Читать книгу Das Schweigen redet - Johannes Czwalina - Страница 20

3. Das Schweigen der schweigenden Mehrheit

Оглавление

An allem Unrecht, das geschieht, ist nicht nur der schuld, der es begeht, sondern auch der, der es nicht verhindert.

Erich Kästner

Trifft die vielen Mitläufer, diejenigen, die selbst nicht gemordet, das Morden aber ohne Widerstand zugelassen haben, keine Schuld? Im rechtlichen Sinne gibt es keine Kollektivschuld. Schuldig macht sich jeweils ein Einzelner, der das Recht bricht. In politischer Hinsicht dagegen existiert kollektive Schuld im Sinne einer kollektiven Haftung. Die Mitläufer tragen eine moralische Mitverantwortung, da ohne sie die Verbrechen nicht hätten ausgeführt werden können. Ein Land oder ein Volk, das dem Totalitarismus anheimgefallen ist und nicht dagegen Widerstand leistet, macht sich durch seine bewusst oder unbewusst gewählte Ohnmacht (mit)schuldig. Dies aber nicht im rechtlichen Sinn, sondern eben im politischen.70

Als am 9. November 1938 in Deutschland die Synagogen brannten, war dies ein erster trauriger Höhepunkt der Judenverfolgung im Dritten Reich. Dieser antisemitische Ausbruch kam nicht aus heiterem Himmel. Vielmehr reichen seine Wurzeln bis ins Jahr 1933 – und weit darüber hinaus. Von welchem Hinsehen oder Nicht-Hinsehen, Handeln oder Nicht-Handeln an begann die Sphäre individueller und kollektiver Schuld?

Dorothee Sölle schreibt:

Verstrickt waren schließlich alle, die nicht Widerstand leisteten, eingebunden in die verschiedensten Formen des Mitglaubens, Mitmachens und Mitprofitierens. Und zu diesen Mitläufern im weiten Sinne des Wortes gehörten auch alle die, welche die Kunst des Wegsehens, Weghörens und Stummbleibens eingeübt hatten. Es ist viel gestritten worden über kollektive Schuld und Verantwortlichkeit. Mein Grundgefühl ist eher das einer unauslöschlichen Scham: zu diesem Volk zu gehören … Diese Scham verjährt nicht, ja sie muss lebendig bleiben.71

Hunderttausende haben in Nazi-Deutschland und in den umliegenden Ländern geschwiegen oder mitgemacht, obwohl sie eigentlich spürten, dass es nicht richtig ist. Wenn genug Druck da ist und der Mensch um sein Leben bangt, wird er sich beugen. Manchmal reicht schon die Angst um die materielle Existenz aus, sich dem Diktat der Gewalt zu beugen.

Die häufigste Haltung, die sich aus einer Ohnmachtserfahrung ableitet, ist die Haltung der Regression. Regression meint hier, sich mit den Umständen abzufinden, weil man sie als nicht veränderbar einschätzt und folglich durchaus aktiv unterstützt: Es ist eine besondere Form der Aktivität, die aus einer paradoxerweise passiven Haltung entsteht. Der Regressive selbst ist sich seines Rückzuges oft nicht bewusst. Der Rückzug geschieht jedoch bereits durch die bewusste Anerkennung der Verhältnisse. Die Verantwortung wird weiterdelegiert. An ihre Stelle treten Pflichterfüllung und Gehorsam (Opportunismus, Anpassung). Die Mehrheit der Bürger des Dritten Reichs wählte die Anpassung zu ihrer Überlebensstrategie.

Die vielen Mitläufer setzten sich mit den Verhältnissen nicht auseinander, leisteten keinen Widerstand und zogen sich mit ihren Werten in ihr Privatleben zurück. Zu den politischen Umständen schwiegen sie und nahmen diese somit als gegeben an. Diese Strategie der Beschränkung der Werte auf das Privatleben wurde nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs nicht hinterfragt und in ihrer verheerenden Wirkung auf die nächsten Generationen völlig unterschätzt. Den Angepassten wurde nicht klar, dass sie sich nicht einfach so als unbelastet darstellen konnten. Die Mehrheit der so gearteten Mitläufer schlüpfte nach dem Krieg in eine Art Opferhaltung, sobald sie sich den unbequemen Fragen ihrer Kinder über ihr Schweigen gegenübergestellt sah. Auf ihre kritischen Fragen („Warum habt ihr nichts getan? Warum habt ihr mitgemacht? Warum habt ihr euch nicht gewehrt?“) bekamen die Kinder der Mitläufer oft konfrontative oder unbefriedigende Antworten, meistens mit folgendem Tenor: „Ihr habt ja gar keine Ahnung davon, wie das damals wirklich war.“ Eine selbstkritische Reflexion war nicht angesagt.

Die Redewendungen vom „kleinen Mann“, die Propagierung der Ohnmacht des Einzelnen („wir konnten ja doch nichts tun“), die Haltung des „wir hier unten – die da oben“ war eine Entschuldigung, die sich schwer anfechten ließ.

Auf diese Weise blieb für viele der Nachfolgegeneration die entscheidende Frage unbeantwortet: Wie haben die Großeltern, die immer ihren menschlichen Anstand in der Zeit des Nationalsozialismus betonten, diesen Anstand vereinbaren können mit einer verbrecherischen Ideologie?

Prof. Dr. Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, schreibt über Mitläufer:

Und diese waren entweder in der inneren Emigration gewesen, hatten nach ihren Aussagen Hitler und die Nazis schon immer abgelehnt und verachtet, wären insgeheim auf der Seite des Widerstandes engagiert und hätten das Ende des Nationalsozialismus herbeigesehnt. Das berührte ihre Überzeugung nicht, dass man dem Vaterland bis zum Äußersten dienen müsse, auch wenn Verbrecher an der Regierung waren. Und deshalb hatten sie zur Verteidigung des NS-Regimes bis zuletzt ihre patriotische Pflicht getan. All die Genossen aus Überzeugung, aus Opportunismus und Feigheit schwiegen ab 1945. Sie machten sich und andere glauben, ihr Idealismus, der sie zu Hitler geführt habe, sei missbraucht worden, sie hätten immer nur das Gute gewollt, von den Verbrechen des Regimes nie etwas gewusst, und sie fühlten sich betrogen. Damit gab es nur Opfer … Es wurde zur Lebenslüge einer Generation, die zur Erklärung allen Übels immer auf eine kleine Gruppe von Bösewichten um Hitler verwies, die für alles verantwortlich gewesen sei, die dem deutschen Volk Gewalt angetan habe, das nichts habe machen können gegen die verbrecherische Minderheit, die alle ins Unglück gestürzt habe. Die Lockungen der nationalsozialistischen Ideologie waren so vergessen wie die Leiden derer, die aus rassischen, politischen und religiösen Gründen verfolgt worden waren, an deren Ausgrenzung sich eben die Mehrheit der Mitläufer beteiligt hatte: Juden und Sinti und Roma, Kommunisten und Zeugen Jehovas, Polen und Angehörige anderer Völker, die offiziell als minderwertig galten und deren Versklavung und Vernichtung man gleichgültig hinnahm. Wie die Lockungen vergessen und verdrängt waren, so wurden der Zwang und der Druck des Regimes zur Erklärung für alles beschworen, als habe der Terror von Anfang an bestanden und sei nicht erst durch die Begeisterung der einen und die Hinnahme der anderen ermöglicht, ausgedehnt und verfestigt worden.72

Als nach 1935 die Nürnberger Rassengesetze die schrittweise, systematische Ausgrenzung der deutschen Juden aus der Gesellschaft anstießen, war mit Missbilligung seitens breiter Bevölkerungskreise nicht zu rechnen. Die Mehrheit tolerierte zumindest die Ziele der Judenpolitik, diese erst aus der Gesellschaft und dann aus Deutschland hinauszudrängen. Man wagte weitgehend nicht, die vorhandenen Vorbehalte gegen die gewalttätige Art des Vorgehens öffentlich zu äußern.

So entstanden die fließenden Übergänge zwischen Tätern, Mitwissern, Nutznießern und Mitläufern, die ein gutes Funktionieren des destruktiven Maßnahmenpakets sicherstellten, und so war es gerade die weitaus größte Zahl der Mitläufer, die die Pläne der Täter erst zum Erfolg brachten. Ohne die vermeintlich harmlosen Mitläufer hätte gar nichts funktioniert. Die Rolle der Mitläufer als eigentlicher Stützen des Systems darf niemals verharmlost werden. Das wie auch immer geartete Einverständnis des Einzelnen machte die mörderischen Konsequenzen überhaupt erst möglich.

Diese starke Mitverantwortung an den Verbrechen des NS-Systems gerade derer, die sich später als unschuldige Unbeteiligte und Opfer missbrauchten Vertrauens bezeichneten, wird gerade durch die in letzter Zeit zahlreich erschienenen persönlichen Erlebnisberichte immer klarer belegt. Da geht es um die Beschreibung von Denunzierung, Neid, Habgier, Opportunismus, Egoismus, Mitläufertum oder ums Wegschauen. Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen, profitierten vom Raub des jüdischen Eigentums, praktisch jeder Deutsche profitierte von der Ausbeutung der besetzten Gebiete Osteuropas, wo man nicht selten so viel nahm, dass man die Ausgeraubten unweigerlich dem Hungertod überließ. Und auch der systematische Raub des Eigentums der jüdischen Mitbevölkerung begann nicht erst mit dem formalen Wegnehmen durch Staatsbedienstete. Die den Juden vor den Deportationen gezahlten Hungerlöhne für die von ihnen geleistete Zwangsarbeit konnten nicht ansatzweise den täglichen Bedarf decken. Dadurch waren die meisten – wenn nicht alle – Juden gezwungen, ihre Habe zu überteuerten Preisen auf dem Schwarzmarkt gegen Nahrung zu versetzen. Die Profiteure dieser ersten Stufe der Enteignung waren unzählige Deutsche, die sich am Elend ihrer Mitmenschen bereicherten. Auch kann sich niemand damit herausreden, dass er von alledem nichts gewusst habe. Praktisch jede Familie hatte einen Vater, Ehemann oder Sohn in Osteuropa, der von den Zuständen berichten konnte. Berücksichtigt man noch die Berichte von Nachbarn und die allgemeine Verbreitung von Nachrichten aus den besetzten Gebieten – die ja für die Menschen an der „Heimatfront“ immer von hohem Interesse waren –, dann kann es keinen Zweifel daran geben, dass die radikale Plünderung der besetzten Gebiete zugunsten der deutschen Bevölkerung ein offenes Geheimnis war.

Das Dilemma aber besteht darin, dass man juristisch gesehen all die Profiteure und Nutznießer sowie Mitläufer nicht als Täter kategorisieren kann, da es ja laut juristischer Festlegung nur der Täter sein kann, der eine Straftat begangen hat. Wer unter Einbezug der Mitläufer die gesamte Bevölkerung zu Tätern erklärt, erklärt auch wieder nichts.73 Dennoch müssen wir jenseits juristischer Festlegungen und Beschränkungen in unserem Kopf und in unserem Herzen den Täterbegriff von der rein strafrechtlichen Definition loslösen. Nur so kriegen wir den Blick frei für die moralische Mitverantwortung der Mehrheit des deutschen Volkes.

Martin Buber sagte anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1953:

Wenn ich an das deutsche Volk der Tage von Auschwitz und Treblinka denke, sehe ich zunächst die sehr vielen, die wussten, dass das Ungeheure geschah, und sich nicht auflehnten; aber mein der Schwäche des Menschen kundiges Herz weigert sich, meinen Nächsten deswegen zu verdammen, weil er es nicht über sich vermocht hat, Märtyrer zu werden. Sodann taucht vor mir die Menge all derer auf, denen das der deutschen Öffentlichkeit Vorenthaltene unbekannt blieb, die aber auch nichts unternahmen, um zu erfahren, welche Wirklichkeit den umlaufenden Gerüchten entsprach; wenn ich diese Menge im Sinne habe, überkommt mich der Gedanke an die mir ebenfalls wohlbekannte Angst der menschlichen Kreatur vor einer Wahrheit, der sie nicht standzuhalten können fürchtet. Zuletzt aber erscheinen die mir aus zuverlässigen Berichten an Angesicht, Haltung und Stimme wie Freunde vertraut Gewordenen, die sich weigerten, den Befehl auszuführen oder weiterzugeben, und den Tod erlitten oder die erfuhren, was geschah, und weil sie nichts dagegen unternehmen konnten, sich in den Tod gaben. Ich sehe diese Menschen ganz nah vor mir, in jener besonderen Intimität, die uns zuweilen mit Toten, und mit ihnen allein, verbindet; und nun herrscht in meinem Herzen die Ehrfurcht und die Liebe zu diesen deutschen Menschen.74

Das Bestehen eines jeden gesellschaftlichen Systems ist nur dann gewährleistet, wenn es von einer Unzahl sich ergänzender Willensentscheidungen getragen wird. Die Schweigenden, die Mitläufer, sind es, welche die politischen Eliten erhalten. Diese tausendfache individuelle Akzeptanz oder Gleichgültigkeit ist es, die den Erfolg der Schreckensherrschaften gewährleistet. Diese Wahrheit gilt nicht nur in Bezug auf das Dritte Reich, sondern auch in Bezug auf die DDR. Ohne die stillschweigende Billigung der schweigenden Mehrheit hätten das Schreckenssystem Hitlers und die Diktatur der SED niemals funktionieren können. Man kann die Mitschuld der Mitläufer, zu denen die meisten unserer Vorfahren gehörten, nicht schwer genug gewichten.

Der mutige Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer spürte diese Schuld und schrieb am 20. Juli 1944 resigniert und von großen Selbstzweifeln geplagt seinen Beitrag „Stationen auf dem Wege zur Freiheit“:

Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung misstrauisch gegen die Menschen geworden und mussten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?75

Diese Haltung des schweigenden Mitläufertums hörte nach dem Krieg nicht auf. Arthur von Schirach, Sohn des Kriegsverbrechers Baldur von Schirach, zeichnet die Erinnerungen aus seiner Jugendzeit in den fünfziger Jahren nach:

„Dass Ansbach eine ‚braune Hochburg‘ gewesen war, erfuhr ich in all den Jahren meiner Schulzeit in den fünfziger Jahren nicht. Es lag eine bleierne Schwere und Stummheit über dieser Zeit. Es wurden keine Fragen beantwortet und keine gestellt. Verborgen und verschwiegen waren auch die Hinterlassenschaft und das Erbe der jüdischen Vergangenheit in der Stadt.“76 So ging es auch mir in meiner Kindheit. Ich habe diese Schwere und Stummheit gespürt. Nicht nur in dem Haus meiner Kindheit, in dem die Gegenwart der deportierten jüdischen Familie noch in der Luft lag, sondern auch auf dem Schulweg am kleinen und großen Wannsee entlang, wo jedes herrschaftliche Haus seine stumme Geschichte mir zu erzählen schien, ohne dass ich Fragen stellen durfte, weil ich sowieso nicht mit einer Antwort rechnen konnte.

Das Schweigen redet

Подняться наверх