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Gefangen im abartigen Weltbild vom „perfekten Garten“

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Wenn der Mensch sich anmaßt, eine Welt zu erschaffen, in der das Böse eliminiert ist, dann richtet er eine Welt des Schreckens ein, in der das Böse herrscht.

Dierk Juelisch, Psychoanalytiker56

Adolf Hitler erklärte im April 1943 dem ungarischen Reichsverweser von Horty:

Sie (die Juden) sind wie Tuberkelbazillen zu behandeln, an denen sich ein gesunder Körper anstecken kann. Das ist nicht grausam, wenn man bedenkt, dass sogar unschuldige Naturgeschöpfe wie Hasen und Rehe getötet werden müssen, damit kein Schaden entsteht. Weshalb soll man die Bestien, die uns den Bolschewismus bringen wollen, mehr schonen?57

In einer Rede 1943 erntete Heinrich Himmler von niemandem Widerspruch, als er sagte:

Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit ein ganz schweres Kapitel erwähnen … Ich meine jetzt die Ausrottung des jüdischen Volkes … Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn hundert Leichen beisammenliegen, wenn fünfhundert da liegen oder wenn tausend da liegen. Das durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.58

Es ist verblüffend, wie Himmler hier auch implizit zum Schweigen der Täter aufruft! Jürgen Müller-Hohagen kommentiert:

Diese Menschen waren verschmolzen mit der ‚Vision des Gärtners‘. Die ganze Gesellschaft sei nach dem Modell eines perfekten Gartens zu gestalten und alles Störende wie Unkraut auszurotten. Mit dieser Vision verschmolzen zu sein bedeutet den Einsatz der ganzen Person für dieses Ziel, und hier geht es aber, wie das Bild des perfektionistischen Gärtners anspricht, um Vernichtung.59

Der polnisch-britische Soziologe Zygmund Baumann bringt es auf den Punkt:

Der moderne Genozid ist ein Element des ‚Social Engineering‘. Die Beseitigung des Störenden sei eine Notwendigkeit, die sich aus der übergeordneten Zielsetzung ergibt. Diese Zielsetzung ist die Vision einer besseren, von Grund auf gewandelten Gesellschaft. Der moderne Genozid ist ein Instrument des ‚Social Engineering‘, mit dem eine soziale Ordnung etabliert werden soll, die dem Entwurf einer perfekten Gesellschaft entspricht […] Das ist […] die Vision des Gärtners, nun allerdings über die ganze Welt gelegt […] Dieser Gärtner hasst das Unkraut, das Hässliche inmitten des Schönen, die Unordnung inmitten der Ordnung […] Nicht als solches muss das Unkraut ausgerottet werden, sondern weil es die schönere Ordnung des Gartens verhindert […] Der moderne Genozid, wie die moderne Kultur allgemein, ist eine gärtnerische Tätigkeit, sozusagen eine gärtnerische Pflicht innerhalb der gesamtgestalterischen Aufgabe […] Alle Vorstellungen von einer Gesellschaft als Garten verknüpfen bestimmte soziale Gruppen mit dem Begriff Unkraut: Unkraut muss ausgesondert, gebändigt, an der Ausbreitung gehindert werden, von der Gesellschaft ferngehalten, und wenn dies nichts nützt, vernichtet werden.60

Jürgen Müller-Hohagen bemerkt dazu:

Es ist ein erschreckendes Bild. Wir lieben Gärten, finden sie schön – und dann diese Nähe zum Holocaust? Aber dafür spricht nicht nur, dass mit dem Ungeziefervertilgungsmittel Zyklon B Menschen vernichtet wurden, sondern das Projekt eines sauberen Gartens hat wirklich viel mit den Vorstellungen zu tun, die visionäre Gewaltherrscher von Staat und Gesellschaft haben. Dann liegen aber Horror und Normalität eng beieinander, der Horror, der den ‚Schmutzigen‘ von denen bereitet wird, die sich für berechtigt halten und die Macht haben, zwischen ‚Sauber‘ und ‚Schmutzig‘ zu unterscheiden und vorzugehen wie ein Gärtner angesichts von Kräutern und Unkräutern […] Diese Bilder vom Gärtner helfen mir, manches Monströse eher zu begreifen, manches auf den ersten Blick nur monströs wirkende und doch von ‚normalen‘ Leuten Begangene, die Nähe von Kultur (edel auftretend) und bürokratisch organisiertem Massenmord, von Normalität und Terror […] Wie können Menschen derartige Grausamkeiten gegen Mitmenschen verüben? Wie kann sich die Sozialisation von ansonsten durchaus oder sogar sehr ‚normalen‘ Menschen zu Teilhabern an dieser ‚gärtnerischen Vision‘ gestalten? Die Vision des Gärtners, die man als kalt missverstehen könnte, hilft gerade, von den falschen Fragestellungen abzusehen, also Nazi-Täter nicht mehr bevorzugt nach dem Modell des Triebtäters begreifen zu wollen, sondern nach dem eines beflissenen Gärtners.61

Die Vorstellung vom verwahrlosten ungepflegten Osten wurde spätestens am Ende des 19. Jahrhunderts greifbar, als die ärmsten ostjüdischen Emigranten auf der Flucht vor den Pogromen des russischen Zaren die Ostgebiete besiedelten. Sie galten als rückständig, schmutzig, unkultiviert und als Habenichtse. Der Krieg festigte dieses Bild als zu unterwerfenden und anschließend zu kultivierenden Raum gleich einem ungepflegten, dringend zu bearbeitenden Garten.62 Zum perfekten Garten gehörte konsequenterweise die Vorstellung einer ethnischen Flurbereinigung, die besonders von Medizinern und Sozialhygienikern verbreitet wurde.

Schon seit 1915 breitete sich die Vorstellung aus, die zu annektierenden Gebiete auch ohne deren Bevölkerung zu übernehmen. Eine entferne Verwandte Heinrich Himmlers, die Lehrerin Marianne Nässl, schrieb 1926 an den jungen Mann, dass es ihr ureigener Wunsch sei, dass das deutsche Volk gesunde und gereinigt werde von all dem Ungeziefer und den schlechten Elementen, die dazwischenstecken, damit es wieder voll und ganz seinen Platz ausfülle in der Welt und die Stellung einnehme, die ihm unter den Völkern gebührt. „Aber mit diesem Judengesindel durchsetzt, wie es heute ist, ist ja kein Aufkommen möglich.“63

So forderte in einer im Mai 1940 verfassten Denkschrift der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, dazu auf, den „ganzen Völkerbrei des Generalgouvernements“ aufzulösen, die „rassistische Siebung durchzuführen“, die „rassisch Wertvollen aus diesem Brei herauszufischen“. In einer Sitzung von Verwaltungsbeamten vom 11. März 1942 meinte Hans Frank, Generalgouverneur der besetzten polnischen Gebiete, dass man zwar in der Anfangsphase die polnische Bevölkerung noch als Arbeitskräfte brauche, nach dem gewonnenen Krieg aber könne „aus den Polen und Ukrainern und dem, was sich sonst noch herumtreibt, Hackfleisch gemacht werden“.64 In einer Ansprache vor SS-Führern am 24. April 1943 konnte Himmler Fortschritte verkünden: „Wir haben die Blutsfrage als erste wirklich in die Tat umgesetzt. […] Das ist genauso, wie sich jeder entlaust, sobald er das kann. Das ist aber keine Weltanschauungsfrage, dass man die Läuse wegtut, sondern das ist eine Reinlichkeitsangelegenheit. Genauso ist der Antisemitismus […] eine Reinlichkeitsangelegenheit, die ist ja bald ausgestanden. Wir sind bald entlaust, und dann ist es vorbei – in ganz Deutschland.“65

Wie kommt es, dass ein guter Mensch nur einen ganz kleinen Schritt tun muss, um sich plötzlich auf der Seite des Bösen zu befinden?

Das Böse kann sein Werk nur tun, wenn es sich uns in der Gestalt des Guten, des Edlen und des Notwendigen nähert und wenn dies in so kleinen Teilschritten geschieht, dass die Rechtfertigung der kleinen Einzeltat die Sicht für das Schreckliche der ganz großen Tat verblendet. Die Menschen, die das Böse tun, brauchen für ihr Handeln immer einen sie rechtfertigenden „ethischen“ Grund, den sie „höher“ bewerten können als die verwerfliche Tat, die sie gerade ausführen. Diese Tat wird dann in ihren Augen notwendig, muss tapfer durchgestanden werden, um diese gesteckte höhere Ebene zu erreichen. Genau das war beim Genozid des Dritten Reichs der Fall. Es gab einen „guten“, von vielen nachvollziehbaren Leitgedanken nach dem Motto: „Wir brauchen eine starke, reine, von aller Zersetzung befreite Rasse. Wir streben den perfekten, von Unkraut befreiten Garten an. Nur mit diesem großen und edlen Ziel vor Augen können wir uns zu der Führungsnation entwickeln, die wir sind.“ Dieser Gedanke klang in vielen Ohren edel, wertete das im Keller befindliche Selbstwertgefühl einer Nation auf und erhob eine resignierte Volksseele.

Etwas differenzierter sieht es der SS-Abwehroffizier Hans Georg Klamroth nach seiner Begegnung mit einer 22-jährigen vielsprachigen russischen Spionin aus Leningrad. Im November 1942 schreibt er in sein Tagebuch:

Ganz appetitlich anzusehen, dieses Mädchen. […] Da die Vertreter der russischen Intelligenz dünn gesät sind, halte ich es für falsch, die vereinzelten Pflanzen dieser höher entwickelten Gattung, selbst wenn sie zur Zeit noch giftig sind, ohne weiteres auszujäten, sondern möchte versuchen, sie durch Fremdbestäubung zur Mutation zu bringen. […] Diese Züchtungsversuche begegnen zwar höheren Orts vorläufig noch erheblichem Misstrauen, aber ich bin entschlossen, […] Vorschläge für gleichgerichtete Versuche zu machen.66

Die Naziverbrecher hatten mit diesem höheren Ziel ihr verwerfliches Handeln sich selbst gegenüber legitimiert. So war das Ziel des „perfekten Gartens“ wichtiger als der Schmerz, ein anmutig aussehendes Unkraut auszureißen, das durch seine Vermehrung den ganzen edlen Garten zerstören konnte. So mussten die Juden dran glauben, wenn es um die Reinerhaltung der nordisch-arischen Rasse ging, so musste die subjektive Gewissensbefindlichkeit zurückgestellt werden, wenn es um die Erhaltung der höheren Ordnung ging: den unbedingten Gehorsam dem Führer gegenüber.

Dabei dachte man nicht an das Verwerfliche eines Genozids. Der Massenmord diente einem guten Zweck. Viele kleine Schritte der Rechtfertigungen führten somit zur Blindheit für die perverse Fratze des schrecklichsten Massenmords der Geschichte.

Es war für mich faszinierend und zugleich erschreckend, diese kleinen Schritte in Richtung Perversion an den Biographien der prominentesten Nazitäter festzumachen. Die Schritte waren klein genug und die einzelnen Rechtfertigungen nachvollziehbar genug, dass sie gereicht haben, den Weg in die falsche Richtung abzuschreiten. Keiner von ihnen wäre in diese Richtung mit einem einzelnen großen Satz gegangen.

So waren viele der prominenten Naziführer in ihrer Jugend eher ängstliche, religiös geprägte Knaben mit einem überdurchschnittlich sensiblen Gewissen.

Die Tagebücher Himmlers, des prominentesten Massenmörders der Nazis, lohnen unter diesem Aspekt gelesen zu werden. So brachte ihn zum Beispiel das Mensurenschlagen in seiner schlagenden Verbindung in Konflikt mit seinem Glauben. Er war tief verunsichert, ob dieses Ritual vor der Kirche nicht als Sünde galt. Darüber führte er viele Gespräche mit seiner Familie und mit seinen Freunden. Er mahnte sich in seinen Tagebüchern ständig selbst, die Gebote zu halten, um aus sich einen „guten Menschen“ zu machen. Sexuelle Erfahrungen vor der Ehe lehnte er kategorisch ab. Der Verzicht auf körperliche Liebeserfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht fiel ihm schwer, aber er hielt es durch, um seiner Persönlichkeit keinen Schaden zuzufügen.67

So haben diese Menschen eine Meisterschaft darin entwickelt, ihr Gewissen täglich in kleinen Schritten abzustumpfen mit der Rechtfertigung einer höheren Moral, der es wichtiger ist zu folgen und derentwegen man die kleinen täglichen Morde und Perversitäten hinnehmen muss. Die meisten Naziverbrecher haben sich für durchaus sehr moralisch gehalten. Sie hatten den besseren Gehorsam dem Führer gegenüber gezeigt als die anderen. So sind einige von ihnen noch mit erhobenem Haupt als vermeintliche moralische Vorbilder bei den Nürnberger Prozessen aufgetreten.

Im März 1945 stehen die sowjetischen Truppen vor Wien. Eingekesselt von sowjetischen Stoßtruppen und unter dem ohrenbetäubenden Lärm der fallenden Bomben, hinterlässt der Reichsleiter Baldur von Schirach in einer Rede vor geladenem Festpublikum sein Vermächtnis, indem er die Worte von Moritz von Schwind zitiert: „Das Schöne ist das Allernotwendigste auf der Erde, das sei unser Credo. So wahr uns Gott helfe.“68 Sein Sohn kommentiert:

Alle diese gekonnten Handküsse, die austarierten Sitzordnungen, die nie vergessenen Blumensträuße, das artige Zerlegen von Artischockenköpfen, das arkanische Wissen um Anreden waren nichts wert, als es darum ging, das Gewissen zu schärfen und Mitmenschlichkeit zu beweisen. Die formvollendeten Manieren der Kriegsverbrecher und Rassisten konnten die Blutstropfen auf den maßgefertigten Glacéhandschuhen, Frackhemden und Gamaschen nicht unsichtbar machen; die geschliffenen Manieren erschienen mir, gerade wegen der Kultur und Bildung, die sie hervorgebracht und die so kläglich versagt hatten, besonders verwerflich.69

Bis unmittelbar vor dem Totalzusammenbruch war die Elite gefangen in dieser Lebenslüge, und nicht wenige Nazigrößen konnten sich auch nach dem Krieg, bekleidet mit einer Fülle guter Manieren und eingehüllt in ausgeprägter humanistischer Philosophie, unbemerkt wieder hohe Posten sichern.

Das Schweigen redet

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