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Vorwort zur deutschen Ausgabe
ОглавлениеDer eine und andere hat es geahnt, hatte mal davon gehört: dass da ein englischer Historiker seit vielen Jahren an einem Opus magnum zur vormodernen deutschen Geschichte arbeite. Und wer Joachim Whaley – Professor of German History and Thought an der Universität Cambridge – einmal persönlich kennenlernte, den frappierte seine stupende Kenntnis der deutschen Geschichte genauso wie seine kaum stillbare Neugierde allem gegenüber, was mit Deutschlands vormoderner Vergangenheit, und sogar mit seiner Gegenwart, zu tun hat.
Als im Jahr 2012 die beiden voluminösen Bände Whaleys über »Germany and the Holy Roman Empire« erschienen sind, waren dann doch alle überrascht. So etwas hatte schon lang keiner mehr versucht, so etwas gab es nicht auf dem deutschen Buchmarkt: eine umfassende deutsche Geschichte, die all die vielen Spezialinteressen eines mit fortschreitender Arbeitsteilung immer kleinteiliger fragmentierten Wissenschaftsbetriebs zusammenbindet. Eine ausführliche Synthese, die sich nicht in weltgeschichtlichen Betrachtungen verliert oder von »deutschem Wesen« schwadroniert, sondern von Daten und Fakten fast schon überquillt; die in dichter chronologischer Abfolge die für die vormoderne deutsche Geschichte wichtigen und signifikanten Ereignisse und Entwicklungen schildert, dabei zahlreiche Menschen aus Fleisch und Blut handelnd vorführt und doch die großen Strukturen – vom ökonomischen Auf und Ab bis hin zur komplizierten Verfassung des Reichsverbandes mit seinen vielen geschriebenen und mindestens so komplexen ungeschriebenen Spielregeln – nie aus dem Auge verliert.
Whaleys Bände sind eine Synthese, die Entwicklungen in den vielen deutschen Territorien nachspürt und doch nie Gefahr läuft, die Addition zahlreicher Landesgeschichten zu betreiben, eben weil das Ganze, der mitteleuropäische Dachverband namens Reich mit seinen Institutionen und Interventionen, stets präsent ist. Es ist eine Synthese entstanden, in der insgesamt die politische Geschichte führend bleibt, in der aber auch Geistesgeschichte und Mentalitäten, Religionsgeschichte und die Geschichte politischer Ideen, kulturelle Praktiken, administrative Strukturen, ökonomische und sogar technologische Entwicklungen zu ihrem Recht kommen.
Vor dem Auge des Lesers erscheinen Kaiser und vermeintliche »Hexen«, stille Gelehrte und derb polternde Pamphletisten, die »immerwährenden« Verhandlungsroutinen des Regensburger Reichstags und aufmüpfige Bauern; man besucht Akademien und Manufakturen, erfährt von vormodernen Verwaltungsreformen und von den Auswirkungen der Kleinen Eiszeit, von höfischem Glanz und aufklärerischen Debatten über die Toleranz, von Kriegsleid und der Kunst, den Frieden zu finden – und das alles (ja, noch viel mehr) wird nie romanhaft, ist nie nur unterhaltsames Kaleidoskop, weil es durchgehend in analytischem Duktus auf große Entwicklungsstränge bezogen und weil es stets auf dem Forschungsstand präsentiert sowie genau belegt wird.
Whaley begegnet dem Alten Reich, diesem langlebigen Gebilde mit einzigartiger »Zeitelastizität« (um den Ausdruck für die zeitliche Erstreckungsfähigkeit eines politischen Systems von Niklas Luhmann zu borgen), mit kritischer Sympathie. Das Alte Reich habe in den letzten 350 Jahren seiner Geschichte zahlreiche Herausforderungen glänzend gemeistert, sei bis in seine Spätphase hinein innovativ und flexibel geblieben, betont er immer wieder zu Recht. Er weiß (anders als viele deutschsprachige Darstellungen noch der jüngeren Vergangenheit), dass das Reich auch nicht nach oder wegen »1648«, also seit dem Westfälischen Frieden, versteinert und erstarrt ist. Vielmehr kann Whaley zeigen, dass die Kohäsionskräfte im Reichsverband in den Jahrzehnten vor und um 1700 wieder anwuchsen und wie der Kaiser, beispielsweise über den mittlerweile permanent tagenden Reichstag, beispielsweise durch eine zielstrebig vergrößerte Klientel, wieder präsenter wurde.
Aber Whaley erliegt auf der anderen Seite auch nicht der Versuchung, Deutschlands konfessionelles Zeitalter, um nur das Reich als besonders interessanten Forschungsgegenstand herausstreichen zu können, etwa schönzufärben oder den Dreißigjährigen Krieg im falsch verstandenen Interesse einer Europäisierung der Erinnerung zu internationalisieren: Nein, der Konfessionsdissens riss das Alte Reich wiederholt in schwere Krisen, stürzte es 1546 in einen ersten, seit 1618 in seinen verheerenden dreißigjährigen Konfessionskrieg, aber mit dem Ersten Religionsfrieden von Augsburg (1555) und dem Zweiten von 1648 (Artikel V des Osnabrücker Friedensvertrags) fand es auch für diese Herausforderung Lösungen, die in ihrer Zeit avantgardistisch gewesen sind.
Auch als das Reich ab 1740 erneut polarisiert wurde, nun nicht mehr vorrangig nach konfessionellen Loyalitäten, sondern im Zeichen des preußisch-österreichischen Dualismus, war es nicht zwangsläufig am Ende, wie Whaley mit guten Argumenten herausstreicht. Als ein Franzose aus Kraft und Willen die europäische Landkarte ummalte und den Kontinent unter seinem korsischen Clan aufteilte, war – wie so viele europäische Länder und Reiche – auch das Heilige Römische Reich deutscher Nation am Ende. Aber für den Briten Whaley prägt sein Erbe die politische Kultur Mitteleuropas bis heute. Es ist gerade für deutsche Leser reizvoll, sich das von einem außenstehenden Beobachter aufzeigen zu lassen, der in die deutschen Forschungskontroversen der letzten Jahrzehnte nicht verwickelt, doch bestens eingeweiht ist.
Man merkt, dass die beiden Bände in vieljähriger Arbeit heranreifen durften, da gab kein ungeduldiges Lektorat oder gar ein Jubiläumsjahr den Takt vor. Dass das Manuskript langsam wachsen durfte, hat ihm fast nur genützt. Es verschreibt sich keiner gerade modischen Methode oder Terminologie, was seiner Haltbarkeit zugutekommen wird.Wiewohl mit dem aktuellen Forschungsstand vertraut, stützt sich sein Autor doch explizit auch auf Historiker, die hierzulande zuletzt eher aus dem Blick geraten sind, beispielsweise den viel zu jung verstorbenen Volker Press, dessen frühe Arbeiten die Erforschung des Reichsverbandes methodisch wie inhaltlich auf ein neues Niveau gehoben haben; die Rückblicke ins ausgehende Mittelalter verdanken viel den trefflichen Arbeiten von Ernst Schubert. Press, der Reichskenner mit dem Faible für tausend landesgeschichtliche Verästelungen; Schubert, der Landeshistoriker mit dem weiten Blick aufs Große und Ganze der deutschen und europäischen Geschichte: Sind sie auch deshalb wichtige Gewährsleute Whaleys, weil sie so gern die Nahtstellen (zwischen Landes- und Reichsgeschichte, zwischen politischer und Kulturgeschichte) inspizierten? Whaleys Monografie jedenfalls akzeptiert solche angeblichen Grenzen, die ja im Zeichen zunehmender Spezialisierung für einen Einzelnen immer unübersteigbarer zu werden scheinen, keinesfalls.
Joachim Whaley versucht Deutschlands Vormoderne nicht von einigen zentralen Knotenpunkten her in den Griff zu bekommen und deshalb gleichsam grob gerastert zu präsentieren (was ja, insbesondere in der noch recht jungen Gattung des »Studienbuchs«, etwa für Bachelor-Studenten, durchaus legitim ist), er breitet einen gleichmäßig dicht gewebten Teppich aus. Es handelt sich wirklich um eine Gesamtdarstellung: eine Darstellung nämlich, die alle nennenswerten Ereignisse und Prozesse in Deutschlands Früher Neuzeit anspricht, prägnant umreißt, konzise einordnet. Eine ähnlich umfangreiche, dichte, präzise und durchdachte Gesamtdarstellung gab es bisher auch in Deutschland nicht.
Whaleys »Germany and the Holy Roman Empire« ist die wichtigste Veröffentlichung eines englischen Historikers zur vormodernen deutschen Geschichte seit Jahrzehnten; dass man sie nun zeitnah übersetzt hat, wird auch den deutschen Buchmarkt sehr bereichern.
Axel Gotthard