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9. Humanismus im Reich

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Der deutsche Humanismus gehörte zu einer Bewegung, die sich im Lauf des späten 14. und 15. Jahrhunderts von Italien aus in Europa verbreitete.1 Die deutsche Form verband eine Beschäftigung mit nationalen Ursprüngen und der Frage nationaler Identität mit neuen christlichen Idealen. Darin lag nichts Ungewöhnliches. Der Humanismus war im Wesentlichen eine Methode, in der Lektüre der alten griechischen und lateinischen Texte deren ursprünglichen Sinn zu erfassen. Das Motto lautete: Ad fontes! Dieser Appell, zu den Quellen zurückzukehren, bezog sich zunächst auf die Texte der klassischen Antike, vor allem auf die philosophischen und juristischen Schriften, die das Fundament des westlichen Denkens bildeten. Aber die philologische Methode und die Rückkehr zu den ursprünglichen Bedeutungen konnten auch auf andere Themen angewendet werden.

Fast überall in Europa führte die Bewegung zur Neuentdeckung nationaler Ursprünge und Identitäten. Bis zu einem gewissen Grad entsprangen solche Ideen aus der Konkurrenz mit oder der Rebellion gegen die italienischen Renaissancehumanisten, die ihre Überlegenheit aus ihrer antiken Vergangenheit ableiten wollten. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts hatten Gelehrte in fast ganz Europa die Ursprünge ihrer eigenen nationalen Gemeinschaften entdeckt oder erfunden und versicherten häufig, dass diese Ursprünge älter und eindeutiger seien als die der Italiener.2

Dies führte zwangsläufig zu einer Art Wettbewerb zwischen den nationalen Humanistengruppen, wenn sie versuchten, die Tugenden ihrer jeweiligen Nation als besonders leuchtend und eindrucksvoll hervorzuheben.3 Und überall drang der Humanismus in die akademischen, theologischen, historischen und politischen Debatten der diversen europäischen Monarchien ein. Im Reich bestand seine besondere Bedeutung darin, dass er ab der Mitte des 15. Jahrhunderts dem wachsenden Bedürfnis nach einer Reform von Reich und Kirche Ausdruck verlieh. Eine Vielzahl von Entwicklungen traf zusammen, um diese erste nationale geistige Konstellation entstehen zu lassen.

Die deutschen Humanisten bildeten eine deutlich abgegrenzte Untergruppe der gebildeten Laienschaft. Gern verstünde man sie als die ersten Exponenten einer modernen »weltlichen« Philosophie, doch blieben sie der Kirche verbunden. Allerdings entwickelten sie ein besonderes Ethos, dessen Frömmigkeit auf die Devotio moderna und die Lebensweise der Brüder vom gemeinsamen Leben verwies, sich aber zugleich davon unterschied. Auch trugen die deutschen Humanisten dazu bei, dass die Kritik an der Kirche wuchs. Besonders ablehnend standen sie der Scholastik gegenüber, die ihrer Meinung nach die Kirche fest im Griff hatte, und sie förderten eine Kritik am römischen Papsttum, die in diesem die Wurzel aller Übel von Kirche und Gesellschaft sah.

Auch die Ausweitung der höheren Bildung im 15. Jahrhundert begünstigte das Entstehen des Humanismus. Die Verwaltungen in den Territorien wie den Städten benötigten gut ausgebildete und qualifizierte Beamte, was wiederum zu einer Vermehrung von Arbeitsmöglichkeiten für Nichtadlige führte. Um 1400 gab es grob geschätzt an die 2000 Studenten; einhundert Jahre später hatte sich diese Anzahl verzehnfacht.4 Im ungefähr gleichen Zeitraum stieg die Anzahl der deutschen Universitäten von fünf (Prag, Wien, Heidelberg, Köln und Erfurt) auf sechzehn, die meisten davon lagen nach 1450 in Oberdeutschland (Germania superior).5 In vielen Städten wurden Lateinschulen eingerichtet, deren Aufgabe dieselbe wie die der Universitäten war, nur dass sie keine Titel verleihen konnten. Die Lateinschule in Schlettstadt zum Beispiel stand an Qualität und Studentenzahlen den meisten Fakultäten der artes liberales nach 1450 in nichts nach.6

Diese wachsende Bildungsinfrastruktur geriet zunehmend unter den Einfluss der Renaissanceideale.7 Anfänglich waren die Ideen aus Italien nur tropfenweise über politische und kaufmännische Verbindungen sowie über deutsche Studenten und Gelehrte, die von italienischen Universitäten zurückkamen, ins Reich gelangt. Stärker wurde der Zustrom durch die Kontakte zwischen Deutschen und Italienern auf den Konzilen von Konstanz und Basel. Wichtig waren ferner Reisen nach und Studien in Italien sowie Kontakte zu Italienern, die sich nördlich der Alpen aufhielten, aber ab 1450 hatte in verschiedenen Teilen des Reichs ein einheimischer Humanismus Fuß gefasst.

Die neuen Bildungsideale wurden besonders nachdrücklich von denen vertreten, die eine Reform der universitären Lehrpläne anstrebten. Diese Initiativen konzentrierten sich zunächst auf die niederen Fakultäten der artes liberales, breiteten sich dann aber rasch in den höheren Fakultäten der Theologie sowie, etwas später, der Medizin und der Jurisprudenz aus.8 Die theologischen Fakultäten waren dabei besonders wichtig: Dort war die Auseinandersetzung mit der Scholastik besonders hart, aber fruchtbringend, und der Kampf um die Lehrpläne gegen die geistlichen Autoritäten prägte den Antiklerikalismus, der den deutschen Humanismus insgesamt kennzeichnete. Außerhalb der Universitäten gab es in Städten wie Augsburg und Nürnberg reiche und gebildete Patrizier – zum Beispiel Conrad Peutinger oder Willibald Pirckheimer –, um die sich kleine Zirkel von Anhängern der neuen Denkweise gruppierten. Spätestens um 1500 hatten die humanistischen Ideale auch einige der führenden Fürstenhöfe und ihre Verwaltungen erreicht: so etwa die habsburgischen Höfe in Wien und Linz, ferner die Höfe von Mainz, Trier, Köln, Heidelberg und andere. Auch in elsässischen Städten waren viele Humanisten zu finden. Oft waren sie mit Habsburg verbunden und ebenso spielte die mit Feindseligkeit gekoppelte Nähe zu Frankreich eine Rolle.

Unterschiedliche Einflüsse, geografische Diversität und institutionelle Anbindung lassen den deutschen Humanismus kaum als einheitliches und kohärentes Phänomen erscheinen. Aber diese so verschiedenen Individuen und Gruppen, von denen einige durch ihre Interessen mit der Kirche verbunden, andere eher literarisch ausgerichtet und wieder andere mit territorialen Regierungen oder der Reichsreform befasst waren, verbanden das zunehmend verstärkte Bewusstsein und Selbstbewusstsein der Arbeit an einem gemeinsamen Projekt. Der deutsche Humanismus wurde ein Netzwerk aus gleich gesinnten Gelehrten, Schriftstellern, Universitäts- und Lateinschullehrern samt ihren Schülern, das sich über das gesamte Reich erstreckte und durch persönliche Kontakte sowie Kreise von Freunden und Protegés zusammengehalten wurde. Zur Pflege dieser Netze dienten soziale Kontakte zwischen lokalen und regionalen Gruppen, ausgedehnte Reisen und vor allem der Briefwechsel. Sie alle nahmen an dem Forum teil, das die Druckerpresse geschaffen hatte; sie alle trugen zu der immer stärker anschwellenden Korrespondenz bei, die den kommunikativen Kosmos der Humanisten ausmachte.

Hauptsächlich ging es der Bewegung um die Reform der höheren Bildung und die Förderung des Studiums der freien Künste wie Grammatik, Rhetorik, Poetik, Geschichte und Moralphilosophie. Grundlegend war dabei das Studium der antiken Autoren, die diese Disziplinen zuerst entwickelt hatten; allerdings erstreckte sich das Interesse schon bald auf alle antiken Texte lateinischer und griechischer (später auch hebräischer) ebenso wie heidnischer und christlicher Provenienz. Ein elegantes Latein zu schreiben, gehörte zu den erforderlichen Grundfähigkeiten, ebenso die praktische Umsetzung literarischer Formen wie etwa des ciceronischen Dialogs, in dem unterschiedliche Standpunkte gegeneinander geführt und miteinander versöhnt werden. Solche Kunst wurde auch in den Konversationszirkeln und der gelehrten Korrespondenz der Humanisten geübt. Diskussionsfreude und die Bereitschaft, sich mit allen Sichtweisen auseinanderzusetzen, galten als grundlegende Eigenschaften. Über allem aber stand die Überzeugung, dass durch humanistische Studien das Individuum sich erheben und vervollkommnen könnte.

Da der Humanismus in erster Linie Methode und Ethos war, konnte er eine Vielzahl unterschiedlicher Formen geistiger und literarischer Aktivität entstehen lassen und höchst unterschiedlichen Zwecken dienen. Um 1500 sind zwei umfassendere Tendenzen besonders hervorzuheben: der christliche Humanismus in Holland, der sich vom Nordwesten ausbreitete, und der süddeutsche Humanismus, der sich zwischen dem Elsass und Wien entwickelte. Die Unterscheidung ist möglicherweise künstlich, denn es gab keine geografische Scheidelinie zwischen Norden und Süden und die beiden Richtungen standen durch viele Kontakte und Reisen von Individuen miteinander im Austausch. Dennoch lassen sich einige bedeutsame Differenzen benennen.

Der holländische christliche Humanismus erwuchs aus der fruchtbaren Interaktion zwischen den Institutionen der Brüder vom gemeinsamen Leben und den neuen philologischen Studien der 1470er und 1480er Jahre.9 Ein früher Vertreter dieser Richtung war der Friese Rudolf Agricola (* 1444, †1485).10 Seine frühe Ausbildung empfing er bei den Brüdern in Groningen. Dann lebte er zehn Jahre lang in Italien, bevor er 1479 nach Groningen zurückkehrte. Dort nahm er Kontakt zu Gelehrten wie Wessel Gansfort, einem unorthodoxen Theologen der Brüder und Alexander Hegius (*um 1433, †1498), ab 1483 Rektor der Lateinschule in Deventer, auf. 1484 berief ihn der Wormser Bischof Dalberg nach Heidelberg, wo er im darauffolgenden Jahr starb. Agricola hatte nie eine einflussreiche Position inne und veröffentlichte nur wenig, aber sein Werk In laudem philosophiae (Lob der Philosophie, 1476), eine Rede, die er 1475 in Ferrara gehalten hatte, setzte neue Maßstäbe und definierte humanistische Bestrebungen.

Agricola wurde später zum Modellbeispiel für eine humanistische Lebensweise: Er war ein unabhängiger und kritischer Geist, einem auf philologischen Grundsätzen beruhenden Gelehrtentum verpflichtet, durch das Studium klassischer Texte inspiriert, doch alles unter Berücksichtigung solider christlicher Fundamente. Seine Inspiration beeinflusste Humanisten aller Schattierungen. Über Hegius und die Lateinschule in Deventer zum Beispiel gab es eine Verbindung zu Mutianus Rufus, einem einflussreichen Vertreter des christlichen Humanismus und des florentinischen Neoplatonismus. Rufus war Kanonikus in Gotha und geistiger Mentor des Erfurter Humanistenzirkels. Von Heidelberg breiteten sich Agricolas Lehren auch in Süddeutschland aus.

Bedeutsamer noch als Rudolf Agricola war Desiderius Erasmus (bekannter als Erasmus von Rotterdam, *1466, † 1536), der in vielerlei Hinsicht erstrangige Vertreter des christlichen Humanismus.11 Auch Erasmus war aus der Lateinschule in Deventer hervorgegangen. Er hatte sie von 1477 bis 1484 besucht und dort auch einmal Agricola lehren gehört. 1489 trat er in das Augustinerkloster von Steyn bei Gouda ein und wurde 1492 ordiniert. Aber er fühlte sich dort wie im Gefängnis, dem er nur mit Schwierigkeiten 1517 nach einem päpstlichen Dispens entkam. Immerhin traf er dort auf einen humanistischen Kreis von Fratres, die neben dem Erziehungsauftrag ihres Ordens das Studium der klassischen Sprachen pflegten.

Ausgedehnte Aufenthalte in England führten zu Kontakten mit Sir Thomas More sowie mit John Colet und regten Erasmus zur Beschäftigung mit den Werken der Kirchenväter an, was 1516 in der Veröffentlichung des Neuen Testaments in griechischer Sprache gipfelte. Von 1506 bis 1509 hielt er sich in Italien auf und lernte dabei Turin, Padua, Bologna, Neapel, Florenz und Venedig kennen. Außerdem erweiterte er seine Kenntnis griechischer Manuskripte. Die Kontakte zum italienischen Neoplatonismus weckten in ihm eine Abneigung gegen den von vielen italienischen Gelehrten gepflegten, heidnisch geprägten Säkularismus und verstärkten seine christlichen Überzeugungen. Als er 1514 von Löwen nach Basel reiste, war er bereits über die Maßen berühmt.

Seine Fahrt auf dem Rhein glich einem Triumphzug. Er traf sich unter anderen mit Johannes Reuchlin (*1455 †1522) sowie Ulrich von Hutten (*1488, †1523) und wurde überall als Vorbote eines neuen Zeitalters der Gelehrsamkeit gefeiert, das nun auch in Deutschland anbreche.12 Er selbst meinte scherzhaft, dass er, nachdem er fast Engländer geworden wäre, nun versucht sei, Deutscher zu werden. Allerdings kehrte er zunächst nach Löwen zurück und ließ sich erst 1521 in Basel nieder. Doch seine häufigen Rheinfahrten und seine Freundschaften mit Gelehrten wie Beatus Rhenanus (*1485, †1547, in Schlettstadt geboren, wohnhaft in Straßburg und ab 1511 in Basel), den er seinen Bruder nannte, ließen ihn unter den deutschen Humanisten immer gegenwärtig sein.13

Erasmus hatte mit Agricola viel gemein, doch übertraf er ihn, was die Anzahl seiner Werke anging, ebenso wie in der philosophischen Formulierung seiner Ziele. Agricola bezeichnete mit dem Terminus philosophia Christi seine Kombination von Elementen der Devotio moderna mit der neuen Philologie.14 Erasmus aber verstand darunter die Überführung des Studiums von Texten in einen christlichen Auftrag, die innere Verschmelzung von Gelehrsamkeit und Frömmigkeit: Das wahre Christentum war nicht in den Dogmen der Kirche oder in frommen Werken der Wohltätigkeit zu finden, sondern nur in der Bibel. Dort lag der Schlüssel zu jener Frömmigkeit und Liebe des Herzens, die den denkenden Christen auszeichnete. Die beste Vorbereitung für diese Religion des Geistes lag im Studium der klassischen Autoren und der Kirchenväter; erst damit konnte die Schrift angemessen verstanden werden. Nur das unabhängig von kirchlicher Anleitung denkende Individuum konnte zu wahrer religiöser Erkenntnis gelangen und damit den Grundstein für ein Leben in der Nachfolge Christi legen. Und damit wiederum wurde die humanistische Unterweisung implizit zur Vorbedingung für die Erneuerung und Reform der Christenheit insgesamt.

Ihren größten Einfluss in den deutschen Landen übten Erasmus’ Schriften erst nach 1517 aus. Sein zuerst 1503 veröffentlichtes Enchiridion militis chistiani (Handbuch des christlichen Streiters) erlangte erst nach der von Froben in Basel 1518 publizierten Ausgabe größere Bekanntheit, ebenso wie das Encomium Moriae (Lob der Torheit) und die Querela Pacis (Klage des Friedens). Im Zusammenhang mit der Reformationsdebatte wurde Erasmus als Pionier gesehen, der schon vorher viele grundsätzliche Fragen aufgeworfen hatte, und so wurde er nach Luther der meistgelesene Autor in deutscher Sprache.15 Vor 1517 blieb sein Einfluss, wiewohl intensiv, auf latinisierende Humanistenzirkel beschränkt.

Erasmus sicherte den Bibelstudien einen herausragenden Platz. Zudem unterstützte er die Umwandlung der in der Devotio moderna implizit enthaltenen Ablehnung kirchlicher Korruption, Verweltlichung und rein äußerlicher Frömmigkeit in eine systematische, philosophisch und theologisch fundamentierte Kritik und fasste seine allgemeinen Bedenken gegenüber der Kirche in eine antipäpstliche Form. So bezeichnete er einmal Rom als »die Zehntscheune der ganzen Welt« und setzte seine Hoffnung in ein Reformkonzil.16 Er verspottete die Scholastik und goss seine Verachtung über den eitlen und arroganten Klerus aus, was viele im Reich in ihrem Streben nach einer Reform der Kirche bestärkte, wie es auch Wasser auf die Mühlen des Antiklerikalismus zahlreicher deutscher Humanisten war. Die Nachwirkungen der Affäre um Reuchlin zeigen, wie verbreitet diese Einstellungen im Reich am Vorabend der Reformation geworden waren.17

Johannes Reuchlin, früher als Erasmus im Reich berühmt, studierte die freien Künste in Pforzheim und Freiburg, dann in Paris und Basel, bevor er in Orléans und Paris zur Jurisprudenz überwechselte. 1482 und 1490 bereiste er Italien, wo er die mystische Philosophie Pico della Mirandolas kennenlernte, die in ihm das Interesse an der hebräischen Sprache und der Kabbala erweckte. Nach Kontakten mit den Heidelberger Humanisten 1496–1498 versah er von 1502 bis 1513 beim Schwäbischen Bund in Tübingen ein Richteramt und lehrte schließlich ab 1519 an der Universität von Ingolstadt Griechisch und Hebräisch.

1509 wurde Reuchlin durch seine praktisch einzigartigen Kenntnisse des Hebräischen in einen Skandal verwickelt, der für das Selbstverständnis des deutschen vorreformatorischen Humanismus von prägender Bedeutung werden sollte. Johannes Pfefferkorn (*1469, †1523), ein zum Christentum konvertierter Kölner Jude, erhielt von Maximilian I. ein Mandat zur Auslieferung aller jüdischen antichristlichen Schriften, die, wie er behauptete, den ganzen jüdischen Schriftkanon umfassten.18 Reuchlin, der Autor der Schrift De rudimentis Hebraicis (1506), gehörte zu denen, die von den kaiserlichen Behörden zum Problem befragt wurden, und er allein verteidigte den Wert philosophischer und wissenschaftlicher hebräischer Texte und die hebräischen Versionen der Heiligen Schrift. Sogar im Talmud, argumentierte er, gebe es Abschnitte, die dem Christentum in keiner Weise schadeten, und nur ein Esel könne die Vernichtung der hebräischen Bibelkommentare verlangen.

Der Disput eskalierte bald in eine bitterböse Auseinandersetzung zwischen dem Scholastizismus und der neuen Gelehrsamkeit. Pfefferkorn holte Theologen von der Universität Köln zu Hilfe und Reuchlin bezeichnete seine akademischen Kritiker in gedruckten Pamphleten als »Ziegen« und »Schweine« sowie als Vertreter einer siechen, altersschwachen Universität. Der Streit führte zu einem Verfahren gegen Reuchlin wegen Ketzerei, das sich bis 1520 hinzog. Unterdessen hatte der Krieg der Worte praktisch das gesamte Netzwerk der Humanisten mobilisiert, da es galt, einen der ihren zu verteidigen. Zusätzlich zu seiner eigenen Verteidigungsschrift veröffentlichte Reuchlin zwei Bände mit Briefen anderer Humanisten, die seine Sache unterstützten. Am bedeutendsten waren die 1515 und 1517 anonym publizierten Epistulae obscurorum virorum, die sogenannten Dunkelmännerbriefe, die an Ortwin Gratius (*1475, †1542), das Oberhaupt der Kölner Theologen, gerichtet waren (zufälligerweise war Gratius auch ein Schüler von Hegius in Deventer gewesen). Diese Briefe enthielten scharfe Angriffe auf die akademische und moralische Zwielichtigkeit der Scholastiker.19

Diese reagierten wütend, konnten aber den Triumph der Satiriker nicht verhindern. Wer die Dunkelmännerbriefe verfasste, ist nicht bekannt, doch wahrscheinlich stammt der erste Band aus der Feder von Crotus Rubeanus (*um 1480, †um 1539), der dem Kreis von Mutianus Rufus (*1470, † 1526) in Erfurt angehörte, und der zweite von Crotus’ einstigem Studienfreund, Ulrich von Hutten.20 Letztlich hatte die Affäre zur Folge, dass die Schar ansonsten so unterschiedlich ausgerichteter Humanisten vereint wurde. Insbesondere stehen die Briefe für das Zusammenwirken des christlichen mit dem patriotischen Humanismus, der anderen vorherrschenden Tendenz, die in den Habsburger Landen vom Elsass bis nach Österreich und vor allem in Süddeutschland florierte. Deren führende Vertreter wurden von der nationalistischen Tradition immer als die deutschen Humanisten betrachtet.

Bis zu einem gewissen Grad ist die Unterscheidung natürlich künstlich. Aber Erasmus’ durch gedämpften Stolz auf nördliche Humanität und Freundlichkeit gemilderter, friedensbewegter Kosmopolitismus steht in scharfem Kontrast zu den explizit politischen und »nationalen« Sichtweisen der führenden süddeutschen Humanisten.21 Während Erasmus die Kirche kritisierte, bloße Lippenbekenntnisse des Glaubens verurteilte und das Papsttum maßvoll tadelte, fuhren die süddeutschen Humanisten schärfste, unversöhnliche Angriffe gegen Rom und die Päpste. Und obwohl Agricola den deutschen Humanisten als Vorbild diente, fehlte in Süddeutschland jene ideelle Gemeinsamkeit, wie sie die Lateinschule von Deventer den christlichen Humanisten vermittelte.

Im Süden verlief die Entwicklung des Humanismus etwas anders. Auch hier reiste man nach Italien und viele blieben dort mehrere Jahre. Auch reagierten sie auf diese Erfahrung wie die christlichen Humanisten und entwickelten in der Folge ein solide grundiertes, durch erasmische und andere Ideen gefestigtes Christentum. Aber ihre politische Welt war nicht die von Deventer. Im Elsass, in Süddeutschland und Österreich entwickelte sich der Humanismus zur gleichen Zeit, da sich das deutsche Reich herauszubilden begann. Viele dieser Humanisten fanden im Reich, das sie als Ergebnis der translatio imperii begriffen, eine institutionelle Verankerung für ihr eigenes Vorhaben, eine translatio studii. So sahen sie in Maximilian I. die Verkörperung des neu heraufdämmernden Zeitalters. Maximilian selbst, der seinem Reich zu heroischer Größe verhelfen wollte, spielte nur allzu gern die Rolle des Phönix. Außerdem suchte er die Zusammenarbeit mit den Humanisten aus praktischen Gründen. Wie vielen deutschen Fürsten war ihm daran gelegen, die neue Gelehrsamkeit in den Dienst des sich formierenden Staates zu stellen, und die Humanisten waren wertvolle Propagandisten in seinem Kampf mit dem Papsttum um 1500.22

Allerdings ist nicht ganz klar, wie erfolgreich der Versuch war, ein Netzwerk von humanistischen Gefolgsleuten zu knüpfen. Unzweifelhaft war der Titel eines Poeta laureatus begehrt und es gibt Hinweise darauf, dass zumindest einige Humanisten sich nicht nur der Literatur widmeten, sondern auch um Verbindungen zu Studenten an ihrer Heimatuniversität und zu Freunden in der humanistischen Gelehrtenrepublik bemüht waren.23 Der geografische Fokus dieses Literaturreichs, der Widerspiegelung des politischen Reichs, lag in Mittel- und Süddeutschland, nicht zu vergessen das besonders aktive Gebiet im Elsass, an der Grenze zu Frankreich und von diesem bedroht. Jakob Wimpfeling (*1450, †1528) zum Beispiel, geboren und gestorben in Schlettstadt, war zwar kein Laureatus, aber ein nimmermüder Verfechter des Reichsgedankens. Er gab seine akademische Stellung in Heidelberg 1501 empört auf, als er den Kurfürsten verdächtigte, mit Frankreich gegen Maximilian zu konspirieren. Andere wie Ulrich von Hutten, der 1518 mit dem Lorbeer gekrönt wurde, wandte sich später enttäuscht von Maximilian ab und unterstützte die Reformation.24 Aber das tat seinem Patriotismus und seiner propagandistischen Aktivität für die Sache des Reichs keinen Abbruch. Erwähnen wir noch zwei weitere Beispiele. Die Patrizier Conrad Peutinger (*1465, †1547) aus Augsburg und Willibald Pirckheimer (*1470, †1530) aus Nürnberg arbeiteten mit Maximilian in verschiedenen literarisch-politischen Projekten zusammen. Peutinger beriet Maximilian bei der Gestaltung seiner Grabstätte in Innsbruck und leitete die Krönung Huttens in die Wege. Aber er war wie Pirckheimer kein Poeta laureatus und nahm später, wie dieser, an der Hinwendung seiner Heimatstadt zum Protestantismus teil.

Es ist selten so schwierig, Reichsbefürworter von Reichsgegnern zu unterscheiden, wie im Kontext der Diskussion über die Reichsreform zwischen 1495 und 1500. Ein literarisches Engagement für das Reich konnte sich auf vielerlei unterschiedliche Weise äußern, ohne sich festlegen zu müssen.25 Humanisten wie Heinrich Bebel (*1472, †1518) aus Württemberg, Jakob Wimpfeling aus dem Elsass oder Johannes Aventinus (*1477, †1534) aus Bayern verbanden ihren Reichspatriotismus mit einer starken regionalen oder territorialen Loyalität, in der Überzeugung, dass die Einheit der »Nation« auf dem gemeinsamen Interesse ihrer vielen verschiedenen Ausprägungen von »Land und Leuten« beruhte.26

Bei aller Unterschiedlichkeit der Interessen bezogen sich die Schriften der Humanisten auf eine gemeinsame Quelle. Ihre Debatten wurden durch die Wiederentdeckung der Schrift Germania von Tacitus um 1455 ausgelöst. Sie eröffnete zum ersten Mal die Möglichkeit einer Geschichte der Deutschen, die sich von der Geschichte des Reichs unterschied. Damit rückten die Humanisten die mittelalterliche Idee der translatio imperii, des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation als Nachfolger des Römischen Reichs, in eine ganz neue Perspektive. Doch schon bald sollten einige die Theorie des römischen Ursprungs als reine Fiktion verwerfen.

Die Rezeptionsgeschichte der taciteischen Germania ist kompliziert. Sie wurde zuerst 1472 veröffentlicht, doch war ihr Inhalt nördlich der Alpen schon vorher durch Kontakte zu italienischen Gelehrten bekannt geworden.27 Tacitus analysierte, warum es den Römern unter Trajan nicht gelang, die germanischen Provinzen zu unterwerfen. Seine ethnografischen und historischen Untersuchungen der germanischen Stämme setzten deren positiv beurteilte Tugenden und Stärken gegen die beginnende Dekadenz von Kultur und Gesellschaft im Römischen Reich. Allerdings benannte Tacitus auch Fehler und Laster. Die germanischen Tugenden – Mut, Treue, Monogamie, Einfachheit, Religiosität – zeigten sich am eindrucksvollsten im Krieg, meinte Tacitus. Diese Stärken machten die Germanen zu außergewöhnlich guten Kriegern. Ansonsten schliefen, aßen und (vor allem) tranken sie gern und reichlich und stritten heftig miteinander. Was jedoch am meisten beeindruckte, war Tacitus’ Beschreibung der Germanen als eines einheimischen Volks, das immer noch im Land seines Ursprungs lebte. Die Germanen waren Abkömmlinge des gottgleichen Tuisco, dem sie einen Erdensohn namens Mannus zuschrieben. Er war angeblich der gemeinsame Vorfahr aller Stämme.

Die frühen Interpretationen der Germania waren widersprüchlich. Einerseits sahen die ersten italienischen Kommentatoren, die mehr oder weniger in Verbindung mit der römischen Kurie standen, darin den Beweis, dass die Deutschen, verglichen mit dem christlichen Rom als Erbe der antiken römischen Kultur, zurückgeblieben und ungebildet waren. Dann nahm Enea Silvio Piccolomini (*1405, †1468, ab 1458 Papst Pius II.) sich des Themas auf seine Weise an. Er wies die auf dem Frankfurter Reichstag 1456 vorgetragenen Gravamina Germanicae nationis, die Klagen darüber, dass die deutschen Lande durch die päpstlichen Steuerforderungen ausgeblutet würden, mit dem Argument zurück, das Papsttum habe den Deutschen geholfen, ihrer einstigen Armut und Zurückgebliebenheit zu entkommen und zu einer wohlhabenden und kulturell hochstehenden Nation zu werden. Pius’ Vorgänger hatten deutsche Gelehrte mit der Behauptung irritiert, die Deutschen seien »betrunkene Raufbolde, die schlecht riechen und nicht das klassische Latein beherrschen«; Pius selbst hatte auch nicht viel Trost im Angebot, weil er meinte, Deutschland sei »eine kulturelle und politische Kolonie der römischen Kurie«.28

Die Anwürfe der italienischen Humanisten verletzten den Stolz der deutschen Gelehrten und ließen sie nach Gegenargumenten suchen, die sie ebenfalls bei Tacitus fanden. Seine Versicherung, die Germanen seien indigenae (Eingeborene), und sein Mangel an klaren Hinweisen auf ihre Herkunft führte im nächsten halben Jahrhundert zu einer Flut von Schriften.

Einige Humanisten, wie etwa Heinrich Bebel und Conrad Celtis (*1459, †1508), untersuchten die Implikationen der Behauptung, die Germanen seien »ein ursprüngliches Volk«.29 Wenn das stimmte und die jetzigen Deutschen immer noch die Lande des Ursprungs bewohnten, mussten diese verteidigt werden, und diese Pflicht falle Kaiser Maximilian zu. Aber damit war die Ursprungsfrage noch nicht erledigt. Celtis zum Beispiel suchte einen ganz neuen Ansatz für den schon vor ihm behaupteten gemeinsamen Ursprung von Deutschen und Griechen: Beide stammten, so meinte er, von den geschichtlich viel weiter zurück liegenden Druiden ab. Damit wollte er zum einen die Verbindung mit der antiken Welt bewahren, zum anderen aber eine translatio imperii ohne Verpflichtung Rom gegenüber behaupten. Heinrich Bebel ging noch weiter; für ihn lief der Satz Germani sunt indigenae (die Germanen sind Eingeborene) darauf hinaus, dass es keine Notwendigkeit gebe, eine Verbindung mit Griechen oder Römern nachzuweisen.

Solche Theorien überschnitten sich mit dem zweiten großen Thema der »historischen Forschung« deutscher Humanisten: der Identifikation der origo, des Ursprungs der Germanen.30 Hier wurden die von Tacitus gegebenen Hinweise mithilfe der so erstaunlichen wie erfundenen »Entdeckung« des »chaldäischen« Autors Berosius durch Annius von Viterbo 1498 ergänzt. Der »Enthüllung«, dass alle Menschenrassen von Noah und seinen drei Söhnen – Sem, Ham und Japhet – abstammten, folgte die weitere Einsicht, Tuisco sei ein Adoptivsohn Noahs gewesen. Tuiscos Sohn wiederum war Mannus (auch bekannt als Alemannus), der Urvater der germanischen Stämme. Die Germanen seien, kurz gesagt, älter als die Trojaner und vom Ursprung her ganz verschieden von allen anderen europäischen Völkern, die von Japhet abstammten.

Einigkeit über diese Fragen wurde nicht erzielt. Ursprung und Geschichte der Germanen waren Gegenstand heftiger, zuweilen gar giftiger gelehrter Auseinandersetzungen, die sich über viele Jahrzehnte hinzogen. Auch lässt sich nicht behaupten, dass die Humanisten, nicht einmal die Laureaten, einer vom Monarchen diktierten »Parteilinie« folgten. Maximilian nahm gegenüber seinem hauptsächlichen Mitstreiter, Celtis, eine sehr viel traditionellere Sichtweise ein.31 Für ihn stammten die Deutschen von den Trojanern ab. Er vertrat die Ansicht, die Franken seien ursprünglich von Troja gekommen, was sie den Römern gleichstellte und den Franzosen, die nur eine Art Untergruppe der Franken bildeten, überlegen machte. Schließlich verwob Maximilian die Kulte von Osiris und Herkules, die von den römischen Kaisern verehrt wurden und deren Abstammung er bis zu Hektor zurückverfolgte, in seine eigene persönliche Mythologie, so, wie er auch die dynastische Genealogie für wichtiger als die Ursprünge des Reichs und dessen Legitimität als Imperium der »Deutschen Nation« hielt. Doch um 1500 gehörte dies alles in den Bereich des humanistischen Diskurses der »Nation«.

Insgesamt haben die zwischen 1480 und 1520 veröffentlichten humanistischen Schriften entscheidend dazu beigetragen, ein Gefühl für die Einheit der deutschen Lande zu wecken. Sie unterfütterten die von der politischen Propaganda jener Epoche hervorgerufene Idee der »Nation« mit einer Geschichte, einer Mythologie, einer Theorie kultureller und sprachlicher Identität. Signifikanterweise hat diese Generation von Humanisten die erste Geschichte Deutschlands (Jakob Wimpfeling 1501), die erste Geschichte der deutschen Literatur (Johannes Trithemius 1495) und die erste Topografie der deutschen Gebiete hervorgebracht.32 Sein Leben lang hegte Celtis den Plan, eine maßgebliche historische Topografie mit dem Titel Germania illustrata zu verfassen. Unermüdlich beschäftigte er sich mit diesem Plan, der indes nie über sein Anfangsstadium hinausgelangte und dennoch von den Zeitgenossen als Großtat von eigenem Wert gewürdigt wurde.33 Andere hatten bescheidenere Ansprüche und veröffentlichten richtige gebundene Werke, wie etwa Johannes Cochlaeus, dessen Brevis Germaniae Descriptio (Kurze Beschreibung Deutschlands, 1512) eine populäre Darstellung von »Germania« als den Gebieten, in denen die deutsche Sprache gesprochen wurde, bot.34

Welche Rolle diese Humanisten in Maximilians imperialen Unternehmungen und als Vertreter einer frühen Theorie »nationaler« Identität spielten, ist bereits erörtert worden.35 Hier nun geht es darum, wie ihre Interessen im Zusammenhang mit dem Reich geformt wurden. Beispielhaft dafür steht Conrad Celtis, der häufig als »Erzhumanist« bezeichnet wurde.36 Celtis war 1484–1485 in Heidelberg Schüler von Agricola gewesen, hatte 1486–1487 Rom und andere italienische Städte bereist und war 1487 als erster deutscher Poeta laureatus gekrönt worden. Die römische Akademie hatte ihn so beeindruckt, dass er nun den Plan verfolgte, eine ganze Galaxie humanistischer Akademien im Reich zu errichten. Er gründete wissenschaftliche Vereinigungen (sogenannte Sodalitates litterariae) in Heidelberg, Augsburg, Regensburg, Olmütz, Krakau, Wien und Prag, darüber hinaus sogar eine Sodalitas Baltica in Lübeck (die fehlschlug).37 Diese Bemühungen um eine literarisch-gelehrte Infrastruktur für das Reich bilden die Entsprechung zu Celtis’ rastlosem Bestreben, einen mittelalterlichen deutschen Literaturkanon zu entwickeln, das Lob der deutschen schönen Literatur zu singen und das neue Zeitalter der Reform, das er für das Reich vorsah, zu verkünden. Und Reform bedeutete Erneuerung im weitesten Sinn: die Erneuerung von Gesellschaft und Religion wie auch der Institutionen des Reichs.

Der Reichspatriotismus von Celtis umfasste also auch die Vorstellung von einer Reform der Kirche. Trotz seiner Schmähreden gegen Rom wollte er die Kirche nicht aufgeben, auch predigte er keine heidnische – nordische oder germanische – Rebellion gegen sie. Die Kirche würde, so meinte er, weiterexistieren, aber als reformierte Kirche. Sein ganzes Denken beruhte auf Grundannahmen, wie sie auch Erasmus hegte. Für die neue Gelehrsamkeit musste man sich engagieren, sie aber fest in deutschem Boden verankern. Sie sollte als Mittel dienen, das richtige Maß wahrer Tugend und den unverstellten Blick auf die objektive Wahrheit zu erlangen. Diese Wahrheit war in den Naturgesetzen, deren höchste schöpferische Macht Gott selbst war, verkörpert. Das Individuum, das diesen höchsten Grad von Erkenntnis und Einsicht zu erlangen fähig ist, bildet sich so nach dem Beispiel Christi und verwirklicht dergestalt die edelste Berufung der Menschheit.38

Von solcher Philosophie, verbunden mit einer noch schärferen Kritik am Papsttum, ist auch das Werk Ulrichs von Hutten durchdrungen, der oft als Celtis’ Nachfolger bezeichnet wird.39 Ulrich von Hutten war der Sohn eines fränkischen Ritters, Mitglied einer großen Familie, die nordwestlich von Würzburg zahlreiche Burgen und beträchtliche Ländereien besaß. 1499, im Alter von elf Jahren, wurde er in das Kloster Fulda gegeben. Seine Familie sah ihn für eine Karriere in der Reichskirche vor und schickte ihn zunächst in jene »lokale« Institution, die für die Söhne des niederen Adels vorgesehen war. 1503 ging er nach Erfurt, um dort zwei Jahre lang zu studieren, die notwendige Voraussetzung für die Berufung zum Mönch. Doch statt dann nach Fulda zurückzukehren, begab er sich mit seinem Freund Johann Jäger (der sich als Humanist Crotus Rubeanus nannte) auf eine ausgedehnte Studienreise.

1512 ging er nach Italien, wo er, so hoffte jedenfalls sein Vater, sein Jurastudium in Pisa und Bologna abschließen würde. Aber er enttäuschte den Vater erneut: Als ihm das Geld ausging, schloss er sich Maximilians Heer in Norditalien an. 1514 kehrte er nach Deutschland zurück und trat in den Dienst Albrechts von Brandenburg, des Kurfürsten von Mainz. Der finanzierte eine zweite Italienreise, ebenfalls in der Hoffnung, Hutten würde dort sein Rechtsstudium beenden. Kurz vor seiner Abreise wurde er in die Kontroverse um den ersten Band der Dunkelmännerbriefe verwickelt, was ihn offenbar dazu inspirierte, den zweiten Band während seines Italienaufenthalts niederzuschreiben.

Celtis’ Einfluss auf Hutten war enorm, aber dieser war sehr viel mehr als nur sein literarischer Nachfolger. Er spielte eine entscheidende Rolle bei der Ausgestaltung des Mythos um Arminius (»Hermann der Cherusker«). 1509 nämlich hatte man die Annales des Tacitus und damit den ersten historischen Bericht über die siegreiche Schlacht der Germanen gegen die Römer im Jahr 9 n. Chr. wiederentdeckt.40 Zudem schärften Huttens adlige Abkunft und seine frühen Erfahrungen mit der Kirche den Blick für die politischen Implikationen der humanistischen Kirchenkritik. Ein weiteres entscheidendes Moment war das Treffen mit Erasmus im August 1514, das den Beginn einer fünfjährigen Freundschaft markierte.41

Hutten reagierte mit entschiedener Begeisterung auf Erasmus’ Kritik an der Kirche und ihren scholastischen Theologen wie auf den Plan einer allgemeinen Reform. Entscheidend war auch sein zweiter Italienaufenthalt. Zwar brachte er auch diesmal sein Studium des Rechts zu keinem Abschluss, wurde aber bei seiner Rückkehr zum Poeta laureatus gekrönt, was ihm den Status eines Doktors verschaffte und ihn für eine Stellung als »gelehrter Hofrat« in Mainz qualifizierte. Dort hatte er genug Zeit, sich mit humanistischen Studien und der Abfassung von Schriften zu beschäftigen. Kurz vor seiner Rückkehr aus Italien hatte er in Bologna Lorenzo Vallas kritische Ausgabe der Konstantinischen Schenkung gelesen. Valla entlarvte die Urkunde, in der Kaiser Konstantin angeblich den Päpsten die Herrschaft über das Weströmische Reich zusicherte, als Fälschung. Das war für Hutten eine einschneidende Erfahrung. Vallas Text verstärkte seine Abneigung gegen die ausschweifende Lebensweise Julius’ II. und gab ihm ein wirksames Instrument an die Hand, um das Recht des Papstes auf Gewährung oder Verweigerung der Absolution zu bestreiten. Im Sommer 1517 kehrte Hutten nach Mainz zurück und war nun erfüllt von der Mission, die Deutschen vom römischen Joch zu befreien.

Die erste Salve in diesem Feldzug ließ nicht lang auf sich warten. Hutten publizierte eine deutsche Ausgabe von Vallas Werk, die er provokativ Papst Leo X. widmete. Das war das Vorspiel zu seiner Teilnahme am Reichstag zu Augsburg von Juli bis September 1518. Hutten war dort in seiner Funktion als Hofrat des Kurfürsten von Mainz. Nach der Frage der Thronfolge war das zweite große Thema die Forderung des Papstes nach Geld, das er für einen Kreuzzug gegen die Türken brauchte. Von den anwesenden Humanisten äußerte sich Hutten dazu am nachdrücklichsten.

Als Reaktion auf das Ansinnen des Papstes konfrontierten die Stände Thomas Cajetan, den päpstlichen Legaten, mit einer neuen Version ihrer Gravamina, die 1510 von Willibald Pirckheimer zusammengestellt worden war. Hutten erhielt von seinem kurfürstlichen Erzbischof den Auftrag, eine Rede zu schreiben, in der die Stände zur Unterstützung von Kaiser und Papst aufgefordert wurden. Jedoch war Hutten nicht in der Lage, seinen mittlerweile fast pathologischen Antipapismus zu unterdrücken, und würzte seine Befürwortung des Kreuzzugs mit spitzen Seitenhieben auf die Gier der Päpste und ihre Ausbeutung der deutschen Lande. Allerdings wurde die Rede, in der er auf kühne Weise die Position des Papstes mit der der Stände verband, zu spät publiziert, um auf die Entscheidungen noch Einfluss nehmen zu können.42 Dennoch markierte Huttens literarische Tätigkeit auf dem Reichstag eine neue Phase in seiner Karriere als politischer Aktivist und als wahrhaft nationale Gestalt.

Im Jahr darauf quittierte er den Dienst beim Kurfürsten. Nach einem weiteren militärischen Zwischenspiel – Hutten nahm am Feldzug des Schwäbischen Bundes gegen Ulrich von Württemberg teil – versuchte er, eine Stellung am Brüsseler Hof von Ferdinand, dem Bruder Karls V., zu bekommen, weil er hoffte, Ferdinand für die Sache der Kirchenreform gewinnen zu können. Die Bewerbung scheiterte und im August 1520 suchte Hutten Schutz vor kirchlicher Verfolgung in der Ebernburg, dem Sitz des mächtigen Söldnerführers Franz von Sickingen. Dort schrieb Hutten zum ersten Mal auf Deutsch und verfasste im Winter 1520/21 eine wahre Flut von Flugschriften, deren Inhalt auch dadurch beeinflusst wurde, dass er mittlerweile Martin Luther als ernst zu nehmenden Verbündeten in seinem Kampf für die Reform von Kirche und Reich betrachtete.

1518 hatte Hutten Luthers Feldzug gegen den Ablasshandel noch als bloßen Streit zwischen starrköpfigen Mönchsgrüppchen abgetan. Seine Haltung änderte sich, als Luther selbst, nach seiner Leipziger Disputation mit Johannes Eck im Juli 1519, seine theologischen Lehren mit den Bestrebungen der Reformbewegung verband.43 Aus Luthers Sicht war es ein Zweckbündnis, aber der Papst witterte eine gemeinsame Zielsetzung, und so geriet auch Huttens Name in die Bannandrohungsbulle Exsurge Domine (Erhebe dich, Herr) vom 15. Juni 1520.44 Doch waren die Differenzen zwischen den beiden schon vor Huttens frühem Tod im August 1523 sichtbar geworden. Hutten war einer der letzten Reformer aus der Ära Maximilians, kein neuer Lutheraner.

Ausführlicher werden Luthers Schulterschluss mit Hutten sowie Huttens Streiten für die Reformation an der Seite Franz von Sickingens im Kapitel über den Ritterkrieg erörtert.45 Allerdings ist schon die Tatsache, dass die Annäherung so zögerlich begann, ein Symbol für die Vielschichtigkeit der Beziehung zwischen dem Humanismus und der Reformationsbewegung. Die beiden liefen ein paar Jahre lang nebeneinander her, ohne miteinander zu verschmelzen.

Die deutschen Humanisten waren fast ausnahmslos Anhänger einer Reform der Kirche und die Mehrheit unterstützte auch die Reichsreform oder sah zumindest in der Wiederbelebung der deutschen Sprache und Literatur die Verbindung zu einer Erneuerung des Reichs wie auch der Gesellschaft allgemein. In den etwa zwei Jahrzehnten vor der Reformation hatten die Schriften der Humanisten zur wachsenden Kritik an der Kirche beigetragen und für wachsendes Reformverlangen und gesteigerte Erwartungen gesorgt. Die Humanistenzirkel florierten von Basel und Freiburg bis nach Rostock und Greifswald und teilten ihre Botschaft den Gebildeten – den Studenten, Beamten, Pastoren – mit. Die tragende Säule der humanistischen Methodenlehre war die in dem Motto Ad fontes! (Zu den Quellen!) enthaltene Forderung, zu den originären Texten zurückzukehren, was den Eindruck verstärkt, der Humanismus habe der Reformation den Boden bereitet. Zwar enthielt die humanistische Bibliothek auch antike pagane Texte, die für die neue Theologie unbrauchbar waren, aber Luthers Arbeit wäre ohne die Neuausgaben der Bibel und der Kirchenväter undenkbar gewesen.

Doch entsteht aus Einflüssen, und seien es noch so viele, noch keine Kausalverbindung zwischen Humanismus und Reformation. Zweifellos sorgte der Humanismus für eine grundlegende Transformation der geistigen Kultur im Reich, doch auf eine Weise, die den späteren reformierten Katholizismus ebenso prägte wie den im Entstehen begriffenen Protestantismus. Die Ziele des Humanismus und sein Ethos waren nicht säkular, sondern zutiefst christlich und der traditionellen Kirche eng verbunden. Der Humanismus zielte auf die Reform der alten Kirche, nicht auf ihre Zerstörung. Wie die Volksfrömmigkeit, die der Humanismus so abschätzig beurteilte, gehörte er selbst zu den vielfältigen Gär- und Nährstoffen, die für die spätmittelalterliche Kirche so typisch waren.

Insofern waren viele Humanisten, die sich vor 1517 an den theologischen und politisch-patriotischen Auseinandersetzungen beteiligten, nicht bereit, im Anschluss die Sache der Reformation zu unterstützen. Manche, wie Reuchlin und Wimpfeling, waren von Anfang an dagegen. Mutianus Rufus war von Luthers Argumenten recht angetan, zog sich aber zurück, als sie zum Bestandteil einer Massenbewegung wurden. Andere waren längere Zeit hin- und hergerissen, bevor sie sich endgültig abwandten. Erasmus zum Beispiel distanzierte sich zunächst eine ganze Weile von den Unruhen, die mit der Sache Luthers verbunden waren, bevor er 1524/25 endgültig und öffentlich mit Luther brach. Die Ursache selbst war eher symbolischer Provenienz: Luthers pessimistische Einschätzung der Sündhaftigkeit des Menschen war mit dem moralischen Optimismus des Humanisten nicht vereinbar.46 Standen also die älteren Humanisten der Reformation eher kritisch gegenüber, bildete die jüngere Generation, allen voran Reuchlins Großneffe Philipp Melanchthon, 1518 im Alter von 21 Jahren zum Professor für Griechisch nach Wittenberg berufen, ihr Rückgrat.47

Der Humanismus blieb länger eine unabhängige Kraft als viele andere Laienbewegungen des späten 15. Jahrhunderts. Hätte das Luthertum nicht die geistigen Eliten samt ihren Bildungsidealen in sich aufgenommen, hätte er sicher nicht überlebt. In mancherlei Hinsicht wäre es genauer, zu sagen, dass das Luthertum, wie etwas später der Katholizismus, gezwungen war, sich den Humanismus anzuverwandeln, so wie der Humanismus sich der religiösen Reformbewegung annehmen musste. Allerdings verebbte der politische Kampfgeist der Zeit um 1500 nach 1517 sehr schnell. Aber der Kern des Humanismus – die Bewegung für die Bildungsreform – behauptete sich in der neuen Welt der religiösen Spaltung ebenso, wie er sich zuvor in der Welt der spätmittelalterlichen Kirche behauptet hatte. Die humanistischen Ideale waren mit den neuen konfessionellen Vorstellungen vereinbar und prägten sie, wie sie schon die Auseinandersetzungen um die Kirchen- und Reichsreform beeinflusst hatten. Das Ideal einer vereinten Christenheit überlebte als Vision der Überwindung der konfessionellen Spaltung.

Vor allem aber hatte die erste Generation der deutschen Humanisten eine patriotische Rhetorik entwickelt, die Nation und Reich miteinander identifizierte. Lange Zeit hielt man es für ausgemacht, dass der Humanismus nach der Generation von 1500 erlosch, aber das stimmt nicht. Er lebte in vielerlei Gestalt auch nach den 1520er Jahren weiter.48 Seine Bildungsideale prägten die Entwicklung der protestantischen und katholischen Kultur auf ihrem Weg ins 17. Jahrhundert und sein Diskurs der »Nation« blieb für die politische Kultur des Reichs von grundlegender Bedeutung.49 Die Rhetorik des Nationalen wurde zuerst von Maximilian I. und Karl V. gepflegt und dann kurzfristig im Versuch von 1520/21, die Nation gegen Rom zu einen, wiederaufgenommen. Danach wurde die Berufung auf die Nation zum Kern des ideologischen Widerstands gegen die Monarchen in Deutschland.50 So schuf der Humanismus jene patriotische Sprache, die im Reich bis 1806 immer wieder verwendet wurde: in den Verfassungskämpfen der 1540er Jahre und im Dreißigjährigen Krieg, in den Konflikten mit den Türken und den Franzosen im 16. und 17. Jahrhundert, in den politischen Auseinandersetzungen über den Fürstenbund in den 1780er Jahren, in der deutschen Reaktion auf die Französische Revolution und auf die französischen Angriffe auf das Reich in 1790er Jahren.51

Anmerkungen

1 Eine Übersicht findet man in Overfield, »Germany«; Meuthen, »Charakter«, und TRE, Bd. XV, 639–661.

2 Münkler und Grünberger, »Identität«; Münkler, Grünberger und Mayer, Nationenbildung, 235–261.

3 Hirschi, Wettkampf, 124–174.

4 Schubert, Spätmittelalter, 286.

5 Der Gründung der Universität Heidelberg 1486 waren die der Universitäten von Prag (1348) und Wien (1365) vorhergegangen. Hammerstein, Bildung, 1–6.

6 Schubert, Spätmittelalter, 285; Hammerstein, Bildung, 9–11.

7 HdtBG, Bd. I, 39–51.

8 Hammerstein, Bildung, 6–9, 13–15, 97–99, 103–104.

9 Israel, Dutch Republic 14761806, 41–48.

10 Killy, Lexikon, Bd. I, 634, 77; ADB, Bd. I, 151–156; NDB, Bd. I, 103–104; Laan, »Agricola«.

11 Killy, Lexikon, Bd. III, 273–282; Hammerstein, Bildung, 15–16.

12 DBE, Bd. III, 135.

13 Schoeck, Erasmus, 233–235, 283–297; Stadtwald, Popes, 78–92.

14 Israel, Dutch Republic 14761806, 44.

15 Killy, Lexikon, Bd. III, 277.

16 Stadtwald, Popes, 81.

17 Rummel, Reuchlin, 3–40; Killy, Lexikon, Bd. IX, 398–400; ADB, Bd. XXVII, 785–799; Bautz, Kirchenlexikon, Bd. VIII, 77–80. Die umfassendste Darstellung der »Affäre Reuchlin« und ihrer theologischen Implikationen findet sich in Price, Reuchlin.

18 Price, Reuchlin, 95–112.

19 Rummel, Reuchlin, 23–24.

20 DBE, Bd. II, 404–405, und Bd.V, 236–237.

21 Stadtwald, Popes, 78–79.

22 Stadtwald, Popes, 206.

23 Mertens, »poeta laureatus«, 160–165; Flood, Poets laureate, Bd. I, LXXXVIII–CIII.

24 Vgl. S. 86, 151–153.

25 Rabe, Geschichte, 160–167.

26 Mertens, »poeta laureatus«, 165–172.

27 Tacitus, Germania. Die Einleitung von Gerhard Perl (50–66) bietet die wohl klarste Darstellung der Wiederentdeckung und frühen Publikationsgeschichte des Textes. Vgl. auch Münkler, Grünberger und Mayer, Nationenbildung, 163–233, sowie Krebs, »Dangerous book«, 285–288.

28 Münkler und Grünberger, »Identität«, 224.

29 Münkler und Grünberger, »Identität«, 225–231.

30 Münkler und Grünberger, »Identität«, 232–241.

31 Garber, »Nationalismus«, 28.

32 Moraw, »Voraussetzungen«, 101.

33 Strauss, Germany, 22–25.

34 Schmidt, Geschichte, 49–50.

35 Vgl. S. 62–63.

36 ADB, Bd. IV, 82–88; NDB, Bd. III, 181–183; Killy, Lexikon, Bd. II, 395–400.

37 ADB, Bd. IV, 84–86; Spitz, Celtis, 45–62.

38 Killy, Lexikon, Bd. II, 397.

39 Vogler, »Ulrich von Hutten«; Gräter, Hutten; Killy, Lexikon, Bd.VI, 27–30.

40 Münkler, Grünberger und Mayer, Nationenbildung, 263–271.

41 Honemann, »Erasmus«, 68–69.

42 Kalkoff, Hutten, 60–62,

43 Schmidt, »Hutten«.

44 Burger, »Huttens Erfahrungen«, 45.

45 Vgl. S. 270–272.

46 Schoeck, Erasmus, 298–308.

47 Moeller, »Humanisten«, 55–56.

48 Overfield, »Germany«, 115; Meuthen, »Charakter«, 224–227.

49 Schmidt, Vaterlandsliebe, 125–133.

50 Hirschi, Wettkampf, 389–412.

51 Schmidt, »Deutsche Freiheit«.

Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien

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