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Grétry war der erfolgreichste Opernkomponist Frankreichs im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Als er nacheinander seine drei Töchter verlor, lähmte der Kummer darüber seine musikalische Inspiration. Daraufhin wandte sich Grétry allmählich von der Musik ab und suchte ein neues, lohnenderes Tätigkeitsfeld in der Literatur. Wie er in ergreifenden Ausdrücken die Zerstörung seines Familienglückes schildert, das gilt als das persönlichste und lesenswerteste Kapitel seines umfangreichen Memoiren-Werkes.

Grétry wurde am 8. Februar 1741 in der belgischen Bischofsstadt Liège (Lüttich) geboren, die in ihm ihren berühmtesten Sohn erkannte und die ihn durch zahlreiche Auszeichnungen ehrte. 1750 wurde er Sängerknabe in der Stiftskirche Saint-Denis, mit 18 Jahren wurde er Violinist im Orchester derselben Stiftskirche seiner Geburtsstadt. Für eine heimlich komponierte Messe erhielt er den »Prix de Rome«. Ein längerer Aufenthalt in Italien (1761–1765) ermöglichte ihm, bei verschiedenen Komponisten (Casali, G.B. Martini) zu studieren. In Bologna wurde er in die berühmte Akademie aufgenommen.

Paris und Versailles

Auf Anraten Voltaires ging Grétry 1767 nach Paris, wo er schon bald nachhaltige Erfolge verzeichnen konnte, vor allem mit den komischen Opern »Lucile« (1769) und »Le tableau parlant«. Fortan brachte er jährlich mehrere neue Opern zur Aufführung, von denen ihm viele stürmische Huldigungen einbrachten. 1770 wurde seine erste Tochter, Andriette-Marie-Jeanne, genannt Jenny, geboren. Im folgenden Jahr heiratete Grétry die Mutter Jennies, Jeanne-Marie Grandon (1746–1807). Seine Erfolge ebneten ihm den Weg an den Hof von Versailles, wo er enge Beziehungen zu Marie-Antoinette, der zukünftigen Königin, knüpfte und wo zahlreiche seiner Opern zuerst aufgeführt wurden. Der Graf der Provence, der spätere König Ludwig XVIII., schrieb für ihn den Text zur Oper »La Caravane du Caire«, seinem bedeutendsten Werk. 1772 wurde die zweite Tochter, Angélique-Dorothée-Lucie, geboren, die er nach seiner Erfolgsoper »Lucile« nannte. Bei der Geburt der dritten Tochter, Charlotte-Antoinette-Philippine, war Marie-Antoinette Taufpatin. Kurze Zeit darauf wurde Grétry Musikdirektor der jungen Königin.

Sein Ruhm gelangte bald in seine Heimatstadt, wo mit großer Feierlichkeit seine Büste eingeweiht wurde. 1782 folgte er einer weiteren Einladung nach Lüttich und wurde offiziell geehrt und gefeiert. Äußerer Höhepunkt seiner Karriere in Frankreich war 1784 die Ernennung zum königlichen Zensor der Musik. Trotz seiner belgischen Herkunft – und seines breiten Lütticher Dialekts – galt Grétry allgemein als der »geistreichste und französischste« Komponist seiner Zeit, dessen Opern überall in Europa gespielt und nachgeahmt wurden. In einer einzigen Spielsaison wurden in Wien nicht weniger als elf verschiedene Opern Grétrys aufgeführt.

1786 erlebte er als Vater und als Komponist eine seltene Freude, die erste Talentprobe seiner Tochter Lucile. Mit sichtlichem Stolz schrieb er an das »Journal de Paris«: »Ich habe die Ehre, Ihnen anzuzeigen, dass das kleine Stück in einem Akt mit dem Titel ›Le mariage d’Antonios‹, das man heute in der Italienischen Komödie geben wird, von einer meiner Töchter, dreizehn Jahre alt, komponiert worden ist.« Er war sich der Zweischneidigkeit dieser frühen Leistung für den Charakter seiner Tochter bewusst und fügte deshalb hinzu: »Da ich jedoch keineswegs die Reinheit ihrer Jugend gefährden will, indem ich in ihr einen trügerischen Dünkel erwecke, muss ich hinzusetzen, dass ich, nachdem sie selbst alle Melodien mit Bass und einer einfachen Harfenbegleitung komponiert hat, die Partitur geschrieben habe, wozu sie selbst nicht in der Lage war.« (29. Juli 1786)

Grétrys Familienglück schien vollkommen zu sein. Gerne zeigte er sich mit seinen schönen Töchtern in der Opernloge und genoss »die Wonnen der Vaterschaft«. Nicht zufällig war es eine Lobeshymne auf das Familienglück gewesen, die ihn zu seiner berühmtesten Melodie inspirierte: »Où peut-on être mieux qu’au sein de la famille?« (»Wo lässt sich’s wohler sein als im Schoße der Familie?«) Bei zahlreichen öffentlichen Gelegenheiten wurde das Lied gesungen, während der Revolution, beim Russlandfeldzug Napoleons, bei der Rückkehr der Bourbonen, die Melodie hielt sogar Einzug in die Kirchenmusik, als Gesang der Glückseligen beim Weltgericht. Dass Grétry so vernichtend in seinem Heiligsten, seinem Familienglück, getroffen wurde, das macht die Tragik seiner Existenz aus. Noch im Jahre 1786 begann die Serie seiner Familientragödien und damit auch der künstlerische Niedergang des Erfolgskomponisten Grétry.

Der unglückliche Vater

In der Einleitung zum zweiten Band seiner »Memoiren oder Essays über die Musik« fasst Grétry seine Schicksalsschläge zusammen: »Ich habe in sehr kurzer Zeit drei Kinder verloren, mein Glück und das ihrer Mutter, die Hoffnung unseres Alters.« (»J’ai perdu en fort peu de temps trois enfants, qui fesaient mon bonheur et celui de leur mère, et l’espoir de notre vieillesse.«) Er zählt mehrere Auswirkungen auf: Infolge seines »tödlichen Kummers« hat er fast keine künstlerischen Einfälle mehr; seine Freude an der Musik hat abgenommen; er ist dickleibig geworden (»J’ai pris de l’embonpoint«).

Die ausführliche Darstellung der persönlichen Tragödie folgt im Schlusskapitel des Bandes, das den »Frühbegabungen« gewidmet ist. Im ersten, theoretischen Teil stellt Grétry die pauschale Behauptung auf, dass die frühen Talente weder der Kunst noch dem jungen Künstler nützen, ja sogar im Gegenteil, dass sie beiden schaden: Der Beifall erstickt beim Künstler den Wunsch sich zu vervollkommnen, die jugendliche Natur wird vergewaltigt, der Ehrgeiz wird zu einer verhängnisvollen Leidenschaft …

Als natürlichste »Anwendung« (»Application«) wählt der »unglückliche Vater« (»le père malheureux«) das Beispiel seiner eigenen Kinder. Mit geradezu beschwörenden Worten leitet er die Darstellung über sein Leid und seine Schuldgefühle ein: »Wer hat mehr als ich, wer hat mehr als ein unglücklicher Vater das Recht, die Leiden zu beklagen, die vor seinen Augen drei reizende Kinder ergriffen, welche alle die Beute eines ebenso frühen wie unerwarteten Todes geworden sind ? Könnte ich noch einmal die Zeiten zurückrufen, da sie mit nichts anderem als ausgelassenen kindlichen Spielen beschäftigt waren! Ich schwöre, ja ich schwöre es bei meiner Ehre – kein Lehrer, kein Buch sollte ihren Eifer anstacheln noch sie zu übergroßen Anstrengungen verleiten, die ein allzu zartes Wesen schwächen, den gesunden Instinkt abtöten und uns das Gift des Ehrgeizes (›le poison de l’amour-propre‹) einflößen, den schrecklichsten Feind, den wir zu bekämpfen haben.«

Jenny – die Stütze meines Alters

Über den ersten Verlust schreibt er am ausführlichsten. Jenny, die Älteste, »hatte das Antlitz einer Heiligen; ihre Sanftmut und Treuherzigkeit unterschied sie von den beiden Jüngeren. Oft sagte ich zu meinen Freunden: ›Dies ist die Stütze meines Alters. Sie wird, einer Antigone gleich, ihren Vater in die Sonne führen, um seine alten Tage zu erhellen.‹ – Die weitere Analyse beweist eine erstaunliche psychologische Intuition, die er allerdings erst im Nachhinein gewonnen hat, zu spät, um noch etwas zu ändern, aber nicht zu spät, dass seine Leser eventuell noch aus seinem Unglück lernen mögen. »Möge euch mein Beispiel eine Lehre sein! … Sie (Jenny) kam jedermann mit kleinen Gefälligkeiten zuvor, doch zeigten diese ihre Aufmerksamkeiten nur an, dass sie selbst ihrer bedurfte, damit man ihr ihre Schwächlichkeit erleichtere. Man hätte sie ganz für sich in einer süßen Trägheit dahinleben lassen sollen. Alles deutete darauf hin, dass sie dessen bedurfte, um sich entwickeln zu können. Ich erinnere mich, dass ihre hübschen Züge sich beim Lernen des Alphabets sichtlich entstellten. Aber, so meint man, wo gibt es Kinder, die man nicht mit sanfter Gewalt zur Arbeit zwingen muss? Alle würden in einer tiefen Unwissenheit verbleiben, wenn man sie nicht zwingen würde, etwas zu lernen. Was für eitle Täuschungen sind diese gouvernantenhaften Ratschläge! Die Kindheit ist die Zeit der Aktivität, aber der des Körpers und nicht des Geistes. Spielen, Springen, Herumtollen – das ist alles, was ihr ansteht. Wenn das Kind nichts Derartiges tun will, ist es krank …«

Requiem für ein Kind

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