Читать книгу Requiem für ein Kind - Joseph Groben - Страница 48
ОглавлениеDer tragische Tod des russischen Thronerben ist ein untypischer Extremfall im Rahmen dieser Darstellungen. Wo sonst in der Regel ein unabwendbares und unerbittliches Schicksalsgesetz den Verlust des Kindes verursachte, stand in diesem Fall eine persönliche Entscheidung des Vaters. Vor das Dilemma gestellt, entweder sein gesamtes politisches Lebenswerk, die radikale Reformierung des russischen Imperiums, oder seinen Sohn zu opfern, glaubte sich der Zar gezwungen, der Staatsraison zu gehorchen. Er wurde damit, notgedrungen und widerwillig, selbst mitverantwortlich für den Untergang des Zarewitschs. Der ungewöhnlich komplexe Sachverhalt erfordert ein weiteres Ausgreifen der Vorgeschichte.
Nach dem Tod seines Vaters, des Zaren Alexej (1645–1676), und seines Halbbruders, des Zaren Theodor (1676–1682), wurde Peter 1682, im Alter von zehn Jahren, zum Zaren gekrönt, gemeinsam mit seinem Halbbruder Iwan. Diese Doppelherrschaft war ein Kompromiss zwischen den Familien der beiden Gattinnen des Zaren Alexej, den Miloslawskis und den Naryschkins, die einen unerbittlichen Kampf um die Macht im Kreml führten. Da beide Jungzaren aber nicht imstande waren, die Herrschaft wirklich anzutreten, setzte ihre 25-jährige Schwester Sophie, eine sehr ehrgeizige und intelligente Frau, es durch, dass sie zur Regentin bestellt wurde und so die Macht jahrelang ausüben konnte.
Kurze Zeit später ließ sie das Gerücht ausstreuen, ihr Bruder Theodor sei von der Naryschkin-Familie vergiftet worden und auch ihr Bruder Iwan sei bedroht. Daraufhin brach ein Aufstand der Strelitzen aus, der Garde des Kremls, die sich der meisten Mitglieder und Anhänger der Naryschkin-Familie bemächtigten und sie niedermetzelten. Seit der 10-jährige Thronfolger diese Schreckensszenen im Kreml erlebt und selbst um sein Leben gezittert hatte, hasste er die Hauptstadt Moskau, wo er sich nur noch ungerne aufhielt. Dieses Jugendtrauma gehörte mit zu den Gründen, die ihn später an der Ostsee eine neue Hauptstadt gründen ließen. (Ähnlich war der 10-jährige Ludwig XIV. durch den Aufstand der Fronde (1642) traumatisiert worden, was auch die Gründung der neuen Königsresidenz Versailles stark beeinflusste.)
Bis zu seinem 17. Lebensjahr hielt sich Peter fast ausschließlich auf dem Lande, in Kolomenskoje, auf und kam nur nach Moskau, um protokollarische und repräsentative Pflichten auszuüben. Er erhielt zwar keine geordnete geistige Ausbildung, aber er erlernte zahlreiche Handwerke und füllte seine Zeit mit Kriegsspielen aus. Er ließ immer neue Waffen, Kanonen und Pulver kommen und hielt wahre Manöver ab. Immer mehr junge Adlige scharten sich um ihn, unterwarfen sich einer eisernen militärischen Disziplin und bildeten schließlich zwei Regimenter von je 300 Soldaten, die den Kern der späteren Armee Peters darstellten. Auf einem See, 120 km nördlich von Moskau, baute er mit zwei holländischen Seeleuten mehrere kleine Schiffe und manövrierte mit ihnen wie mit einer Kriegsflotte. Die Regentin Sophie, die auf die Treue der 20.000 Strelitzen zählte, sah mit Nachsicht und Geringschätzung auf die »Spiele« des jungen Zaren herab.
Im August 1689, als Peter 17 Jahre alt war, kam es zur Kraftprobe zwischen den beiden »Gegnern«. Viele Strelitzen schlugen sich auf die Seite des Zaren, so dass Sophie schließlich abdanken und sich in das »Neujungfrauenkloster« bei Moskau zurückziehen musste, wo sie ihre letzten 15 Lebensjahre verbrachte.