit dem Ablasshandel (schließlich musste er die Kredite begleichen, die er aufgenommen hatte, um dem Papst die Gebühren für die Vielzahl seiner hohen Ämter zu bezahlen) Luther 1517 zur Veröffentlichung seiner 95 Thesen veranlasste. Der »säkularisierte« Fürstbischof der Renaissance war die Regel. Aber es gab genug humanistisch interessierte Bischöfe, um die eher positive Einschätzung des ansonsten so kritischen Johann Weiler zu rechtfertigen, als er einmal bemerkte, es gebe »viele fromme Führer«.39
Anmerkungen
1 Strauss, »Ideas«; Dickens, German nation, 8–17.
2 Patschovsky, »Reformbegriff«; Leuschner, Deutschland, 201–209; Angermeier, Reichsreform 1410–1555, 63–70.
3 McGrath, Origins, 69.
4 Cameron, Reformation, 74–75.
5 Cameron, Reformation, 61–63.
6 Thomas, Geschichte, 369.
7 Thomas, Geschichte, 371–372.
8 Borgolte, Kirche, 28–29; Boockmann, »Zusammenhang«; Leuschner, Deutschland, 205–209.
9 Hürten, »Akzeptation«.
10 Meyer, »Konkordat«.
11 Borgolte, Kirche, 74–75.
12 Märtl, »Reformgedanke«; Krieger, König, 49–53, 114–118.
13 Bautz, Kirchenlexikon, Bd. XIV, 1565–1569.
14 Bautz, Kirchenlexikon, Bd.VI, 889–909.
15 Angermeier, Reichsreform 1410–1555, 84–89.
16 Schulze, Deutsche Geschichte, 59.
17 Gebhardt, Gravamina; Rublack, »Gravamina«; Stichwort »Gravamina« in TRE, Bd. XIV, 131–134; Hirschi, Wettkampf, 143–156. Zum Kontext der ursprünglichen Gravamina vgl. auch Tillinghast, »Reformation«.
18 Borgolte, Kirche, 90–91.
19 Munier, »Enckenvoirt«.
20 Lortz, Reformation, Bd. I, 77.
21 Paartner, »Financial policy«, 49; Hoberg, »Einnahmen«, 83–85.
22 Moraw, Reich, 137.
23 Gatz, Bischöfe 1448–1648, IX.
24 Das größere Ausmaß der Diözesen im Gegensatz zu den Fürstbistümern, die von den Bischöfen als Fürsten regiert wurden, zeigen die Karten in Gatz, Atlas, 57–143.
25 Moraw, Reich, 137.
26 Ziegler, »Hochstifte«.
27 Press, »Adel«, 340.
28 Press, »Adel«, 338.
29 Schulte, Adel, 62; Schubert, Spätmittelalter, 253–255. Die Herkunft von weiteren neun Erzbischöfen ist unsicher.
30 Santifaller, Geschichte, 132. Die soziale Herkunft von 421 Bischöfen ist unbekannt; fünf waren »Unfreie«, fünf weitere Ausländer.
31 Wolgast, Hochstift, 22.
32 Blickle, Reformation, 32.
33 Rabe, Geschichte, 152.
34 Gatz, Bischöfe 1448–1648, 198–200. »Welsch« war ein abwertender Ausdruck, der sich auch auf etwas Italienisches beziehen konnte; später bezog er sich allgemein auf Südländisches, darunter auch spanische Denotate.
35 Zum Folgenden vgl. Hermelink, Reformation, 25, 43, 181.
36 Schilling, »Reformation«, 15–16.
37 Cameron, Reformation, 44.
38 Brodkorb, »Weihbischöfe«; Wolgast, Hochstift, 27.
39 Janssen, Geschichte, Bd. I, 629; Schindling, »Reichskirche«, 103–108; Wolgast, Hochstift, 26–27 Schmid, »Humanistenbischöfe«.