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Erlebte Traumatisierung verschließt den Mund
ОглавлениеDie anhaltende Traumatisierung durch die Bedrohung, die Flucht, die Ermordung der Angehörigen, durch den Verlust der Heimat und schließlich das erwähnte Desinteresse derer, die den Berichten misstrauten bzw. diese nicht hören wollten, haben so schwer gewogen, dass viele Opfer das Schweigen als Lebensweise angenommen haben. Unzählige, die überlebt haben und über ihre Erfahrungen nicht zu sprechen vermögen, tragen ein Leben lang die Folgen ihres Schweigens, was nicht ohne Wirkung auf Kinder und Kindeskinder bleibt.
Es wäre zu einfach, bei diesen jahre- und jahrzehntelang andauernden Verhaltensweisen von „Traumata“ zu sprechen. In der gängigen medizinischen Betrachtung ist ein Trauma die psychische Reaktion eines Einzelnen auf ein akutes, überwältigendes und mit Lebensgefahr verbundenes Geschehen. Bei betroffenen Menschen folgt vielfach nach relativ kurzer Zeit eine deutliche Erholung. Bei Kriegsopfern und speziell bei den Opfern des Holocausts aber verhält es sich oft anders: Ihre Erkrankung erstreckt sich über Jahrzehnte oder über das ganze Leben. Der Begriff „posttraumatische Belastungsstörung“ ist hier durchaus eine adäquate Bezeichnung. Eine posttraumatische Belastungsstörung beginnt in der Regel dort, wo das Trauma aufhört.17
Die in diesem Sinn traumatisierten Menschen leben sozusagen seelisch zerstört in dem „Gefängnis“ ihrer Trauer und ihres Schmerzes. Als Folge der traumatischen Beeinträchtigung ist es für die Betroffenen unmöglich, auf das zeitgeschichtliche Geschehen flexibel zu reagieren und sich im gesellschaftlichen Leben zu verwirklichen.18
Der Psychologe G. William Niederland hat den Begriff „Überlebenden-Syndrom“ geprägt:
[B]ei aller Unterschiedlichkeit der Begrifflichkeiten handelt es sich im Wesentlichen um Schmerz, Pein und große innere Drangsal […] die frühere Lebenslinie wurde durch Verfolgung abgeschnitten – vollständig und oft in grausamster Weise. So entstand ein zumeist unheilbarer Knick in der Lebenslinie […] nach der Rettung kam es zu Depressionen und Angst. Die Angst mündete bei vielen in quälende Empfindungen des ständigen Sich-fürchten-Müssens mit begleitenden körperlichen Zustandsänderungen (Herzklopfen, Atemnot, Händezittern, Schwäche) ein. Die seelischen Störungsbilder zeigten sich in der Form von ängstlichem Erregtsein, innerer Spannung und nervöser Unruhe, Angst- und Albträumen, unausgesprochenen phobischen Erscheinungen wie plötzlichem Zusammenschrecken beim Hören der Türklingel oder beim Anblick von uniformierten Menschen auf der Straße. Misstrauen, Furcht und Argwohn beherrschten die gesamte Gefühls- und Gedankenwelt der so Geschädigten. Das Verbrechen am Seelenleben dieser Menschen hält an.19
Der Psychologe Weitzel-Polzer ergänzt die Liste durch folgende weitere Beobachtungen:
Gedächtnisstörung für zeitliche oder inhaltliche Erinnerungen
gestörte Selbstwahrnehmung mit Ohnmachtsgefühl
Selbstbezichtigung, Beschmutzungsgefühl oder Stigmatisierung
das Gefühl, sich von anderen grundlegend zu unterscheiden
ständiges Nachdenken über die Beziehung zum Täter
unrealistische Einschätzung des Täters, Idealisierung oder paradoxe Dankbarkeit
Übernahme des Überzeugungssystems des Täters
Beziehungsprobleme mit Isolation und Rückzug
gestörte Intimbeziehungen
wiederholte Suche nach einem Retter
anhaltendes Misstrauen
Verlust fester Glaubensinhalte
Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung
andauernde Gefühle des Betäubtseins und emotionaler Stumpfheit
Anhedonie (die Unfähigkeit, Freude und Lust zu empfinden)
Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten
Suizidgedanken
Depressionen
Alkoholmissbrauch
Hinzu kommen noch in bestimmten Situationen Angst auslösende Assoziationen, die Erinnerungen wachrufen wie Hundegebell, dichtgedrängte Menschenmassen, Feuerwerkskörper, Kindergeschrei oder Sirenen. Opfer des Holocausts haben oft das Gefühl des Ausgeliefertseins, des Verlassenseins und des Nichtgewolltseins.20
Bei einer so umfangreichen Liste von Symptomen ist es sehr verständlich, dass manche Opfer das Erlebte nicht nur verdrängen, sondern sogar versuchen, es von ihrer eigenen Person abzuspalten, so als wäre das Verbrechen nicht an ihnen, sondern an jemand anderem begangen worden.