Читать книгу Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien - Joachim Whaley - Страница 24
12. Die »Luthersache« und der Reformator, 1517–1519
ОглавлениеDer späteren protestantischen Tradition galt der 31. Oktober 1517 als der Tag, an dem die Reformation begann. An diesem Tag soll Luther seine 95 gegen den Ablasshandel gerichteten Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt und damit den deutschen Aufstand gegen Rom losgetreten haben. Tatsächlich aber ist es eher unwahrscheinlich, dass ein solches Ereignis stattgefunden hat. Zwar verbreitete sich der Inhalt der Thesen schon im November 1517 mit erstaunlicher Geschwindigkeit im Reich, doch scheint klar, dass Luther selbst dafür nicht verantwortlich war.
Auch dass Luther diese Thesen schrieb und am 31. Oktober an den Erzbischof von Mainz schickte, war nicht der erste aufrührerische Akt einer geplanten Rebellion.Vielmehr war es die außerordentlich heftige Reaktion der Kirchenoberen, die Luther während der nächsten beiden Jahre zum Ketzer stempelte. Im Sommer 1519 brachte ihn das an einen Punkt, den er 1517 noch für undenkbar gehalten hätte: In seiner Disputation mit Eck in Leipzig verteidigte er öffentlich einige Ideen des böhmischen Ketzers Jan Hus und erklärte, dass sogar Kirchkonzilien irren könnten. Dieser öffentlichen Kritik an kirchlicher Autorität folgten noch radikalere Handlungen des Widerstands, der spektakulärste in Wittenberg am 10. Dezember 1520, als Luther öffentlich die päpstliche Bulle Exsurge Domine verbrannte, in der der Papst Luthers Schriften als ketzerisch verurteilt und den Widerruf gefordert hatte.
Durch die Dämonisierung Luthers seitens der Kirche wurden zwei entscheidende Prozesse in Bewegung gesetzt. Zum einen entwickelte Luther selbst nun die grundlegenden Lehrsätze seiner Theologie systematischer und brachte sie deutlicher formuliert zum Ausdruck. Viele Überzeugungen hatten sich schon vor 1517 gebildet, kristallisierten sich aber erst danach als Alternative zum alten Glauben heraus. Ja, es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, dass Luther seine große Entdeckung, der reformatorische Durchbruch zur Lehre der sola fide (der Rechtfertigung durch den Glauben allein), erst jetzt wirklich zu Bewusstsein kam. Dieser Grundsatz beendete seine langwährende persönliche Krise und legte das Fundament für seine späteren theologischen Auffassungen. Zum anderen erfuhr er nachdrückliche Unterstützung von vielen verschiedenen Seiten. Als das Wormser Edikt im Mai 1521 über ihn die Reichsacht verhängt hatte, war er schon eine charismatische Persönlichkeit mit Massen an Gefolge.
Aus Luthers Entwicklung vor 1517 lässt sich so ein Ergebnis nicht schlüssig ableiten.1 Luther wurde am 10. Oktober 1483 in Eisleben (Grafschaft Mansfeld) in eine aufstrebende Familie geboren. Der Vater war bäuerlicher Abkunft. Als ältester Sohn war er durch das den jüngsten begünstigende Erbfolgerecht von der Übernahme des väterlichen Betriebs ausgeschlossen, also fing er als Arbeiter in den lokalen Kupfer- und Silberminen an, heiratete dann die Tochter einer etablierten Eisleber Bürgerfamilie und wurde schließlich ein mäßig erfolgreicher Unternehmer in der Kupferverhüttung. Selbst auf der Höhe des Mansfelder Kupferbooms war der Lebensunterhalt eines Hüttenmeisters, der die Schmelzhütten von den Mansfelder Grafen gepachtet hatte, relativ unsicher und hing vom Kapital und dem Vermarktungsgeschick der großen Handelsgesellschaften ab. Dennoch konnte der Vater bescheidenen Wohlstand und einen Status erreichen, der ihm Kontakte zu den Juristen wie Beamten von Mansfeld und Städten im benachbarten Sachsen sicherte. Auch weckte das in ihm den Ehrgeiz, seinem ältesten Sohn als Vorbereitung auf eine juristische Karriere Bildung zukommen zu lassen.
Über Luthers frühe Schulbildung in Mansfeld, Magdeburg und Eisenach ist wenig bekannt. Immerhin scheint er in Magdeburg bei den Brüdern vom Gemeinsamen Leben und in Eisenach bei einer für ihre Frömmigkeit und Unterstützung des örtlichen Franziskanerklosters bekannten Familie gewohnt zu haben. Zwar sind keine herausragenden schulischen Leistungen von ihm überliefert, doch reichten sie aus, um ihn 1501, im Alter von 18 Jahren, in die Universität Erfurt eintreten zu lassen. Erfurt, mit 20.000 Einwohnern eine der größeren deutschen Städte, gehörte zum Territorium Thüringen des kurfürstlichen Erzbischofs von Mainz. An der fünftältesten deutschen Universität also studierte Luther als Vorbereitung auf das Jurastudium vier Jahre lang die freien Künste. Zwar gab es damals in Erfurt auch bereits Anfänge des Humanismus, doch scheint Luther damit kaum in Kontakt gekommen zu sein. Seine Studien galten der traditionellen Scholastik, den er hauptsächlich in der Form des von Wilhelm von Ockham (*um 1285, †um 1349) vertretenen Nominalismus kennenlernte. Damit erhielt er eine gründliche Ausbildung in Logik und Argumentation sowie im nominalistischen Denken, das in Philosophie und Theologie die Grundlage der via moderna bildete und die alten Gewissheiten des Realismus radikal infrage stellte.
Der Konflikt zwischen den beiden Universalienlehren entsprang einer jeweils unterschiedlichen Auffassung von Erkenntnis und Sprache. Die Realisten meinten, dass sich Wörter oder Begriffe direkt auf die von ihnen bezeichneten Dinge bezögen und dass alle Begriffe universelle Gültigkeit oder Realität besäßen, die der Mensch zu erkennen vermöge. Insofern können Gott, Wahrheit oder Gerechtigkeit als Realien vom Menschen mittels des kirchlicherseits angehäuften Wissens begriffen und von der Kirche auch mit einiger Gewissheit gelehrt werden.
Aber der Nominalismus war, wie Richard Marius bemerkt, »der Dekonstruktivismus der damaligen Zeit«.2 Ockham und seine Schüler verneinten die unabhän- gige Existenz von Allgemeinbegriffen. Wörter könnten sich nur auf spezifische Dinge beziehen, während wir von Dingen, die nicht spezifisch seien und nicht direkt von uns erfahren werden könnten, kein sicheres Wissen erlangen könnten. Damit sollte betont werden, dass Gott nicht durch universelle Ideen festgelegt werden kann, sondern frei und allmächtig ist und für den Menschen von Grund auf ein Mysterium bleibt.Was wir von Gott wissen, beruht auf dem, was er uns zu enthüllen bereit ist. Unsere Vernunft kann uns nur dabei helfen, jene Kenntnisse zusammenzufügen, die uns durch unsere spezifischen Erfahrungen vermittelt wurden.Wir können aufgrund dieser Erfahrungen zwar annehmen, dass Gott existiert, doch können wir seine Existenz nicht aus der Schöpfung schlüssig deduzieren. Das Wissen um die letzten göttlichen Wahrheiten oder um Probleme wie das Weiterleben der Seelen nach dem Tod hängt von Offenbarung und Glauben ab.
Luther lernte durch den Nominalismus Logik und Argumentation, aber die Lehre stürzte ihn auch in ein System von Ängsten und Zweifeln. Denn Ockhams Denken schloss die Möglichkeit ein, dass Gottes Wille unvorhersehbar oder dass das, was wir von ihm zu wissen meinen, falsch sein könnte.3 Das schuf Raum für intensive persönliche Ängste und machte die Kirche schließlich potenziell angreifbar. Legte man das Gewicht auf Offenbarung, setzte man implizit darauf, dass die Kirche diese richtig übermittelte und interpretierte. Für Ockham waren die kirchlichen Lehren unfehlbar, aber viele seiner Nachfolger hatten die Vorstellung, Rom repräsentiere die wahre Kirche, infrage gestellt. Rom hatte die Lehren von Wyclif und Hus überstanden, aber war weiterhin dem Vorwurf ausgesetzt, seine zunehmend weltlich orientierte Hierarchie habe mit einer lebendigen Nachfolge Christi nichts zu tun. Ebenso wichtig war die Frage der Interpretation. Die mittelalterliche Theologie war von geradezu unendlicher Vielfalt und um 1500 hatte die humanistische Textkritik einen Weg zum Verständnis der Bibel gewiesen, der zumindest potenziell auf jede Anleitung durch die Kirche verzichten konnte.4
Zwar lässt sich nicht nachweisen, dass solche Gesichtspunkte für Luthers geistige Entwicklung in diesem Stadium eine Rolle spielten, doch waren bestimmte Elemente von Ockhams Philosophie für sein späteres Denken maßgebend. Das entwickelte sich jedoch erst nach seiner Magisterprüfung, als ein dramatisches Bekehrungsereignis ihn das Rechtsstudium aufgeben und in ein Kloster eintreten ließ. Als er am 2. Juli 1505 von Erfurt nach Mansfeld unterwegs war, geriet er in ein heftiges Unwetter und wurde von Todesangst gepackt. Er gelobte bei der heiligen Anna, Mönch zu werden, falls sie ihm helfe. Sodann fühlte er sich dem mönchischen Leben verpflichtet und trat bald nach diesem Erlebnis in das Kloster der Augustinereremiten in Erfurt ein.
Luther beendete das Noviziat bereits nach einem Jahr. Im April 1507 wurde er zum Priester geweiht und begann mit seinen theologischen Studien. Ab diesem Zeitpunkt entwickelte sich seine Laufbahn in dreierlei Weise, wobei er jedes Mal von der Schirmherrschaft seines mächtigen Gönners profitierte. Das war Johannes von Staupitz, Provinzial der sächsischen Provinz der Augustiner, Generalvikar der deutschen Kongregation und, zusammen mit Friedrich dem Weisen, 1502 Gründer der Universität zu Wittenberg, deren erster Theologieprofessor er wurde.5 Zunächst bewegte sich Luther in seinem Studium gleichmäßig von einem universitären Grad zum nächsten, bis er (außerordentlich schnell, wiederum dank Staupitz) 1512 zum Doktor promoviert und daraufhin Staupitz’ Nachfolger wurde. Professor der Theologie blieb er bis ans Ende seines Lebens. Sodann wurde Luther als Mönch 1512 Subprior im Kloster der Augustiner zu Wittenberg und Vikar für zehn Klöster in Meißen und Thüringen. Und schließlich übernahm er ab 1513 reguläre pastorale Pflichten: Er wirkte als Prediger im Augustinerkloster und in der Stadtkirche von Wittenberg.6
Das waren Jahre beruflichen Erfolgs in dem fortschrittlichen und reformorientierten Bereich der deutschen Kirche. Von Unzufriedenheit oder Rebellion gab es keine Spur. Selbst ein Besuch in Rom 1510 aus Anlass eines internen Rechtsstreits zwischen den sächsischen Augustinern hatte keinen nachhaltigen Einfluss auf seine Ansichten. Seine Vorlesungen und frühen Schriften zeigen ihn als bewussten und scharfen Kritiker kirchlicher Laster und Missbräuche, die vor allem in den oberen Rängen der Hierarchie grassierten.7 Aber Luthers Anschauungen standen im Einklang mit denen anderer reformorientierter Geistlicher seiner Zeit, und es hat seine Bedeutung, dass er zugleich die Arroganz zum Beispiel der Hussiten verurteilte, die »die bösen Christen« verlassen hätten. Im Gegensatz dazu war Luther ein Kritiker, der sich leidenschaftlich für die Sache der Kirche einsetzte.8
Allerdings waren diese Jahre auch durch periodisch auftretende persönliche Krisen geprägt, die Luther selbst als »Anfechtungen« bezeichnete. Er entwickelte eine Theologie, die zumindest teilweise ein fortwährendes Bemühen war, seine seelischen Turbulenzen in den Griff zu bekommen. Die intensive Todesfurcht, die seine Bekehrung von 1505 ausgelöst hatte, machte alle Anstrengungen, sich in die Routine des mönchischen Lebens zu fügen, immer wieder zunichte. Er wurde seiner Versuchungen nicht Herr und zugleich suchte ihn ein Gefühl von Sinnlosigkeit und persönlicher Unzulänglichkeit heim. Er konnte nichts tun, um sich von diesen Gefühlen zu befreien; keine noch so umfangreiche Buße konnte seine Sünden auslöschen und selbst der Gedanke, eine vollständige Beichte abgelegt zu haben, rief nur Stolz hervor, eine weitere Sünde.9
Entsprechend groß war Luthers Furcht, von Gott verurteilt zu werden. Die Lösungen, die Luthers Mentor Staupitz und die in Wittenberg dominierende akademische Theologie anboten, waren im Wesentlichen die der Devotio moderna, die Staupitz in Tübingen zwischen 1497 und 1500 bei den Schülern von Gabriel Biel und den Brüdern vom Gemeinsamen Leben kennengelernt hatte. Einerseits besagte die Prädestinationslehre, dass Gott, unbekannt und geheimnisvoll, wie er sei, einige zur Errettung, andere zur Verdammnis bestimmt habe. Da Gott jedoch seine Entscheidungen uns nicht mitteile, müssten die Rechtgläubigen leiden, doch dagegen helfe nur der Glaube selbst. Andererseits hatten die Menschen eine begrenzte Fähigkeit, durch gute Werke auf ihre Erlösung hinzuwirken.10
Die Vorlesungen über die Psalmen und die Briefe des Paulus, die Luther zwischen 1513 und 1517 hielt, befassten sich eingehend mit diesen Problemen und führten zu einer erstaunlichen Alternative. Unter Berufung auf Augustinus’ Lehre von der inneren Sündhaftigkeit des Menschen gelangte Luther zu der Auffassung, dass der Mensch nicht durch gute Werke Gottes Gnade teilhaftig werden könne. Zum rechten Glauben komme er nur, indem er Gottes Urteil in Demut und Selbsterniedrigung annehme. Wie Christus am Kreuz müsse der Mensch erst vernichtet werden, bevor er errettet werden könne. Vor seiner Errettung sei er zugleich Gerechter und Sünder und unbedingt abhängig von der göttlichen Gnade. Zwar entstanden diese Ideen im Dialog mit der scholastischen Theologie, doch las Luther zu jener Zeit auch den Mystiker Johann Tauler (*um 1300, †1361), dessen Schriften für ihn die Bedeutung des Glaubens, der unmittelbaren Beziehung zwischen Gott und Mensch ohne vermittelnde Institution, bekräftigten. Tatsächlich behauptete Luther, seine Ideen in den Schriften der Mystiker wiedererkannt zu haben.11
In dem Maß, wie Luther seine Theologie der Demut entwickelte, verstärkten sich seine Zweifel am Wert der mönchischen Lebensweise. Er kritisierte nun die konventionelle Frömmigkeit sowie das Zeremoniell um die Sakramente und schließlich beschuldigte er sogar die scholastischen Theologen, sie würden den religiösen Sinn der Christen durch Lehren vergiften, die falsche Tröstungen und Hoffnungen verbreiteten. 1516 griff Luther in einer universitären Disputation öffentlich die meisten Lehren der via moderna an, also genau der Doktrin, die er unterrichten sollte. Im folgenden Jahr veröffentlichte er kurz vor Beginn der Ablasskontroverse eine vernichtende Kritik der scholastischen Theologie, wobei es ihm vor allem um den Widerspruch zwischen Paulus’ pessimistischer und Aristoteles’ optimistischer Einschätzung der moralischen Fähigkeiten des Menschen ging.
Das gleiche Problem bestimmte dann auch Luthers Einstellung zum Humanismus. Gern benutzte er Erasmus’ Ausgabe des Neuen Testaments in griechischer Sprache und andere Werke humanistischer Gelehrsamkeit. Aber in der Auseinandersetzung damit wurde ihm deutlich, wie häufig er zu ihren Auffassungen im Widerspruch stand. Vor allem gefiel ihm das Ethos der humanistischen Untersuchungen nicht, so lehnte er den verächtlichen Tonfall der Dunkelmännerbriefe ab; seine Kritik an der Kirche kam von innerhalb ihrer Hierarchie. Aber es gab auch ein grundlegenderes Problem: Luther lehnte den Humanismus aus den gleichen Gründen ab wie die Scholastik; in seinen Augen machten sich beide des Pelagianismus schuldig, das heißt der optimistischen Auffassung, der Mensch könne von sich aus zu seiner Erlösung beitragen.12 Luthers Auseinandersetzung mit Erasmus über dieses Thema, veröffentlicht als Korrespondenz von Flugschriften, vollzog sich erst 1524–1525. Doch beruhte die Leugnung des freien Willens auf Ansichten, die Luther zwölf Jahre zuvor entwickelt hatte, sodass ein anfängliches Bündnis zwischen Reformation und Humanismus bestenfalls oberflächlich gewesen sein kann.13
Luthers strikt antischolastische Ideen erhöhten seinen Bekanntheitsgrad, brachten ihm größere Hörerzahlen als den scholastischen Professoren und vermehrten die Gefolgschaft unter seinen Kollegen. Aber sie machten ihn nicht zum Ketzer. Die wesentlichen Elemente der Reformationstheologie waren 1517 bereits ausgearbeitet, doch bildeten sie noch keine neue Theologie, die mit der Kirche in Konflikt geraten konnte. Luther selbst erkannte die volle Bedeutung seiner Ideen erst später; 1517 war er noch, wie er sich später erinnerte, ein verrückter Papist, der bis zum Hals in den Dogmen der kirchlichen Lehre versunken war.14 Selbst die Kritik am Ablasshandel wurde anfänglich auf völlig unspektakuläre Weise vorgetragen, denn das Problem stellte sich Luther zunächst als ein seelsorgerisches dar. Manche Mitglieder seines Wittenberger Kirchspiels reisten über die Grenze ins nahe Territorium des Erzbischofs von Mainz, um dort die vom Dominikanerprediger Johann Tetzel angepriesenen Ablassbriefe zu erwerben. Dann kehrten sie nach Wittenberg zurück und baten Luther um Absolution ohne Buße oder Besserungsversprechen. Das konfrontierte ihn mit einem praktischen Beispiel für eines der Hauptprobleme, die sein Gewissen in den letzten Jahren belastet hatten.
Der betreffende Ablass war nur wegen seiner Höhe ungewöhnlich, und er war delikat, was das Timing anbetraf.15 Er wurde 1515 als Ergebnis eines Handels zwischen Papst Leo X. und Albrecht von Brandenburg verkündet. Albrecht war im Alter von 24 Jahren Erzbischof von Mainz geworden, nachdem er bereits die Ämter eines Erzbischofs von Magdeburg und eines Administrators von Halberstadt erworben hatte. Der Papst wollte gern den Neubau des Petersdoms fertigstellen und der Erzbischof musste die Schulden bezahlen, die ihm durch seine Wahl und durch den päpstlichen Dispens entstanden waren. Denn das kanonische Recht sah vor, dass Bischöfe älter als 30 Jahre sein mussten, und diesen Passus hatte der Papst außer Kraft gesetzt.
Das rein Kaufmännische ihres Abkommens zeigt sich auch daran, dass der Hauptablassprediger, der Dominikaner Johann Tetzel, von einem Angestellten des Hauses Fugger begleitet wurde, der die Einnahmen aufzeichnete und gleich den jeweiligen Ansprüchen zuordnete. Allerdings war der Gesamtumfang der dubiosen finanziellen Transaktionen zu jener Zeit wohl auch Luther nicht bekannt. Das Geld wurde nämlich zunächst durch die Bank der Fugger bereitgestellt und diese wurde dann bei der Begleichung der Schulden erneut als Abrechnungsstelle genutzt.Was den Skandal recht eigentlich heraufbeschwor, waren regionale politische Empfindsamkeiten: Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen, stand dem Vorgehen des Fürsten von Brandenburg auf seinem Territorium ablehnend gegenüber und verbot daher den Verkauf von Ablassbriefen. Deren Anziehungskraft war aber so groß, dass seine Untertanen gern die paar Meilen nach Zerbst und Jüterbog reisten, um dort ihr Seelenheil zu erwerben.
Tetzels Aktivitäten gaben den Zweifeln Luthers, ob Sündenvergebung wirklich erkauft werden könne, neue Nahrung. Bislang hatte er Schriften gegen den Missbrauch solcher Praktiken verfasst und die Bischöfe aufgefordert, dagegen vorzugehen. Jetzt aber, am 31. Oktober 1517, wandte er sich erneut an seine Vorgesetzten, an Albrecht und an seinen eigenen Bischof, Hieronymus Schultz von Brandenburg. Er wies darauf hin, dass die Menschen in dem Glauben, sie könnten ihr Seelenheil kaufen, in die Irre geführt würden. Zudem schickte er den beiden und auch einigen seiner Kollegen jene 95 Thesen, in denen er seine Besorgnis ausführlich darlegte und theologisch begründete.
Dass er diese Thesen darüber hinaus noch an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg nagelte, ist, wie gesagt, zweifelhaft. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Luther zu diesem Zeitpunkt eine öffentliche Diskussion oder gar Konfrontation anstrebte. Jedenfalls ist unklar, wie es dazu kam, dass die Thesen im Dezember 1517 gedruckt und damit in den folgenden Monaten einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden. Dass dem aber so war, zeigt, wie das Medium Buchdruck eine geistliche Auseinandersetzung, die innerkirchlich vielleicht hätte geschlichtet werden können, zu einem Großthema machte, das Kirche und Reich schon bald in eine tiefe Krise stürzen sollte.
Die 95 Thesen und die Reaktion darauf markierten einen Wendepunkt in Luthers Leben und Laufbahn. Die Thesen selbst waren noch im theologischen Rahmen der traditionellen Kirche formuliert. Luther argumentierte, dass der Papst selbst sicherlich über die falsche Lehre, die in seinem Namen verbreitet wurde, betrübt sein würde. Zugleich jedoch behauptete er, die Autorität des Papstes sei begrenzt. Er habe nur Macht, jene Strafen zu erlassen, die durch ihn selbst oder das kanonische Recht verhängt würden, aber er könne nicht die Vergebung erwirken, die Gottes eigene Sache sei. Noch weniger habe er oder irgendein anderer Geistlicher Macht über die Toten oder könne die im Fegefeuer befindlichen Seelen von ihren Sünden lossprechen. Der Schatz der Kirche sei kein Gnadenspeicher, dessen Inhalt der Klerus verteilen könne, sondern »das hochheilige Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes«, das jedem zugänglich sei.
Auch liege der Reichtum der Kirche nicht in weltlichen Gütern; sie sei vielmehr eine Kirche der Armen. Der Papst benötige das Geld der gewöhnlichen Christen nicht; mit seinem eigenen enormen Reichtum könne er den Bau von Sankt Peter ohne Schwierigkeiten finanzieren. Das Leben des Christen dagegen sei ein Leben fortdauernder Reue, bei dem die Sündenstrafe bis ans Ende währe. Das endgültige Ziel sei der Himmel, doch führe die Berufung zur Nachahmung Christi den Menschen durch alle Strafen, durch Tod und Hölle, hindurch. Die Beichte sei nicht ohne Belang, denn Gott vergebe denjenigen nicht, die sich nicht ihren Priestern als Vikaren unterwerfen. Doch müsse der Ablasshandel und mit ihm das kirchliche System der Strafen infrage gestellt werden.
Luther behauptete später mit einiger Plausibilität, dass er anfänglich weder den Ablasshandel an sich (sondern nur dessen Missbrauch) noch den Papst habe angreifen wollen.Vieles an den Thesen war provokativ und manches (zum Beispiel die Idee einer Kirche der Armen oder die Infragestellung der päpstlichen Autorität) sogar leicht ketzerisch. Doch hätten Luthers Ausführungen wohl nicht solche Bedeutung erlangt, wenn ihnen nicht solche Publizität zuteilgeworden wäre. Ende Dezember nämlich zirkulierten die Thesen bereits in verschiedenen Druckversionen im gesamten Reich. Es gab wachsende Unterstützung und, in vielleicht noch höherem Maß, eine enorme Neugier, wie die Kirche darauf reagieren würde. Die beiden Bischöfe, an die Luther sich anfänglich gewandt hatte, verhielten sich vorsichtig. Dagegen gingen Tetzel und sein Orden sehr schnell in die Offensive: Luther wurde der Ketzerei à la Wyclif und Hus beschuldigt. Im Januar 1518 musste Rom sich mit der ersten Beschwerde befassen und im Februar erhielt Luther über seinen Orden einen Verweis der Kurie.
Diese wütende Reaktion zwang Luther, seine Ideen klarer darzulegen, wobei es sein Ziel war, die Übereinstimmung seines Denkens mit der Orthodoxie nachzuweisen. Das Ergebnis war jedoch die Grundlage für eine neue Theologie. Später beschrieb Luther den Augenblick, als er Gottes Gerechtigkeit entdeckte, als dramatischen Durchbruch bei seinen Studien im Turm des Wittenberger Klosters.
Ein genaueres Datum nannte er jedoch nicht, und das hat unter den Gelehrten große Diskussionen ausgelöst, wobei die Ausführungen von einem frühen Zeitpunkt um 1508 bis zu einem späten um 1520 reichen. Ein Datum vor 1517 würde dem Bild des einsamen Mönchs entsprechen, der eine Gewissenskrise durchlebt, die ihn zum Schritt in die Öffentlichkeit und schließlich zur Konfrontation mit Rom im Alleingang zwingt. Damit ist jedoch kaum zu verstehen, warum er in seinen Wittenberger Vorlesungen vor 1517 gerade jene Probleme weitgehend im Hintergrund lässt, die später zu den Kernpunkten seiner Theologie werden sollten.Vieles Spätere war ja in den Vorlesungen schon implizit vorhanden oder wurde in ihnen entwickelt. Erst die wütende Ablehnung der in den Thesen erläuterten Ideen durch Tetzel und seine Kollegen und ihre Beschuldigung, Luther sei ein Ketzer, brachte Luther dazu, sich das, was er als evangelische Wahrheit begriff, klarer vor Augen zu führen. Wahrscheinlich war das eher ein Bewusstwerdungsprozess als jener dramatische Augenblick, den Luther später beschrieb.16
Luthers entscheidende Einsicht entwickelte sich im Frühjahr oder Sommer 1518 und reifte während des folgenden Jahres. Zum ersten Mal konnte er seiner Unsicherheit und Unzufriedenheit mit der kirchlichen Praxis einen tieferen Sinn verleihen. Alles drehte sich um die Interpretation jener Stelle des Römerbriefs (1,17), in der es um die Gerechtigkeit Gottes geht. Seit seinem Eintritt ins Kloster hatte Luther unter dem Gefühl persönlicher Unzulänglichkeit gelitten, hatte ihn der Gedanke bedrückt, dass selbst die sorgsamste Befolgung der klösterlichen Disziplin einen Gott, den er als Rachegott sah, nicht versöhnlich zu stimmen vermochte.
Nun aber sah Luther, dass die »Gerechtigkeit Gottes« etwas ganz anderes bedeutete. Sie war nicht der Hang zum Verurteilen und Verdammen, sondern Gottes bedingungslose Gabe, seine »passive« Gerechtigkeit, in der der Gerechte aus Glauben lebt. Anders gesagt, wird der Mensch nicht von einer unerforschlichen Gottheit für begangene Sünden bestraft, sondern wird als Sünder von einem gnädigen und liebenden Gott rechtschaffen gemacht. Das Leben des Menschen vollzieht sich in fortwährender Reue und zugleich durch die fortschreitende Vergebung der Sünden, die mit dem Tod vollendet ist. Der Mensch wird insofern durch seinen Glauben gerecht(fertigt), nicht durch seine Taten. Glaube und Gnade sind unlösbar miteinander verbunden und den Zugang zu ihnen bietet das Evangelium. Sola gratia, sola fide, sola scriptura, solus Christus – allein durch die Gnade, allein durch den Glauben, allein durch die Schrift, allein durch Christus, darin lässt sich das Wesen von Luthers neuem Verständnis zusammenfassen.17
Weitere Dimensionen eröffneten sich während der nächsten beiden Jahre, als Luther bedrängt wurde, seine Ansichten zu widerrufen. Im April 1518 erläuterte Luther seine Theologie des Kreuzes vor der Kongregation seines Ordens in Heidelberg. Er setzte sie der scholastischen »Theologie der Herrlichkeit« entgegen: die wahre Theologie von Christi Leiden im Gegensatz zur oberflächlichen Theologie, die in den Taten der Menschen die Widerspiegelung von Gottes Werken sah. Im Oktober 1518 wurde Luther in Augsburg von Kardinal Cajetan verhört. Erneut bestritt er explizit die Autorität des Papstes und forderte ein ökumenisches Konzil. Zugleich entwarf er ein Bild der Kirche als einer Gemeinschaft erlöster Christen. Das lief, wie Cajetan sofort bemerkte, auf eine »neue Kirche« hinaus.
Im Juli 1519 führte Luther in Leipzig eine öffentliche Disputation mit dem Ingolstädter Theologen Johannes Eck, der, wie Tetzel, als einer der Ersten die Thesen öffentlich kritisiert hatte. Nun bestritt Luther sowohl die Unfehlbarkeit des Papstes wie auch des ökumenischen Konzils. Wiederholt wurde er der Ketzerei beschuldigt und mit Hus verglichen. Wiederholt bestritt er, ein Ketzer zu sein, verweigerte den Widerruf und lehnte den Vergleich mit Hus ab. Allerdings war er auch nicht bereit, alle Lehren des böhmischen Häretikers zu verdammen. Einiges, so argumentierte er, beruhe, wie seine eigenen Lehren, auf der Bibel und könne daher nicht rechtmäßig von der Kirche verurteilt werden. Das Konzil von Konstanz habe in dieser Hinsicht geirrt.
Die kirchlichen Autoritäten taten sich aus unterschiedlichen Gründen schwer mit Luther. Zum einen war es schwierig, die ihm als häretisch unterstellten Ansichten von den Lehren der spätmittelalterlichen Kirche zu trennen. Zum anderen genoss er beträchtliche Unterstützung und den Schutz hochrangiger Personen. Von Anbeginn stand sein eigener Orden, insbesondere Staupitz, zu ihm. Als er nach Rom vorgeladen wurde, wo er im August 1518 auf die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen eingehen sollte, stand er unter dem Schutz seines Herrschers, Friedrichs des Weisen. Der Kurfürst teilte Luthers Ansichten nicht, sondern tat seine Frömmigkeit in eben jener Zurschaustellung und Verehrung von Reliquien kund, die Luther ablehnte. Auch sprach Friedrich nie mit Luther, sie begegneten einander nur auf dem Reichstag zu Worms 1521. Aber Friedrichs Privatsekretär, Georg Spalatin, sympathisierte mit Luther und bestärkte den Kurfürsten in seiner Entschlossenheit, auf seinem Gebiet die traditionellen Rechte gegenüber der Kirche auszuüben und der Kurie das Recht zu bestreiten, über einen seiner Untertanen zu Gericht zu sitzen.
Diese Bekräftigung gewann besondere Bedeutsamkeit angesichts der speziellen Umstände, die im Sommer 1518 herrschten. Alle Parteien erwarteten den Tod von Kaiser Maximilian. Der Papst benötigte die Kooperation des Kurfürsten von Sachsen, um zu verhindern, dass Karl von Spanien und Burgund Maximilian auf dem Thron nachfolgen würde. Man war in Rom daher nicht willens, ein mächtiges Mitglied des Wahlgremiums vor den Kopf zu stoßen, vor allem, weil man Friedrich den Weisen selbst für einen glaubhaften Kandidaten hielt. Außerdem war seine Unterstützung gefragt, wenn der Reichstag zu Augsburg der gemeinsamen Forderung von Papst und Kaiser nach einer Steuer für die Finanzierung des Kriegs gegen die Türken zustimmen sollte.
Zu dieser Strategie gehörte auch Kardinal Cajetans Versuch, Luther zum Widerruf wenigstens einiger seiner Ansichten zu bewegen. Im Herbst 1518 verfolgte der Kammerherr des Papstes, Karl von Miltitz, eine ähnliche Mission, als er von Rom nach Sachsen entsandt wurde, um Friedrich die Nachricht zu überbringen, der Papst wolle dem Kurfürsten die Goldene Rose, die höchste kirchliche Auszeichnung für einen Laien, verleihen.18 Aber Miltitz machte, wie schon Cajetan, auf Luther keinen Eindruck. Der Kurfürst wiederum war zwar von der Aussicht auf die Auszeichnung sehr angetan und zeigte sich irritiert über die Verzögerung, bis er die Goldene Rose im September 1519 endlich in Empfang nehmen konnte, doch ließ er sich davon in seiner Standfestigkeit nicht beeindrucken und schützte seinen Untertan weiterhin vor dem gerichtlichen Zugriff der Kirche.
Da alle informellen Versuche, Luther zum Widerruf zu bewegen, gescheitert waren, griff man in Rom nun zum Instrument des formellen Vorgehens, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Im Juni 1520 wurde die Bulle Exsurge Domine erlassen, die Luther mit der Exkommunikation drohte, wenn er nicht binnen 60 Tagen seine ketzerischen Ansichten widerriefe. Am 10. Dezember verbrannte Luther die Bulle in Wittenberg zusammen mit den Büchern des kanonischen Rechts und anderen Werken. Am 3. Januar 1521 wurde Luther folglich mit der Bulle Decet Romanum Pontificem (Es gefällt dem römischen Pontifex) förmlich exkommuniziert. Mit ihm traf die Verurteilung auch Ulrich von Hutten, Willibald Pirckheimer und Lazarus Spengler, von denen bekannt war, dass sie Luthers antipapistische Ansichten teilten. Mit dieser Verurteilung machte der Papst das Problem von Luthers Auffassungen zu einem nationalen Thema. Da Luthers eigene Vorgesetzte es nicht geschafft hatten, ihn von seinem Kurs abzubringen, wurde er nun für Kaiser und Reich zu einem politischen Problem. Seine spirituelle Odyssee war im Begriff, eine Bewegung ins Leben zu rufen, die das Reich in seinen Grundfesten erschüttern sollte.
Anmerkungen
1 Die gründlichste Darstellung stammt immer noch von Brecht, Luther, Bd. I. Leppin, Luther, ist eine ausgezeichnete neuere Darstellung.
2 Marius, Luther, 35.
3 Ozment, Age of reform, 61–62.
4 McGrath, Origins, 12–31.
5 Leppin, Luther, 72–89.
6 Brecht, Luther, Bd. I, 150–155.
7 Brecht, Luther, Bd. I, 144–150.
8 Brecht, Luther, Bd. I, 146.
9 Marius, Luther, 59.
10 Leppin, Luther, 75–78.
11 Leppin, Luther, 85–88.
12 Brecht, Luther, Bd. I, 162–165.
13 Lohse, Luther, 72–78.
14 Marius, Luther, 147.
15 Rabe, Geschichte, 212–213; Brecht, Luther, Bd. I, 178–183.
16 Lohse, Luther, 157–160; Cameron, Reformation, 169–173.
17 Blickle, Reformation, 41.
18 Brecht, Luther, Bd. I, 265–273; Ludolphy, Friedrich, 411–413.