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II. Begriff, gesellschaftliche Bewertung und Formen der Gewalt

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Wie in der Einführung dargestellt, überschneiden sich der Anwendungsbereich der §§ 223 ff. StGB und das gesellschaftliche Phänomen der Gewalt großflächig. Dementsprechend kommt für die Relevanz, das Verständnis und die Entwicklung dieses Deliktsbereiches der Frage erhebliche Bedeutung zu, was gesellschaftlich unter Gewalt verstanden und wie Gewalt bewertet wird.

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Der Begriff „Gewalt“ unterliegt hinsichtlich seines Verständnisses einem massiven Wandel im Zeitverlauf und wird in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen unterschiedlich ausgefüllt.[20] So werden in der Soziologie, die zwar grundsätzlich für einen weiten Gewaltbegriff steht, im Detail unterschiedlich weite Gewaltbegriffe vertreten.[21] Danach lassen sich zunächst verschiedene Formen der Gewalt unterscheiden. Eine erste Differenzierung trennt zwischen personaler und struktureller Gewalt. Unter den Begriff der strukturellen Gewalt fallen gesellschaftliche Rahmenbedingungen bzw. Zwangsmerkmale der sozialen Systeme. Dies können beispielsweise bestimmte Pflichten sein, die die Gesellschaft den einzelnen Personen auferlegt, wie Steuerpflichten, die Wehrpflicht oder grundsätzlich der Druck, der über Hierarchien ausgeübt werden kann.[22] Die personale Gewalt lässt sich weiter in die physische und psychische Gewalt ausdifferenzieren. Die physische Gewalt lässt sich ihrerseits unterteilen in Gewalt gegen Personen und Gewalt gegen Sachen (Vandalismus).

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In der Kriminologie wird regelmäßig auf die verschiedenen Formen der Gewalt nach der benannten soziologischen Kategorisierung verwiesen, es findet sodann eine Konzentration auf personale Gewalt statt, insbesondere auf solche gegenüber anderen Menschen.[23] Der rechtliche Gewaltbegriff ist noch enger. Der Gewaltbegriff des Strafgesetzbuches, welcher insbesondere im Rahmen der Nötigung (§ 240 StGB, vgl. → BT Bd. 4: Brian Valerius, Nötigung, Bedrohung und Zwangsheirat, vgl. § 5 Rn. 30 ff.) sowie der Raubdelikte (§§ 249 ff. StGB) eine Rolle spielt, wird nach überwiegender Auffassung als körperlich wirkender Zwang zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands[24] verstanden. Es handelt sich dabei um einen eher engen Gewaltbegriff, der die personale physische Gewalt gegen Personen umfasst.[25] Der statistische Gewaltbegriff des Bundeskriminalamts (BKA) in der PKS wiederum definiert Gewaltkriminalität als Summenschlüssel und fasst darunter ausschließlich physische Gewalt gegen Personen und dabei nur schwere Gewaltdelikte wie Mord, Totschlag, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, Raubdelikte sowie qualifizierte Körperverletzungsdelikte.

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Das deutsche Strafgesetzbuch schützt praktisch nur vor personaler Gewalt und hier in erster Linie die körperliche Unversehrtheit, nicht die psychische. Dementsprechend stellen die §§ 223 ff. StGB einen Teil der physischen Gewalt gegen Personen unter Strafe. Gewalt gegen Sachen wird von den Sachbeschädigungsdelikten sowie den Brandstiftungsdelikten abgedeckt. Psychische Gewalt lässt sich schwerer definieren und wird nur ausschnittsweise durch das StGB pönalisiert. So können zwar Drohungen mit Gewalt (Nötigung, Bedrohung, Erpressung) sowie verbale Aggressionen (als Beleidigung i.S.d. §§ 185 ff. StGB) geahndet werden. Andere Formen der psychischen Gewalt hingegen sind nicht oder nur schwer mit dem Strafgesetzbuch verfolgbar (z.B. Mobbing, Diskriminierung, Demütigung). Neuere Entwicklungen zeigen, dass der Gesetzgeber auch psychische Gewalt mehr in den Vordergrund rückt und mit dem Mittel des Strafrechts angehen will. So gibt es seit 2007 den Straftatbestand der Nachstellung (§ 238 StGB, dazu → BT Bd. 4: Jörg Eisele, Freiheitsberaubung und Nachstellung, § 6 Rn. 35 ff.), welcher Stalking unter Strafe stellt. Auch die Neuerungen im Sexualstrafrecht deuten auf eine solche Entwicklung hin.

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Die gesellschaftliche Wahrnehmung und Bewertung von körperlicher Gewalt haben sich in der jüngeren Vergangenheit in Deutschland stark gewandelt. Insgesamt hat sich in den westlichen Gesellschaften seit den 1970er Jahren der diesbezügliche Diskurs erheblich geändert.[26] Die körperliche Gewalt wird heute deutlich negativer bewertet als früher, dementsprechend stärker geächtet und es besteht eine stärkere Sensibilisierung für einschlägige Geschehensabläufe.[27]

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