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Fehlgeleitetes Gehorsamsverständnis

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Nicht wenige der Täter haben in ihrer Kindheit selbst erlebt, dass Erwachsene willkürlich oder unberechenbar mit ihnen umgegangen sind: Das Ausgeliefertsein ist ihnen insofern nicht fremd. Als Kind mussten sie Gehorsam leisten und bekamen niemals Gelegenheit, diesen zu hinterfragen. Somit konnten sie kein gesundes Verhältnis zum Thema Gehorsam entwickeln.

Kinder lernen im frühen Lebensalter Gehorsam, damit sie zunächst einmal ungefährdet heranwachsen und später zunehmend Selbstbestimmung erlernen können. Ab einem bestimmten Alter aber beginnt eine Fehlentwicklung, wenn man einem Kind nicht die Freiheit zum straflosen Hinterfragen gibt. Wer früh lernt, den Gehorsam über die eigene Person und die eigenen Gefühle zu stellen, kann keine eigene autonome Persönlichkeit entwickeln und schiebt später die Verantwortung für das Böse der übergeordneten Person zu. Menschen, die so erzogen wurden, können perfekt mit dieser delegierten Verantwortung leben. Die Bandbreite der somit erreichten „Schizophrenie“ reicht von der willenlosen Abspaltung der Gefühle bis hin zur pervertierten Gewaltbereitschaft. Vor dem Hintergrund eines gebrochenen Verhältnisses zum Thema „Gehorsam“ und der Abspaltung von Gefühlen vereinigen diese Menschen in sich Gesinnungen, die mit dem gesunden Menschenverstand niemals vereinbar sind.

Hält man sich diese Überlegungen vor Augen, dann waren die Verantwortungsträger im Dritten Reich oft durch ihre so geartete, gespaltene Gefühlswelt für ihr heute so schwer nachvollziehbares Verhalten vorbelastet. Aus nicht hinterfragtem Gehorsam als oberstem Wert praktizierten sie im öffentlichen Leben eine andere Moral als zu Hause, ohne sich dieser Schizophrenie bewusst zu sein. Öffentlich überließ man die Bewertung der Moral der Obrigkeit, der man zu Gehorsam verpflichtet war. Nur im Privaten wurden die Werte ausgelebt, die dem normalen Moralkodex entsprachen. Die Widersprüchlichkeit verdrängte man. Der Gehorsam zum Führer als oberste nicht überbietbare und nicht hinterfragbare Gewissensinstanz bewirkte diese Spaltung, dass Menschen, die im privaten Bereich durchaus moralisch lebten, in ihrer politischen Karriere buchstäblich über Leichen gehen konnten.49

Ein Einfallstor für fehlgeleiteten Gehorsam ist die Minderwertigkeit. Ein Mensch, der sich seines Wertes und seiner Identität nicht sicher ist, ist gefährdet. Minderwertigkeit ist auch immer ein Türöffner für Anmaßung und Selbstüberschätzung. Zur Erhaltung dessen, worauf sie endlich stolz sein zu können vermeinen, sind diese Menschen geneigt, Dinge zu tun, die sie unter normalen Umständen nicht tun würden: Den Gehorsam hinterfragen sie nicht, wenn er ihnen Vorteile bringt. Aus der Minderwertigkeit heraus werden dann Rangordnungen erstellt, die definieren, was der Einzelne wert ist. Der Schritt von der Klassifizierung von Menschen bis zu ihrer Entwürdigung, zur Definition von Herren- und Sklavenrassen, ist klein. Die eigene Minderwertigkeit kann also in eine solche Anmaßung führen, dass in Kategorien von Herren- und Sklavenrassen, von lebenswertem und lebensunwertem Leben, gedacht wird. Es wird bestimmt, welches Leben gefördert und welches eliminiert werden muss, weil es krank, schwach oder fremd sei.

Die Autobiografie des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß verdeutlicht, dass es pflichtbewusste, autoritätsgläubige und zum gehorsamen Dienen erzogene Menschen waren, die sich einreden ließen, die Beseitigung von Millionen von Menschen würde einen Dienst an Volk und Vaterland bilden. Höß, ein durchschnittlicher Mensch, nicht bösartig, sondern ordnungsliebend, pflichtbewusst und ausgesprochen moralisch, gibt uns ein Beispiel dafür, dass auch private Integrität nicht vor Inhumanität bewahrt, sondern pervertiert und in den Dienst eines kollektiven Wahnsinns gestellt werden kann, ohne dass der Einzelne der Unmoralität seines Handelns gewahr wird. Gerade hierin besteht der Nährboden für den scheinbar unerklärlichen Fanatismus, mit welchem sich der Mensch, ohne es zu bemerken und ohne dabei dem privaten Moralkodex untreu zu werden, in den Dienst eines ‚höheren‘ Auftraggebers stellen kann, der ihn missbraucht.50

Höß zelebrierte mit seiner Familie jeden Morgen die Morgenandacht und hatte einige Tage lang Depressionen, nachdem seine Katze gestorben war (nachzulesen in seinen Tagebüchern), während er in seinem Berufsalltag die grauenhaftesten Hinrichtungen ohne jegliche Gewissensbisse mitverantwortete. Viele Naziverbrecher haben in Nürnberg und vor Gericht ausgesagt, sie hätten nur ihre Pflicht getan. Der einzelne Täter floh damit quasi in die Kinderrolle. Er stellte sich in den Schutz des „Übervaters“.

Auch Eichmann brachte dieses Selbstverständnis zum Ausdruck: „Ich war nichts anderes als ein getreuer, ordentlicher, korrekter, fleißiger und nur von idealen Regungen für mein Vaterland, dem anzugehören ich die Ehre hatte, beseelter Angehöriger der SS und des Reichssicherheitshauptamtes … “51

Mit dem Beginn des Dritten Reichs wurde die deutsche Gehorsamstugend für pervertierte Ziele missbraucht. Die meisten Deutschen waren sich dieses Mechanismus nicht bewusst. So gerieten die sittlichen Grundbegriffe ins Wanken. An ihre Stelle traten nun aus pervertiertem Gehorsam entweder selbstquälerische Skrupel, die nie zur Tat führten (Mitläufer), oder aber verantwortungslose Skrupellosigkeit. Gerade die gehorsamen und pflichtbewussten Bürger wurden so zu Tätern. Sie haben Menschen ausgepeitscht, ausgehungert, ihnen Schmerzen zugefügt, sie auf Todesmärsche geschickt, sie mit Gewehrkolben niedergeschlagen, eingesperrt, in Ghettos gepfercht, bombardiert. Sie haben Mütter mit ihren Kindern auf den Armen erschossen.

Hitler selbst stand Pate für das übergeordnete personale Gewissen. Ihm gegenüber war blinder Gehorsam gefragt. Gegenüber dieser Gehorsamspflicht wurde das subjektive Gewissen als zweitrangig eingestuft. Der „Führer“ konnte ja nicht irren.

Aus diesem uneingeschränkten Glauben an die Unfehlbarkeit des Führers heraus konnte Rudolph Höß in seinen autobiografischen Aufzeichnungen vermerken: Ich habe auch beobachtet, dass Frauen, die ahnten oder wussten, was ihnen bevorstand, mit der Todesangst in den Augen die Kraft noch aufbrachten, mit ihren Kindern zu scherzen. Eine Frau trat einmal im Vorbeigehen ganz dicht an mich heran und flüsterte mir zu, indem sie auf ihre vier Kinder zeigte, die sich brav angefasst hatten, um die Kleinsten über die Unebenheiten des Geländes zu führen: ‚Wie bringt Ihr das nur fertig, diese schönen, lieben Kinder umzubringen? Habt Ihr denn kein Herz im Leibe?‘ … Ich erlebte auch, dass eine Frau aus der Kammer beim Zumachen ihre Kinder herausschieben wollte und weinend rief: ‚Lasst doch wenigstens meine Kinder am Leben.‘ So gab es viele erschütternde Einzelszenen, die allen Anwesenden nahegingen. Im Frühjahr 1942 gingen Hunderte von blühenden Menschen unter den blühenden Obstbäumen des Bauerngehöftes, meist nichtsahnend, in die Gaskammern, in den Tod.52

Der Kadavergehorsam des nationalsozialistischen Mitläufertums war der gesamtgesellschaftliche Ausdruck von Strukturen, die in der Familie und ihren patriarchalischen Erziehungsformen bereits angelegt waren.

„In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Erziehung von der als selbstverständlich geltenden obersten Sekundärpflicht des Gehorsams bestimmt. Ziel waren Anpassung und Unterwürfigkeit unter die jeweils gegebenen herrschaftlichen Strukturen in allen Bereichen der Gesellschaft, und Ungehorsam sollten schon die Kinder als Schuld erleben. Dazu diente die ‚schwarze Pädagogik‘, die Dressur der ‚von Kindesbeinen an bösen‘ Raubtiere mit Zuckerbrot und Peitsche, in der Regel durch den Vater, der auch juristisch berechtigt war, seine Kinder und seine Frau zu schlagen. So gab er weiter, was er selbst als Kind erfahren hatte: Schmerz, Trauer, Vertrauensverlust, Entwürdigung, Schuldgefühle und Angst, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Durch solche Beschämungen und Kränkungen wurden Trotz, Verstocktheit, Verbitterung, Hass, Rache und Rohheit begünstigt oder gar geschaffen, die sich dann auswirkten, wenn die ursprünglichen Opfer Gelegenheit bekamen, selbst zu Tätern zu werden. So wurde auch ich mit Rohrstock zu Hause und in der Schule erzogen, und man marschierte im Gleichschritt in der Hitlerjugend mit … Als Kind hatte ich ja – wie schon mein Vater – Mitgefühl nicht erlernt oder durch Schläge verlernt. Barmherzigkeit war schon vorher in der bürgerlichen Gesellschaft kein Wert und wurde im ‚Dritten Reich‘ manchmal schon mit dem Tode bestraft, wenn es nur geäußert wurde. Ich schäme mich heute noch meines Erstaunens, als ein Freund angesichts einer Frau mit Judenstern zu mir sagte: ‚Die armen Juden!‘ So etwas hatte ich sonst weder gehört noch gefühlt und selbst kurz vorher eingestimmt in den Ruf ‚Jude, Jude!‘, den Spielkameraden erhoben, als auf der anderen Straßenseite ein jüdischer Junge mit gesenktem Kopf vorüberging.53

Und die Tochter eines SS-Erschießungskommandoleiters in der Ukraine kommentiert:

Mein Vater war ein richtig korrekter Beamter, der bestimmt nie eine Schummelei gemacht hat mit einer Reisekostenabrechnung oder Ähnlichem. Er hatte das preußische Pflichtbewusstsein. Vor Gericht hat er gesagt, er habe gewusst, dass es Unrecht war, aber alles andere wäre absurd gewesen, er hätte keine Möglichkeit gehabt, diese Befehle zu verweigern, die er bekommen hat und weitergegeben hat. Es ist dasselbe Pflichtbewusstsein, das sonst auch etwas Positives sein kann, das ihn aber in dieser Situation versagen lässt: Wenn der Staat mir befiehlt, egal, wie verbrecherisch es ist, dann tue ich es einfach, weil ich ein pflichtbewusster Beamter bin.54

Die Theologin Dorothee Sölle zieht daraus die Schlussfolgerung: „In unserer christlichen, deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts hat Gehorsam eine katastrophale Rolle gespielt. Ich vermute, dass wir heute als Christen die Pflicht haben, den Gehorsam überhaupt zu kritisieren, und dass diese Kritik radikal sein muss.“55 Der Ausbruch der 68er Generation in den „Ungehorsam“ sollte auch im Licht dieser Gedanken betrachtet werden.

Das Schweigen redet

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