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Zwischen Überlebenskraft und Zusammenbrüchen
ОглавлениеGerade wegen dieses verdrängenden Schweigens waren viele paradoxerweise zu einem vollen, nützlichen und produktiven Leben imstande, immer danach strebend, ihre unaussprechlichen Verluste wiedergutzumachen.
Das unbewusste Schweigen diente dazu, den Überlebenden in ihrem Daseinskampf zu helfen. Die Welt nach 1945 forderte von den Zurückgekommenen Verleugnungen zugunsten der Wiederanpassung: „Und tatsächlich haben sie sich angepasst, haben Familien gegründet, haben Karriere gemacht. Und es fehlte ihnen die Zeit zum Sprechen.“21
Forschungsergebnisse der israelischen Sozialmedizin weisen darauf hin, dass man den überlebenden Opfern im Alltag ihre verborgene verschwiegene Last oft nicht ansah.22
Im Gegenteil: Sie wirkten oberflächlich betrachtet oft zäher und abgehärteter als nicht betroffene Zeitgenossen.
Vierzig Jahre nach der Schoah, nach einem abgehärteten Leben, brechen auffallend viele psychisch zusammen und suchen erst am Ende ihres Lebens – wesentlich öfter als andere Gleichaltrige – psychologische Beratung. Sie wollen sich jetzt aussprechen, meiden aber für ihr Anliegen Kliniken und Psychiater.
Der Holocaustüberlebende und Kinderpsychiater David de Levita (geb. 1926) begründet dieses Phänomen so: „Im Laufe der Jahre, nachdem man überlebt hat, halten sich zwei Komponenten die Waage: die Schuld, dass man überlebt hat, und der Triumph, dass man überlebt hat. Im vorgerückten Alter jedoch ist der Triumph dahin. Man steht der unausweichlichen Tatsache des eigenen Todes (ein zweites Mal) gegenüber. Diese Verschiebung ist der zentrale Konflikt des Überlebenden. Man hat in seiner Psyche verinnerlicht, dass man für immer dem Reigen des Todes entsprungen sei. Und jetzt zeigt sich, dass schließlich niemand dem Tod entkommt. So gibt es zwei Sorten von Überlebenden: Den einen geht es im Laufe ihres Lebens besser, weil sich ihr Schuldgefühl verringert. Die anderen brechen nach einer Periode der Latenz zusammen, weil das Gefühl des Triumphierens über den Tod, das sie in Gang hielt, im Angesicht des Todes zusammenschrumpft. Albträume, Angst- und Panikanfälle plagen plötzlich die älteren Leute der ersten Generation, die körperlich kerngesund sind und ein erfolgreiches Leben hinter sich haben. Die Konfrontation mit der Unausweichlichkeit des Todes ist hier am stärksten, stärker als bei der relativ hohen Zahl der Überlebenden, die von körperlichen Erkrankungen geplagt werden. In ihrem Körper ist der Tod gleichsam bereits tätig und die Konfrontation somit weniger plötzlich.“23