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4. Das Schweigen redet: Auswirkungen des Schweigens

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In der zweiten und dritten Generation ist die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern so nicht mehr stimmig. Es handelt sich in der zweiten Generation vielmehr um zwei unterschiedliche Arten von Opfern, die zum Teil gleiche, aber zum Teil auch ganz unterschiedlich geartete Erblasten zu tragen haben. Deswegen müssen wir die Täter- und die Opferkinder auch getrennt betrachten. Die Kinder der Opfer hatten mehr Schwierigkeiten, ein „erfolgreiches“ Leben zu führen als die Kinder der Täter. Auch war, wie in den vorhergehenden Kapiteln gezeigt werden konnte, das Schweigen der Opfer ein anderes als das Schweigen der Täter. Dem Schweigen der verfolgten Eltern lagen die erlebte Angst und Lebensbedrohung, aber auch die Scham angesichts des eigenen Überlebens zugrunde. Das Schweigen der verfolgenden Täter und NS-Unterstützer, die Menschen ihre Existenzberechtigung zu rauben versuchten und dies zum Teil auch bis zur Vernichtung umzusetzen halfen, ist hingegen auf die Angst vor der Entdeckung ihrer aktiven oder passiven Beteiligung zurückzuführen.

Beide Gruppen der nachfolgenden Generation haben gemeinsam, dass sie mit diesem Schweigen ihrer Väter aufwuchsen und erst später in ihrem Leben bemerkten, dass dieses Schweigen sich wie ein unsichtbarer lähmender Schleier über ihr Leben gelegt hatte.

Der Psychologe Müller-Hohagen schreibt dazu:

Das bewusste Verschweigen auf Seiten der Eltern führt bei den Kindern zu Störungen auf der unbewussten Ebene. Das von den Eltern aktiv aus der Kommunikation Ausgeschlossene ist dann für die Kinder direkt nicht mehr erkennbar, wohl aber, und das hat etwas Typisches, wird es als Loch in der Wahrnehmung wirksam. Mit solchen Löchern kann das Kind sich nicht auseinandersetzen, und deshalb haben sie etwas Unheimliches, Diffuses, machen ungreifbare Angst, führen zu Verzerrungen, von denen nicht nur die Inhalte des Seelenlebens betroffen sind, sondern die seelischen Strukturen selbst.77

Die Kinder wissen, dass gewisse Fragen nicht gestellt werden dürfen. Die fehlende Aufklärung über die eigenen Wurzeln erkennen sie mit zunehmendem Alter als Hypothek, die ihnen im Vergleich zu anderen Zeitgenossen Lebensqualität nimmt. Sie sind dadurch Gefühlen und Stimmungen ausgesetzt, die sie nicht zuordnen können und die sie vom unbeschwerten Erlebnisraum Gleichaltriger fernhalten. Diese Erkenntnis wächst mit zunehmendem Alter und kann starke Aggressionen und Konflikte mit den schweigenden Vätern oder auch Müttern auslösen.

Die Eltern, ob sie Opfer oder Täter waren, haben alles meist bewusst erlebt. Sie konnten das Erleben sozusagen live und mit der ihnen zur Verfügung stehenden Rationalität einordnen. Sie sahen mehr oder weniger klar, wer die Handelnden waren, warum sie es taten und wie sie es taten.

Die nachfolgenden Generationen waren aber nicht oder nicht bewusst dabei. Als Nachkommen erbten sie lediglich die Gefühlslast und die damit verbundene Ahnung, dass etwas nicht stimmte. Sie spürten die Bedrückung ihrer Gefühlserbschaft, aber sie konnten diese nicht einordnen. Deswegen sind sie als zweite Generation dringend auf Aufklärung und Transparenz angewiesen, ansonsten bleiben sie Opfer des Ungesagten. Bleibt die Aufklärung aus, reagieren sie verständlicherweise mit Rückzug, Wut und Aggression sowie mit depressiven Fehlentwicklungen aller Art. Die gefühlsmäßige Last der Nachkommen äußert sich in vielfältigen Formen: Orientierungslosigkeit, Gefühle von Betäubung und Bedrohung, dumpf empfundene Wahrnehmungen, unbewusste Schuldgefühle.

Die generationsübergreifende Übertragung ist ein Vorgang, welcher die Erlebnisse der Generation, die alles bewusst erlebt hat, der nächsten Generation als Gefühlserbe überträgt und so zu einem unbewussten Erbe transformiert. Das unbewusste Erbe aufzuarbeiten verursacht in der Zusammenfassung aller Faktoren den viel größeren Aufwand als die Aufarbeitung des bewusst Erlebten.

Bevor wir nun Opfer- und Täterkinder separat betrachten, fasst Claudia Brunner, die besagte Großnichte des Massenmörders Alois Brunner, das Gemeinsame treffend zusammen, als sie von einem Treffen der Nachkommen von Tätern und Opfern in Wien im Oktober 1999 berichtet: „Bei aller Verschiedenheit zwischen unseren Biografien und Geschichten entdeckten wir erstaunliche Parallelen, wie zum Beispiel die Übernahme von Schuldgefühlen Jahrzehnte nach den tatsächlichen Ereignissen, Tabus und Familiengeheimnisse, bisweilen absurd erscheinende Loyalitäten zu Lebenden oder Toten, die eine offene Konfrontation mit der Geschichte erschweren, sowie das Gefühl, in besonderer Mission unterwegs zu sein und für irgendeine Art von ‚Wiedergutmachung‘ zuständig zu sein. Und nicht zuletzt teilen wir rational kaum begründbare Ängste, die wir unseren Freunden und Eltern nur schwer begreiflich machen können.“78

Das Schweigen redet

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