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Das Schuldgefühl, überlebt zu haben

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Das Vorhandensein von Schuldgefühlen sagt noch nichts über objektive Schuld aus. So haben viele, die in der NS-Zeit nichts Böses getan haben, besonders die Nachkommen von Opfern, Schuldgefühle, etwa in der Art, dass sie sich beschuldigen, nichts oder nicht genügend Gutes bewirkt zu haben, oder dass sie sich selbst Vorwürfe machen, unverdient überlebt zu haben, während ihre engsten Angehörigen ermordet wurden.

Die eigentlich Schuldigen empfinden seltsamerweise häufig keine Schuldgefühle, während sich Menschen, die eigentlich schuldlos sind, mit Schuldgefühlen quälen. Das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein von Schuldgefühlen ist somit auch keine Messlatte für das Ermitteln tatsächlicher, objektiver Schuld.

Im Jahr 2001 fragte ich Ursula Meißner, die als 20-jährige Schauspielerin unter Gustaf Gründgens in Berlin die jüdische Familie des Konrad Latte über längere Zeit in ihrer Wohnung aufgenommen hatte, nach ihren Beweggründen. Sie antwortete: „Ich habe nur meine Pflicht getan mit meiner bescheidenen Hilfe, aber was mir im Rückblick viel Schmerz und Schuldgefühle bereitet: Warum habe ich nicht viel mehr getan und die mahnende Stimme meines Gewissens nicht viel häufiger und mehr beachtet?“

Die Reaktion auf eine Traumatisierung besteht also in oft unbewussten Scham- und Schuldgefühlen. Den direkt Betroffenen fällt es auch deshalb besonders schwer, sich zu öffnen. Sie ertragen das Leben am besten, wenn sie über das Erlebte schweigen. Dennoch besteht bei ihnen das unausgesprochene Bedürfnis, dass die Traumatisierung von ihrer Umgebung gesehen und anerkannt wird. Sie sind darauf angewiesen, dass sie Menschen treffen, die das Dilemma behutsam aufspüren.

Nicht wenige waren von Überlebensschuldgefühlen geplagt, im Sinne von: „Alle anderen mussten sterben, ich habe es doch nicht verdient zu überleben.“

So empfand auch Erika Landau:

In ihrer Pünktlichkeit haben die Deutschen immer nur bis zwei Uhr geschossen. So wurden wir zweimal wieder ins Lager zurückgebracht. Das Gefühl, zurück auf meine Pritsche im Lager zu gehen, nachdem ich den ganzen Tag zugesehen hatte, wie man Leute ins selbstgeschaufelte Grab hineinschoss, das ist kein Gefühl der Freude, überlebt zu haben. Das war ein Gefühl der Trauer und der Scham und des Schuldgefühls, dass ich zurück ins Lager gehen konnte und die anderen nicht.24

„Die Schuld des Überlebenden“, so stellte Robert Jay Lifton fest, „kennen alle, die Krieg, Naturkatastrophen etc. überlebt haben. … Das Opfer, nicht der Täter, fühlt sich schuldig.“25 Viele Überlebende des Holocausts empfinden nicht selten Schuldgefühle, weil sie sich selbst vor die Wahl gestellt sahen, entweder ihr Leben hinzugeben oder am Leben zu bleiben. Wie mutig und einfallsreich das Opfer auch immer war, es konnte damit die Katastrophe nicht abwenden. Wenn Opfer nach traumatischen Ereignissen ihr eigenes Versagen reflektieren und beurteilen, entstehen praktisch immer Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle. Karl Jaspers nennt dieses Phänomen „metaphysische Schuld“.26 Er beschreibt mit diesem Begriff ein Gefühl der Mitverantwortung für alle Ungerechtigkeit in der Welt nach der Logik: Ich bin mitschuldig, weil ich nicht alles getan habe, was ich hätte tun können, um das Unrecht zu verhindern. Können solche Schuldgefühle überhaupt angegangen und überwunden werden?

Wer aber kann den Opfern in ihrem tiefen Empfinden von Schuld eine Entlastung zusprechen? Jaspers nennt Gott als Instanz. Viele der Opfer haben aber Schwierigkeiten, sich an Gott zu wenden, weil sich damit unmittelbar die Bitterkeit darüber, dass Gott nicht eingegriffen hat, einstellt. Und sie stellen sich bisweilen die Frage: War in diesem Fall nicht Gott auch mitschuldig? Sie haben Zweifel an der Existenz Gottes, sie haben ihren Glauben an ihn verloren. Sie fragen sich, ob Gott nicht nur in Wahrheit ein bloßes Deckwort für „Niemand“ darstellt. Sie fragen sich, ob etwa die Aussage „Gott richtet“ nicht in Wahrheit dieselbe ist wie „Niemand richtet“.

Kein Gott? Kein Gericht? Keine Schuld? Wenn dem so wäre, dann handelte es sich bei ihren „Schuldgefühlen“ im Grunde nur um pathologische Symptome, die die „Normalen“ nicht ernst zu nehmen bräuchten. Das Verdrängen Gottes wäre dann nur ein möglicher Hinweis darauf, dass derart viele Opfer mit Schuldgefühlen es so schwer haben, über das Erlebte zu sprechen und sich anderen zu öffnen.

Überlebensschuld ist einer der fundamentalen Konflikte, die den Überlebenden bedrohen. Ein Gesicht der Schuld ist die Scham, die Neigung des Menschen, sich für das, was ihm widerfahren ist, zu schämen, auch wenn er gar keine Schuld daran hatte. Nirgendwo ist dieses Gefühl der Scham stärker als bei den Juden, dem Volk, das von seinen Feinden dazu ausgewählt wurde, ausgerottet zu werden. Es ist eine Scham, die über Jahrhunderte Juden zum Schweigen gebracht hat.

Das Schweigen redet

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