Читать книгу Requiem für ein Kind - Joseph Groben - Страница 46
ОглавлениеEinige Tage später, am 18. Februar, folgte der Dauphin seiner Gattin in den Tod. Über diese neue Hiobsbotschaft schrieb der Monarch: »Sie werden die Mehrung meines Schmerzes verstehen, wenn Sie den Tod des Dauphins erfahren. Das sind in wenig Tagen zwei schreckliche Prüfungen, die Gott über mich verhängt hat, um mich seinen Befehlen zu unterwerfen.« (»Ce sont en peu de jours deux terribles épreuves que Dieu a voulu faire de ma soumission à ses ordres.«) Lieselotte von der Pfalz schrieb an ihre Tochter, dass die Ärzte die arme Prinzessin auf dem Gewissen hätten.
Der zweite Dauphin war von Fénelon erzogen worden, der danach getrachtet hatte, aus ihm einen modernen Telemachos zu machen. Auch er hatte hohe Hoffnungen geweckt, vor allem in der gebildeten Klasse. Ein Satz, den er im Salon von Marly ausgesprochen hatte, hatte für beträchtliches Aufsehen gesorgt: »Die Könige sind für die Völker da, nicht die Völker für die Könige.« Der Abstand zum berühmten Ausspruch des absolutistischen Sonnenkönigs »L’État, c’est moi!« war gewaltig. Der Akademiker Dangeau schrieb über diesen Verlust: »Mit ihm ist der weiseste und frömmste Fürst gestorben, den es vielleicht auf Erden gegeben hat.« Der Maréchal de Tessé schrieb, die Hand Gottes sei schwer über Frankreich niedergefallen, indem sie dem Land einen Fürsten von so hohen Tugenden geraubt habe.
Kurze Zeit später, am 8. März 1712, starb der älteste Sohn des zweiten Dauphins, der Urenkel des Königs und dritte Thronanwärter, der Duc de Bretagne, im Alter von 5 Jahren. Er war nur 19 Tage lang Dauphin gewesen.
Dem Marschall Villars gegenüber äußerte sich der König über seine Verluste: »Es gibt wenig Beispiele dessen, was mir zustößt, daß man in derselben Woche (sic) seinen Enkel, seine Schwiegertochter und deren Sohn verliert, in die alle ich hohe Hoffnungen gesetzt hatte und die ich zärtlich liebte. Gott straft mich, ich habe es wohlverdient; ich werde darum weniger im Jenseits leiden …« (»Il y a peu d’exemples de ce qui m’arrive, et que l’on perde dans la même semaine son petit-fils, sa belle-fille et leur fils, tous de très grande espérance et tendrement aimés. Dieu me punit, je l’ai bien mérité; j’en souffrirai moins dans l’autre monde …«).
Die Pfalzgräfin notierte: »Man spricht ›im Allerheyligsten‹ weder vom Krieg noch vom Frieden. Man spricht ebenfalls nicht von den drei Dauphins und der Dauphine aus Angst, den König ins Grübeln zu bringen … Sobald er dieses Kapitel berührt, spreche ich sofort von andern Dingen, und ich tue, als ob ich nichts vernommen hätte.« (24.3.1712)
Die wiederholten Todesfälle in der königlichen Familie riefen Angst und Bestürzung auch beim französischen Volk hervor. Die einen erblickten darin einen »Fluch«, den Zorn Gottes gegen den König und gegen die Zustände am Hofe, andere erwogen die Hypothese von Giftmorden. Vor allem Philippe von Orleans, der zukünftige Regent, den jeder Sterbefall näher an den Thron rückte, wurde von manchen verdächtigt, die Hand im Spiel zu haben. Aber der König nahm kaum Notiz von diesen bösen Gerüchten.
Die heutige Geschichtsschreibung glaubt, für die mysteriöse Serie von Todesfällen eine plausible Erklärung gefunden zu haben: Die Ignoranz der Leibärzte Fagon und Boudin. Die königlichen Patienten sind das Opfer ihrer Ärzte geworden, die bei hohem Fieber zu einem probaten Allheilmittel griffen: zum Aderlass. Dadurch verhinderten sie, dass die Krankheit ausbrach und normal bis zur Heilung verlief – aber sie sprachen damit ein Todesurteil über die Kranken aus. Dieser Verdacht wurde schon damals geäußert, aber die Leibärzte, in die Enge getrieben, behaupteten, die Autopsie habe den Beweis einer Vergiftung erbracht. Molières Farcen über die Scharlatanerie und Wichtigtuerei der Ärzte, vor allem in seinem »Malade imaginaire« (1672) mit den standardisierten Prüfungsantworten von »seignare und purgare«, haben durch die Ereignisse des Jahres 1712 eine tragische Aktualität gewonnen, fünfzig Jahre nach der Aufführung des »Eingebildeten Kranken«, die Molière selbst das Leben kostete.
Das geistige Vermächtnis
Ab März 1712 hing die ganze Zukunft der Dynastie von dem vierten Dauphin, Louis duc d’Anjou, ab, der am 15. Februar 1710 geboren worden war. Auch er wurde von den Röteln befallen, genas aber paradoxerweise, – oder ganz natürlich – weil seine Gouvernante, die Herzogin von Ventadour, das Krankenzimmer absperrte und die Ärzte nicht zu ihm ließ. (»S’est opposée catégoriquement aux médecins«.) Die Krankheit nahm einen normalen Verlauf, und das Kind blieb am Leben, zur großen Schande der Ärzte. (»Cet enfant a été sauvé à la honte des médecins«, wie Lieselotte schrieb.) Nach der Régence wurde dieser vierte Dauphin im Jahre 1725 in der Kathedrale von Reims als Ludwig XV. gesalbt und gekrönt.
Ludwig XIV. traute dem Schicksal nicht mehr. Im Jahre 1714 änderte er das Grundgesetz über die Thronnachfolge, indem er auch seine unehelichen Nachkommen als erbberechtigt anerkannte. Auch sie waren von »königlichem Blute«, und wenn es um das Überleben der Dynastie ging, glaubte der König sich zu diesem ungewöhnlichen Schritt berechtigt.
Als der Sonnenkönig sein Ende nahen spürte, erhielt er am 24. August 1715 die Sterbesakramente und nahm in seltsamer Gelassenheit Abschied von seinen Höflingen. Dann ließ er seinen fünfjährigen Urenkel an sein Sterbebett kommen, um ihm sein geistiges Vermächtnis mitzuteilen, das auch ein vernichtendes Urteil über seine Herrschaft beinhaltete: »Mein Kind, Sie werden ein großer König sein. Ahmen Sie mich nicht nach in der Freude, die ich an Gebäuden und an Kriegen hatte; bemühen Sie sich im Gegenteil, mit ihren Nachbarn in Frieden zu leben. Geben Sie Gott, was Sie ihm schuldig sind; erkennen Sie die Verpflichtungen an, die Sie ihm gegenüber haben; lassen Sie ihn durch Ihre Untertanen ehren. Folgen Sie immer den guten Ratschlägen; bemühen Sie sich, das Leben Ihrer Völker zu erleichtern, was ich nicht fertiggebracht habe und worüber ich sehr unglücklich bin.«
Als am 31. August die Sterbegebete für ihn gesprochen wurden, betete der König mit lauter Stimme das Ave Maria und das Credo. In seinen Memoiren überliefert Saint-Simon, dass die letzten Worte des Sonnenkönigs gewesen sind: »O mein Gott, komm mir doch schnell zu Hilfe!«
Ludwig XIV. starb in Versailles am 1. September 1715 im Alter von 77 Jahren. Er hinterließ ein durch seine Eroberungskriege und seine maßlose Prunksucht völlig ruiniertes Königreich. »Niemand weinte ihm eine Träne nach«, wird berichtet. Die Nachwelt vergaß schnell den ruhmvollen Titel »Louis le Grand«, den man ihm in den Glanztagen seiner Herrschaft verliehen hatte.
François Bluche: Louis XIV. Fayard. Paris 1986.
Michel de Grèce: L’envers du Soleil. Louis XIV. Paris 1979.
Nancy Mitford: Le Roi-Soleil. Gallimard. Paris 1968.
Dirk Van der Cruysse: Madame Palatine, princesse européenne. Fayard. Paris 1998.
Bernd-Rüdiger Schwesig: Ludwig XIV. Rowohlt. Reinbek 1986.
Ziegler: Les coulisses de Versailles. Paris 1963.