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Rationalisierung

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Sogar bei oberflächlicher Betrachtung der zwei letzten Jahrhunderte der römischen Republik, von etwa 240 bis 40 v. Chr., fällt uns eine städtische Gesellschaft ins Auge, die sich auf zahlreichen Ebenen – sozial, politisch, juristisch, ökonomisch und religiös – rapide veränderte, und zwar im Zusammenhang mit einerseits großer politischer und wirtschaftlicher Expansion und andererseits massiven kulturellen Importen vor allem dessen, was in Ästhetiken und Praktiken als „griechisch“ verstanden wird.1 Dieser Prozess ist als eskalierender Konflikt im politischen Bereich, aber auch als (teilweise) Modernisierung im kulturellen Bereich beschrieben worden. Zumeist wurde er als Hellenisierung der römischen Kultur, des italienischen Städtewesens und als Begleiterscheinung verloren gehender Traditionen, und damit als Ende der römischen Republik und Verfall der römischen Religion, beschrieben. Diese Studie will eine neue Charakterisierung dieser Prozesse bieten. Dafür sollen Befunde herangezogen werden, die sich aus der vielfältigen Kontextualisierung des religiösen Wandels in verschiedenen bereits genannten Feldern der Gesellschaft der römischen Republik ergeben – allen voran politische, ökonomische und juristische Felder.

Max Webers Konzept der Rationalisierung und seine Typologie der Rationalität stellen ein besonders geeignetes Modell dar, um die religiösen und kulturellen Umbrüche dieser Zeit zu beschreiben. Mit dem Begriff „Rationalität“ ist allerdings kein Abklatsch oder Zweig der aristotelischen Logik – wiederum ein eigener Typus theoretischer Rationalität – gemeint, sondern das Ordnen und Systematisieren von Konzepten, Praktiken oder Werkzeugen, die man zum Erreichen bestimmter Ziele benötigt.2 Insbesondere definiere ich „Rationalisierung“ als den Versuch, Ideen auf Praktiken anzuwenden und diese Praktiken zu systematisieren, um sie in Worte zu fassen und Regeln unterwerfen zu können. Demnach ist Rationalisierung die Systematisierung – oder zumindest versuchte Systematisierung – von Praxis.3 Meiner Meinung nach wird es durch die Anwendung eines solchen analytischen Rahmens möglich, Veränderungen in verschiedenen Regionen nicht nur vergleichend zu analysieren, sondern es wird auch möglich, sich vor allem auf Verbindungen und Unterschiede in Entwicklungen und die sie beeinflussenden Gruppen zu konzentrieren. Dies ist ein sehr komplexes Vorhaben, das hier einer kurzen Erläuterung bedarf.

Zunächst muss erneut hervorgehoben werden, dass nicht bestimmte Charakteristika der westlichen Rationalität Gegenstand dieser Analyse sein sollen, obwohl griechische Argumentationen, wie wir sie in lateinischen Texten der späten römischen Republik, vor allem bei Cicero und Varro, finden, eine beherrschende Rolle im europäischen Denken bis in die Moderne spielen.4 Stattdessen folge ich Wolfgang Schluchter, indem ich Webers religionssoziologische Studien als Beiträge zur Erforschung von Typologie von Religionen und historischen Wandel sehe.5 Auf diese Weise können Webers implizite und explizite Werkzeuge ebenso zur Analyse spezifischer Gesellschaften, egal ob westlich oder nicht, wie auch zu deren Vergleich genutzt werden. Trotzdem ist Aufmerksamkeit geboten: Webers konzeptuelles System entstand aus eigenen religionsgeschichtlichen Annahmen, die heute veraltet sind. Solange es auch kritisch betrachtet wird, kann es als interpretativer Rahmen genutzt werden.

In der Tat ist es gerade Webers Interesse an Religion, das eine Verwendung des Rationalitäts-Konzepts zur Analyse der Entwicklungen der späten römischen Republik ermöglicht.6 Unsere Quellen für diese Zeit weisen darauf hin, dass Entwicklungen religiöser Praktiken und Reflexion auf Religion eine Schlüsselrolle im größeren Prozess des kulturellen Wandels gespielt haben müssen. In der politischen Kommunikation des römischen Adels spielten religiöse Medien eine zentrale Rolle.7 Nichtsdestoweniger muss die zentrale Stellung von Religion in den Bereichen politischen Handelns und kultureller Produktion als eine kontingente Entwicklung gesehen und für jede Epoche eigens überprüft werden.

Veränderungen im Bereich Religion in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen, auch wenn man diese Veränderungen kontextualisiert, erlaubt ein neues Verständnis der Gesellschaft der späten römischen Republik und überwindet die momentane Interpretation adliger Religionspraxis mit all ihren unterstellten Gegensätzen als Paradoxien, kognitiven Dissonanzen oder gar Heucheleien. Dass der Pontifex Cotta, ein Teilnehmer an Ciceros philosophischem Dialog De Natura Deorum, einfach behauptet, alle philosophische Skepsis an seinen priesterlichen Aktivitäten schlicht zu ignorieren – scheinbar, um die Unterstellung kognitiver Dissonanzen zurückzuweisen8 – ist kein historisches Faktum, sondern nur Ciceros literarische Lösung solcher Widersprüchlichkeiten. Theorien der „Balkanisierung des Gehirns“ (Jean-Pierre Vernant) können einfach keine zufriedenstellende Beschreibung des Verhaltens spätrepublikanischer Adliger, die den praktischen Erfolg von Rationalisierung am eigenen Leib erfuhren, bieten.

Innerhalb dieser Herangehensweise an Rationalisierung, mit der Betonung kommunikativer Praktiken, der Institutionalisierung von Wissensproduktion und der Erzeugung von Regeln in Interpretationsprozessen, ist es notwendig, die Kontexte von Produktion und antiker Verwendung unserer Hauptquellen genauso wie die kommunikativen Praktiken in diesen Quellen zu betrachten. Dies schließt die kommunikative Funktion religiöser Praktiken, die zum Gegenstand des Diskurses gemacht wurden, mit ein. Daher vertrete ich die These, dass verschiedene griechische Vorläufer des rationalen Diskurses über Religion nicht deshalb Akzeptanz in Rom fanden, weil sie etwa rational gewesen wäre. Ihr Erfolg war stattdessen abhängig von einer Öffentlichkeit von Rezipienten, die offen für rationales Argumentieren und vor allem bereits in die Rationalisierung von Religion einbezogen war. Anders gesagt, meine Untersuchung kann nicht einfach durch das Lesen von Texten und die Betrachtung ihrer Rezeption voranschreiten, sondern muss auch die Zusammensetzung eines öffentlichen Publikums und dessen institutioneller Kontexte in Betracht ziehen. Dieses Thema wird vor allem den ersten Teil des Buches prägen, der sich mit Ritualen beschäftigen wird.

Römische Religion in republikanischer Zeit

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