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Innere Unruhe und Unbehagen vor stillen Momenten
ОглавлениеZum Schluss sei noch das Symptom der Ruhelosigkeit angeführt: Das Schweigen der überlebenden Opfer ist oft mit einer immensen inneren Unruhe gepaart, als ob man auf der Flucht sei. So lässt sich bei den Betroffenen ein Hang zu übermäßiger Arbeit und Selbstüberforderung beobachten. Innehalten könnte einen mit plötzlich auftauchenden Bildern der eigenen Vergangenheit konfrontieren, die man nicht ertragen könnte.
Der Schriftsteller W.G. Sebald schreibt in „Austerlitz“:
Ashman erwiderte darauf, er selber habe 1941, bei Requirierung des Hauses, die Türe zu dem Billardzimmer wie auch zu den Kinderstuben im obersten Stock durch das Einziehen einer falschen Wand verborgen, und als man die Paravents, vor die man große Kleiderkästen geschoben hatte, im Herbst 1951 oder 1952 entfernte und er zum ersten Mal seit zehn Jahren das Kinderzimmer wieder betrat, sagte Ashman, hätte nicht viel gefehlt, und er wäre um seinen Verstand gekommen. Beim bloßen Anblick des Eisenbahnzugs mit den Waggons der Great Western Railway und der Arche, aus der paarweise die braven, aus der Flut geretteten Tiere herausschauten, sei es ihm gewesen, als öffne sich vor ihm der Abgrund der Zeit, und wie er mit dem Finger die lange Reihe der Kerben entlanggefahren sei, die er im Alter von acht Jahren am Vorabend seiner Verschickung in die Preparatory School in stummer Wut, erinnerte sich Ashman, in den Rand des Beistelltischchens neben seiner Bettstatt geschnitzt hatte, da sei eben dieselbe Wut wieder in ihm aufgestiegen, und ehe er auch nur wusste, was er tat, habe er draußen auf dem hinteren Hof gestanden und mehrmals mit seiner Flinte auf das Uhrtürmchen der Remise geschossen, an dessen Zifferblatt man die Einschläge heute noch sehen könne. 27
Carolin Emcke kommentiert diese Stelle:
Die Wiederentdeckung des versteckten Zimmers der Kindheit, das plötzlich geöffnet wird, die Rückkehr an den verborgenen Ort des vergangenen Leidens, der Blick auf die Spuren der Ohnmacht, mit der das achtjährige Kind seinen Zorn in den Nachttisch geritzt hatte, entzündet eben dasselbe Gefühl der verzweifelten Wut erneut. Die zurückgelegte Zeit erlischt in diesem Moment, die geschichtliche Erfahrung zerrinnt. Als ob ein Druckausgleich stattfände, saugt der geöffnete Raum der Vergangenheit alle Gegenwart in sich hinein – und die frühere Emotion entlädt sich jetzt, da ihr kein Anlass, kein Grund, mehr gegeben ist.28
Viele der Opfer haben deshalb eine problematische Beziehung zu ihren Kindern, da man im guten Umgang mit Kindern innerlich gewissermaßen oft stillstehen muss, wenn man ihnen voll und ganz gerecht werden möchte. Und genau dieses Innehalten konnten viele wegen ihrer Vergangenheit nicht leisten. Stillstehen hätte den Kindern Anlass geben können, Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten wollten.
Die aus der Ukraine stammende jüdische Musikerin Bella Liebermann schreibt von diesen Kindern, dass ihnen später die Erinnerung an eine stabile Kindheit und Jugend fehlte, die aber die Grundlage für eine gesunde Entwicklung der Psyche bildet.29 Sie beobachtete bei den Kindern später im jugendlichen Alter vermehrt Identitätsprobleme. Diese seien immer dort entstanden, wo die Kinder noch im Kleinkindalter ihre Eltern entbehrten, weil diese ihnen zu wenig persönliche Aufmerksamkeit widmen konnten.30