Читать книгу Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien - Joachim Whaley - Страница 20
8. Religiöse Erneuerung und die Laienschaft
ОглавлениеWie sehr auch einige Bischöfe versucht haben mögen, Bestandteile des von den Konzilen von Konstanz und Basel entwickelten Reformprogramms umzusetzen, standen ihnen doch große Hindernisse im Weg, die die geistliche Fürsorge erschwerten. Zu den Hauptproblemen zählte die schiere Größe der deutschen Diözesen. So gehörten zu Konstanz 1.700 Pfarrgemeinden, zu Augsburg mehr als 1.000 und selbst das Mainzer Erzdiakonat von Erfurt umfasste noch an die 500 Gemeinden.1 In manchen Diözesen wurden die damit einhergehenden Verwaltungsprobleme noch durch die Abschaffung der Erzdiakonate im 14. und 15. Jahrhundert verschärft. Mit dieser Maßnahme sollte die potenzielle Gefahr gebannt werden, die den Bischöfen durch die mächtigen »territorialen« Erzdiakone (oder Archidiakone) drohte. Allerdings geschah das häufig noch, bevor das System der Weihbischöfe, die an die Stelle der Erzdiakone treten sollten, weit genug gediehen war.2 Darüber hinaus gab es viele Gebiete, in denen weltliche Fürsten versuchten, ihre Geistlichen vor der Autorität der Diözese zu »schützen«, und so noch die wohlmeinendsten provinzialen oder diözesanen Synodalstatuten untergruben.
Weitere Spannungen wurden dadurch hervorgerufen, dass weltliche Regenten sich zwischen den niederen Klerus und die adligen Stiftsherren und Bischöfe drängten. Die gewöhnliche Geistlichkeit war oft wenig erfreut über die Art, in der Schulden, die adlige Amtsinhaber bei der Kurie angehäuft hatten, an die Gemeinden weitergereicht wurden. Genauso ärgerniserregend waren die zahllosen Gebühren und Bußgelder, die von den Bischöfen für alle möglichen Vorkommnisse erhoben wurden, sei es für das Versäumnis von geistlichen Pflichten oder für die Verwendung von Kerzen bei Trauungen zu verbotenen Zeiten. In der Steuererhebung waren die Bischöfe so einfallsreich wie die Päpste. Zudem flossen ihnen beträchtliche Einkünfte aus dem Recht zu, den Geistlichen wie auch den Laien bei bestimmten Sünden (wie etwa Vergehen gegen heilige Objekte, fleischlichen Umgang mit einer Nonne, Sodomie, Bigamie und Hexerei, um nur einige zu nennen) die Absolution zu erteilen. Zugleich übernahmen nicht wenige in den Gemeinden die eher weltlichen Sitten ihrer Vorgesetzten. Die Anhäufung von Pfründen geschah auch auf der lokalen Ebene, während grundlegende geistliche Dienste (Taufen, Trauungen, Letzte Ölungen, Begräbnisse usw.) nur gegen Barzahlung geleistet und Bußgelder mit der Androhung von Exkommunikation bei Nichtzahlung erhoben wurden, was alles Anlass zur Beschwerde bot.
Die Konzentration von zwei oder mehr Pfründen in einer Hand wirkte sich unvermeidbar auf die geistliche Versorgung in den einzelnen Gemeinden aus. Noch stärkere Wirkungen erzeugte die Praxis der Inkorporation, bei der Gemeinden mitsamt ihrem Einkommen einem Kloster, einem Domkapitel oder einem städtischen Hospiz zugeordnet wurden. Solche Einrichtungen versuchten dann zunehmend, ihre Rechte intensiver auszunutzen, als es zuvor die adligen Oberherren getan hatten. Der Pfründner selbst wohnte nicht am Ort und kam oft nur am Sonntag, um die Messe zu lesen. Alle anderen geistlichen Pflichten wurden von Vikaren und Kaplanen versehen, die oft nicht mehr als Arbeiter verdienten. So gab es eine weitere unzufriedene Gruppe von Klerikern und dazu eine für die Basisarbeit unzureichend ausgebildete Schicht.
In manchen Diözesen (wie etwa Konstanz, Straßburg und Worms) waren etwa zwei Drittel aller Gemeinden inkorporiert, ungefähr die Hälfte in Augsburg und am Niederrhein, während in Württemberg die Anzahl der Vikare fünfmal so groß wie die der gewöhnlichen Gemeindepriester war.3 Es kann nicht überraschen, dass diese »Unterschicht« häufig wegen ihres Unwissens kritisiert und darüber hinaus wegen ihrer Angleichung an die Verhaltensweisen der niederen Bevölkerungsschichten verachtet wurde. Vielleicht waren die Beschwerden über Konkubinate übertrieben, doch zeigt die Tatsache, dass in einigen Diözesen die Zahlung von Bußgeldern gegen Priester verhängt wurde, wenn sie mit einer Frau lebten oder diese ein Kind bekam, dass solche Vorfälle weit verbreitet waren.4
Allerdings müssen solche negativen Vorgänge – Ausbeutung von Inkorporationen und unmoralischer Lebenswandel von Klerikern – in umfassenderer Perspektive gesehen werden. Ebenso wichtig waren die vielen Beispiele reformorientierter Gemeinschaften, die sich im 15. Jahrhundert herausgebildet hatten. Praktisch alle religiösen Orden erfuhren Observanz und solche Impulse für eine Rückkehr zu strengeren monastischen Regeln erhielten weiteren Anschub durch Nikolaus von Kues, der 1450–1452 als päpstlicher Legat die deutschen Lande bereiste.5
Zwei Erneuerungsbewegungen sind besonders hervorzuheben. Da ist zum einen die von den Benediktinern betriebene Reform, die von Bursfelde bei Göttingen ausging. Unter der Leitung von Johann Dederoth (†1439) und gefördert vom Herzog von Braunschweig wurde Bursfelde von einem verfallenen Anwesen, das angeblich nur noch von einem Mönch und einer Kuh bewohnt wurde, bis 1500 zum Zentrum eines Netzwerks von mehr als 90 Klöstern in Norddeutschland und der Niederrheingegend bis zum Elsass.6 Vergleichbare Reformaktivitäten gingen von den Benediktinerklöstern in Kastel (Oberpfalz) und Melk (Österreich) aus. Die zweite wichtige Bewegung stellt die augustinische Reform der Windesheimer Kongregation dar.7 Sie war die mönchische Entsprechung zu den Brüdern vom gemeinsamen Leben und breitete sich ab dem frühen 15. Jahrhundert von Köln nach Hessen und Württemberg aus, um schließlich an die 100 Klöster zu umfassen. Wie die Bewegung von Bursfelde legte die Windesheimer Kongregation besonderen Wert auf die strenge Observanz der klösterlichen Regeln. Außerdem betrachtete sie das Studium als zentralen Bestandteil des religiösen Lebens, was manche zu der Vermutung führte, die Kongregation habe der Reformation den Weg geebnet.
Die Art von Erneuerung, die von Bursfelde und Windesheim ausging, fand ihre Entsprechung in vielen anderen Orden8 und auch Laienbewegungen verfolgten vergleichbare Ziele. Zu den wichtigsten gehörten die Brüder vom gemeinsamen Leben, eine Gruppe, die um 1380 von Gert Groote in Deventer gegründet worden war. Dort lebten Kleriker und Laien zusammen und waren dem Gebet und der Wohltätigkeit verpflichtet. Während der nächsten 100 Jahre etablierten sich, vor allem am Niederrhein und in Westfalen, zahlreiche weitere Gemeinschaften, die der Devotio moderna verpflichtet waren. Es handelte sich dabei nicht um Mönche, sondern um Laien, die, wie Peter Dieburg von der Gemeinschaft in Hildesheim formulierte, »mit Frömmigkeit in der Welt leben« wollten.9
Nach 1450 breiteten sich weitere quasimönchische Gruppen aus: Beginen und Begarden (oder Lollarden) oder einzelne Bruderschaften, die häufig mit einem Hospiz oder Hospital verbunden waren. Und dann gab es noch die Dritten Orden der Franziskaner und Dominikaner.10 Einige waren äußerst praktisch ausgerichtet, andere sahen sich eher in der Nachfolge der großen Mystiker des 14. Jahrhunderts (etwa Meister Eckhart oder Johann Tauler). Alle jedoch waren bestrebt, jene ideale Lebensweise zu praktizieren, die Thomas a Kempis in De imitatione Christi (Über die Nachfolge Christi) beschrieben hatte. Dieses Schlüsselwerk der Devotio moderna, das in vielen Abschriften kursierte, bevor es 1473 gedruckt wurde, handelte davon, wie Individuen, die nicht an mönchische Klosterdisziplin gebunden waren, ein der Innerlichkeit geweihtes Leben führen sollten. Denn Mönche und Nonnen lebten gewissermaßen außerhalb der Welt, die frommen Laien innerhalb.11
Zwar wurden diese Gruppen immer einmal wieder der Ketzerei verdächtigt, doch befanden sie sich im Einklang mit der Kirche ihrer Zeit. Sie waren eine der vielen Strömungen im Fluss des Spätkatholizismus, auch wenn sie eher in der Mitte schwammen als am Rand. Jedenfalls stellten sie die Kirche nicht explizit infrage. Dennoch zeigte sich im Anwachsen solcher Laienorganisationen eine untergründige Feindseligkeit gegenüber den formellen Strukturen der Kirche und ein stärker werdender Wunsch nach Emanzipation von einer Institution, der sich die Gesellschaft entfremdet hatte.12
Die Haltung der Laien der Kirche gegenüber war ambivalent.Wohl gab es nach 1450 wachsende Kritik und Feindseligkeit, doch ebenso eine offenkundige Intensivierung des religiösen Lebens der Laien. Davon zeugen nicht nur die Bruder- und andere Gemeinschaften, sondern auch die Formen des Volksglaubens: die kultische Verehrung von Heiligen und ihren Schreinen, die Pilgerbewegungen und manches mehr. Solche Entwicklungen widersprechen der Sichtweise, der zufolge die Reformation aus einem zunehmend radikaler werdenden Antiklerikalismus als Frucht der Mängel und Fehler der spätmittelalterlichen Kirche erwuchs.
Zum einen nämlich scheint die Ablehnung des Papsttums gerade dort am stärksten gewesen zu sein, wo die Reformationsbewegung den geringsten Einfluss ausübte, also in Bayern und im Rheinland.13 Zum anderen fällt ins Auge, dass es zwar Kritik an allem und jedem gab, vom Papst bis hinab zum unwissenden Gemeindevikar, dass aber eine Totalablehnung der Kirche selten vorkam. Um 1500 war auch der Aufstand der radikalen Hussiten bereits Geschichte. Die Utaquisten lebten in Prag in unsicherer Koexistenz mit Rom, während die Böhmischen Brüder, immerhin einige Hunderttausend Gläubige, relativ zurückgezogen in Nordböhmen als potenzielle Opfer von Verfolgung und abhängig von der Protektion durch Adlige, keinesfalls aber als militante Angreifer lebten.14 Obwohl die Brüder die römische Kirche 1467 formell verlassen hatten, blieben sie einigen ihrer Ideale verpflichtet. Und selbst die radikalsten hussitischen Pfarrer, die die Messe »mit Zinnbechern in Scheunen« abhielten, wollten ein besseres Priestertum, anstatt es in Bausch und Bogen zu verwerfen.15 Zudem war das Hussitentum ein auf Tschechien begrenztes Phänomen und übte schon in den Nachbarregionen von Mähren und Schlesien keinen großen Einfluss mehr aus. Allgemein gab es in den deutschen Landen am Vorabend der Reformation weniger Häresie als zu so gut wie jeder anderen Zeit zuvor.
Die teils verbalen, teils physischen Angriffe auf den Klerus hatten ihre Ursachen in etwas Komplexerem als einfacher Ablehnung. Mit der Zeit schälten sich zwei besonders schwerwiegende Vorwürfe heraus. Zum einen hieß es, die Angehörigen des Klerus überschritten ihre Machtbefugnisse. Zum anderen wurde behauptet, ihre Lebensweise sei der Geltung ihres Wirkens abträglich. Die Angst davor, dass von ausschweifenden und sündigen Priestern gespendete Sakramente ungültig sein könnten, war ein in der Beschwerdeliteratur um 1500 häufig geäußerter Vorwurf.16 Beide Punkte geben wichtige Hinweise auf Wesen und Bedeutung des Antiklerikalismus. In ihnen spiegelt sich eine langfristige Veränderung in der Beziehung zwischen Kirche und Gesellschaft, keineswegs aber eine Trennung.
Der erste Punkt betraf die Empörung darüber, dass der Klerus sich in weltliche Angelegenheit einmischen konnte, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.17 Darauf richteten sich die Beschwerden über die Rechtsprechung der geistlichen Gerichte in Rom oder auf der Ebene der Diözesen einerseits und über den Umgang mit Bann, Interdikt und Exkommunikation andererseits.18 Die Kritik entsprang einem auf allen Ebenen wachsenden Bedürfnis nach einer kirchlichen Reform und die Enttäuschung über das Versagen der Konzile veranlasste Laien aller Gesellschaftsschichten, die Angelegenheit selbst anzupacken. Das war lediglich das logische Ergebnis der konziliaristischen Bewegung. Denn dadurch war nicht nur die Autorität der Kirche beschädigt worden, sondern die Bewegung hatte auch die Laienschaft in Gestalt weltlicher Autorität mit einer Schlüsselrolle versehen. Schließlich war es König Sigismund gewesen, der die Initiative für das Konzil von Konstanz ergriffen hatte, und nicht der Papst. Zwar erlitt der Konziliarismus selbst eine Niederlage, aber die Päpste erkannten in den Konkordaten der folgenden Jahrzehnte die Entscheidungsbefugnis der weltlichen Mächte in Kirchenangelegenheiten an.
In den deutschen Territorien führte dies zu einer Reihe von Initiativen seitens einzelner Fürsten, die Regelung kirchlicher Angelegenheiten zu übernehmen. Zum Teil war das rein politisch motiviert und keine neue Erscheinung. So hatte Rudolf von Habsburg erklärt, dass er in seinen Landen Papst, Erzbischof, Bischof, Erzdiakon und Dekan sein wolle. Ähnlich hatte der Herzog von Bayern schon 1367 bestritten, dass »Papst, Kaiser und König« in seinen Gebieten etwas zu sagen hätten.19 Das Diktum »Der Herzog von Kleve ist in seinem eigenen Land Kaiser und Papst« war im 15. Jahrhundert gängige Münze.20
Solche Initiativen konnten unterschiedliche Dimensionen annehmen. Einerseits gab es Fürsten wie die Habsburger und die Kurfürsten von Brandenburg und Sachsen, die die Kontrolle über die Bistümer in ihren Gebieten anstrebten, wobei die Konkordate der 1440er Jahre diesen Bestrebungen das formelle Siegel aufdrückten. Auf diese Weise verloren viele Bistümer ihren kirchenunmittelbaren Status und wurden als »Landesbistümer« weltlichen Regenten unterstellt: So erging es Chur im Schweizer Kanton Graubünden und Gurk in Österreich, Naumburg, Merseburg und Meißen in Sachsen sowie den Bistümern von Brandenburg, Havelberg und Lebus im Kurfürstentum Brandenburg.
Der Einfluss der Herzöge von Mecklenburg auf Schwerin und Ratzeburg war weniger formell, aber deshalb nicht schwächer. Die Kurfürsten der Pfalz konnten zwar Speyer und Worms nicht »kolonisieren«, aber erfolgreich beherrschen, so wie die Herzöge von Bayern bestrebt waren, ihre Interessen bei Bischofswahlen in Regensburg, Freising, Passau und Salzburg durchzusetzen.21 Den Herzögen von Kleve und Jülich-Berg hingegen gelang es nicht, die Kirche in ihren Gebieten der Oberhoheit des Erzbischofs von Köln zu entziehen, und in Hessen schlug ein Versuch der Landgrafen fehl, ein ihnen untergeordnetes Bistum zu errichten. Jedoch war in allen drei Territorien das vorreformatorische Jahrhundert durch den Kampf gegen die höhere geistliche Autorität bestimmt.
Viele Gebiete versuchten auch, die Kontrolle über die Klöster und damit über die in ihnen inkorporierten Gemeinden zu erlangen. Dieses Ziel verfolgten sogar Fürsten wie die Grafen und Herzöge von Württemberg, die es ansonsten vermieden, mit der zuständigen geistlichen Autorität (in diesem Fall dem Bischof von Konstanz) aneinanderzugeraten. Zum Teil gehörte das zum Bestreben, das Ansehen der geistlichen Gerichte zu untergraben und Kontrolle über die kirchlichen Einkünfte zu erlangen, den Klerus selbst der Besteuerung zu unterwerfen. Aber es war auch Ergebnis der Einsicht, dass zwischen einer gut geführten Kirche und einem florierenden Land durchaus ein Zusammenhang bestand.
Ein frommer Klerus verbreitete fromme Lehren. Fromme Lehren kamen der Laienschaft zugute und waren so eine unverzichtbare Ergänzung für bestehende Gesetze und Reglements. Kurz, die Kirchenreform versprach bessere soziale Disziplin. Aus diesem Grund förderten viele Fürsten die Observanzbewegung in ihren Gebieten, indem sie Prüfungen initiierten und Dekrete in Kraft setzten, um Moral und geistliche Praxis des Klerus zu verbessern. In Württemberg beispielsweise erweiterte Graf Eberhard nicht nur seine Patronatsrechte und war bemüht, das gute Predigen praktisch zu fördern. 1477 holte er die Brüder vom gemeinsamen Leben nach Urach und gründete danach weitere Häuser, eines davon, ein typisches, 1491 zu Sankt Peter in Einsiedeln. Dort lebten zwölf Geistliche, zwölf Adlige und zwölf Bürgerliche unter der gemeinsamen Leitung eines Propstes und eines adligen »Verwalters«, um das christliche Gemeinschaftsleben zu praktizieren. Es war ein Mikrokosmos des Gesamtgebiets.22
In jener Zeit versuchten auch die Städte, mit ähnlichen Initiativen Rechtsprechung und Kontrolle über Kirchenorganisationen vor Ort zu erlangen. Reichsstädte wie Augsburg, Nürnberg und Straßburg wollten, oftmals gegen den Widerstand des zuständigen Bischofs, die Geltung ihrer Jurisdiktion auch auf den Klerus ausweiten und sich das Recht sichern, die Berufungen für ihre Pfarrkirchen selbst vorzunehmen. Außerdem übten sie in zunehmend stärkerem Maß die Vormundschaft über alle Arten geistlicher und wohltätiger Institutionen aus, was letztlich auf eine äußerst genaue Kontrolle hinauslief.23 Die Motive und Ziele dieser Vorgehensweise waren keine anderen als die in den Territorien: Die Laienschaft wollte sich der Rechtschaffenheit der Kirche und damit der Reinheit der Sakramente versichern, denn die Laien waren davon überzeugt, dass Stabilität und Wohlstand der Gesellschaft davon abhingen. Darin liegt eine bemerkenswerte Verkehrung der Rollen, denn im Mittelalter hatte lange Zeit der Klerus der Laienschaft die Regeln vorgegeben und ihre Moral überwacht.24 Der grundlegende Trend ging dahin, dass die Laien die Kontrolle über und die Verantwortung für ihre Kirche übernahmen. Diese Verschiebung ist auch an den Gemeinden in Stadt und Land zu beobachten. Häufig genug gab es Gemeinden, die das Recht beanspruchten, ihre Geistlichen selbst zu berufen, oder die, oftmals mit erheblichen Kosten verbunden, die Versorgung mit Predigten oder die täglich zelebrierten Messe finanzierten.25
Die allmähliche Herausbildung einer den Glauben aktiv und selbstbewusst praktizierenden Laienschaft lässt sich auch an vielen anderen religiösen Erscheinungsformen der vorreformatorischen Jahrzehnte beobachten. Die Laien waren weit davon entfernt, sich gegen die Kirche zu wenden; vielmehr begrüßten sie begeistert vieles von dem, was sie bot, und suchten gelegentlich religiöse Ausdrucksweisen, die parallel zur etablierten Kirche, aber außerhalb von ihr, verliefen.
Die Laienfrömmigkeit fand ihren Ausdruck innerhalb der Kirche, als ab 1405 fortwährend neue Messen gestiftet wurden, eine Bewegung, die erst nach 1520 abebbte. In diesen Zeitraum fiel auch die vermehrte Verehrung verschiedener religiöser Phänomene wie der Eucharistie, der Figur des Gekreuzigten, der Jungfrau Maria und einer wachsenden Anzahl von Schutzheiligen. Schon bald erwiesen sich die Kirchen als zu klein für diese neuen Formen des Gottesdienstes und so gab es bald einen regelrechten Bauboom: Neue Kirchen wurden errichtet, alte ausgebaut, um die Altäre und Bilder aufnehmen zu können, die mit der Ausbreitung der Glaubensformen einhergingen. Vom Elsass und Oberösterreich bis nach Holland und dem Baltikum konnte der spätgotische Kirchenbau kaum mit dem Spendeneifer von adligen und bürgerlichen Kongregationen in Stadt und Land Schritt halten.26 Parallel dazu führten die eucharistische Anbetung und die Verehrung der Jungfrau zur Entstehung von Laienbruderschaften. Die erste Rosenkranzbruderschaft – der Rosenkranz selbst scheint von den Kartäusern in Trier nach 1450 erfunden worden zu sein – wurde 1474 mit etwa 5.000 Mitgliedern gegründet. Sie wuchs rasch und soll 1481 bereits mehr als 100.000 Mitglieder umfasst haben.27 Ähnlich populär waren die Corpus-Christi-Bruderschaften.
Andere Phänomene waren mit den traditionellen Formen von Glauben und Gottesdienst nur lose verbunden. Pilgerfahrten zu wundersamen Schreinen und Heiligtümern wie der blutenden Hostie in Wilsnack (Brandenburg) und Sternberg (Mecklenburg), zum Heiligen Rock, der das erste Mal 1512 in Trier gezeigt wurde, oder zu wundertätigen Darstellungen der Jungfrau Maria in Grimmenthal oder Regensburg (wo binnen Jahresfrist nach 1519, als eine solche Erscheinung sich manifestiert hatte, über 100.000 Pilger das Heiligtum besuchten) zeigen, dass die Laien offenbar ihre eigenen Orte zur Verehrung des Heiligen schufen.28 Die Begeisterung, die solche Phänomene oder nur ihre Verkündung auslösten, war der Kirche wie auch den weltlichen Mächten nicht immer genehm, denn sie konnte allzu leicht in Aufruhr umschlagen. So hörte man zum Beispiel 1476 aus dem fränkischen Niklashausen von einem gewissen Hans Böhm, der, ein Trommler und Pfeifer bäuerlicher Herkunft, all jenen die Freisprechung von ihren Sünden predigte, die der Jungfrau Maria huldigten, während er zugleich Klerus und Adel angriff. Er rief so viel Unruhe und Aufregung hervor, dass der Bischof von Würzburg Bewaffnete schickte, um ihn festnehmen zu lassen. Nachdem eine militante Menge vergeblich versucht hatte, ihn zu befreien, wurde er hingerichtet.29
Trotz aller Unterschiede zwischen den Eliten und der Masse der Bevölkerung gibt es im Verhalten von Arm und Reich auffällige Ähnlichkeiten. Allerdings mussten Dorfbewohner ihre Ressourcen zusammenlegen, nur um an der gelegentlich stattfindenden Messe teilnehmen zu können, während Adlige wie Graf Werner von Zimmern 1483 für ein einziges Jahr eintausend Messen bezahlte, die nur für sein Seelenheil gelesen wurden.30 Die gewöhnlichen Leute mussten oft weite Entfernungen zurücklegen, um ein beliebtes Heiligtum zu besuchen, wohingegen ein Fürstregent wie der Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen (1486–1525) sich selbst eines errichten konnte. Nach einem Besuch von Jerusalem 1493 gab er beträchtliche Summen aus, um seine Schlosskirche in Wittenberg umzubauen, damit sie seine mehr als 19.000 Reliquien aufnehmen konnte. Darunter befanden sich Schätze wie der einer Knabenleiche aus dem Kindermord zu Bethlehem, Marias Milch sowie Stroh aus dem Stall zu Bethlehem.31 Ungefähr zur gleichen Zeit sammelte Albrecht von Brandenburg, Kurfürst von Mainz, Reliquien, die ihm 39.245.120 Jahre Absolution garantierten.32
Auch im Hinblick auf den Ablasshandel gab es Übereinstimmung zwischen Kirche und Laienschaft. Obwohl dessen theologische Fundierung umstritten war, wurde der Verkauf von Ablassbriefen im 15. Jahrhundert beim Papsttum immer beliebter.33 Ab 1450, so wurde entschieden, sollten Generalablässe an Jubeljahren (also alle 25 Jahre) verkauft werden. Zahlreiche zusätzliche Formen wurden ausgegeben, so wie der Sonderablass von 1506, der zur Beschaffung von Geldern für den Bau von Sankt Peter in Rom diente. Andere waren für lokale Projekte, bisweilen sogar für den Straßenbau, gedacht.
Zur gleichen Zeit gab es im Ablasshandel auch höchst zweifelhafte Entwicklungen, von denen das 1506 lancierte Geschäft ein besonderes Extrem darstellt. Der Handel wurde im Reich mit der Unterstützung Albrechts von Mainz verbreitet, dem man die Hälfte des Ertrages zusicherte, damit er seine Schulden bei den Fuggern und beim Papst, dem er wegen seiner Erhebung zum Erzbischof verpflichtet war, bezahlen konnte. Die Ablässe, die bei dieser Gelegenheit verkauft wurden, ermöglichten nicht nur, die Absolution zu einem späteren Zeitpunkt bar zu bezahlen, sondern erlaubte den Käufern auch, die posthume Absolution bereits Verstorbener zu erwirken. Gerade diese Kampagne war für die Reformation von grundlegender Bedeutung. Doch sollte man hervorheben, dass zwar spätere Generationen solche Praktiken als korrupt und theologisch verfehlt betrachteten, diese aber dennoch nicht einfach ein Beweis für die wachsende Kommerzialisierung und Degeneration der Kirche sind. Es ging um das Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Luthers Kritik am Ablasshandel kann die Tatsache nicht verdecken, dass der Eifer der frommen Laien, in ihre Seelenrettung zu investieren, für den Erfolg dieser besonderen Form, Geld aufzutreiben, entscheidend war.
Anmerkungen
1 Moraw, Reich, 137.
2 Maier, »Archidiakon«, 136–155.
3 Blickle, Reformation, 28–29.
4 Blickle, Reformation, 30–31.
5 Meuthen, 15. Jahrhundert, 88.
6 Du Boulay, Germany, 207; Heutger, Bursfelde.
7 Kohl, »Kongregation«.
8 Meuthen, 15. Jahrhundert, 88, 165.
9 Du Boulay, Germany, 211.
10 Bailey, »Religious poverty«.
11 Cameron, Reformation, 62–63.
12 Blickle, Reformation, 20; Israel, Dutch Republic, 41–45.
13 Du Boulay, Germany, 205.
14 Cameron, Reformation, 71–74; Rabe, Geschichte, 154.
15 Du Boulay, Germany, 202.
16 Schubert, Spätmittelalter, 268.
17 Du Boulay, Germany, 201.
18 Cameron, Reformation, 27–29; Blickle, Reformation, 32–33.
19 Du Boulay, Germany, 190–191.
20 Moeller, Deutschland, 42; Hashagen, Staat, 550–557.
21 Schulze, Fürsten, 13–45.
22 Schulze, Fürsten, 23–28.
23 Cameron, Reformation, 59–61.
24 Moeller, Deutschland, 43.
25 Blickle, Reformation, 25–26; Blickle, Gemeindereformation, 179–183.
26 Moeller, Deutschland, 37; Moeller, »Frömmigkeit«, 9–10.
27 Schubert, Spätmittelalter, 275–276.
28 Schubert, Spätmittelalter, 282.
29 Franz, Bauernkrieg, 45–52; Cameron, Reformation, 58.
30 Moeller, »Frömmigkeit«, 14.
31 Cameron, Reformation, 14; Ludolphy, Friedrich, 355–359.
32 Moeller, »Frömmigkeit«, 13.
33 »Ablaß«, in TRE, Bd. I, 347–364, bes. 351–355.