Читать книгу Handbuch des Strafrechts - Andreas Popp, Jörg Eisele - Страница 175

1. Bagatellgrenze

Оглавление

72

Eine grundlegende konzeptionelle Frage der Körperverletzungsdelikte und insbesondere des § 223 Abs. 1 StGB besteht darin, in welchem Mindestmaß die körperliche Unversehrtheit bzw. die Gesundheit tangiert sein müssen, um von einem strafrechtlich relevanten Eingriff in das Schutzgut sprechen zu können. Umgekehrt formuliert bedarf es der Klärung, welche bagatellhaften Handlungen von den Tatbeständen nicht erfasst sein sollen.

73

Bei der körperlichen Misshandlung im Rahmen von § 223 Abs. 1 StGB wird dies in der Form umgesetzt, dass das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt worden sein müssen. Um Bagatellfälle von der Strafbarkeit auszuschließen, wird eine Erheblichkeitsgrenze gesetzt, die aber ihrerseits präzisiert werden muss. Um Rechtssicherheit und insbesondere Vorhersehbarkeit für Bürger*innen zu schaffen, richtet sich die Erheblichkeit nicht nach dem subjektiven Empfinden der verletzten Person, sondern wird aus Sicht eines*einer objektiven Betrachtenden bestimmt.[269] Maßgeblich für die Beurteilung der Erheblichkeit kann dabei die Dauer sowie die Intensität der Einwirkung sein.[270] Im Einzelnen sind etwa ein Ekelgefühl sowie das Empfinden von Angst als unerheblich anzusehen.[271] Ebenso genügen psychovegetative Vorgänge, wie Schweißausbrüche, Herzklopfen oder Durchfall, grundsätzlich nicht, wenn sie nur vorübergehend sind.[272] Selbst wenn das Zufügen von Stromstößen regelmäßig erheblich ist, reicht das bloße „Kribbeln in Beinen und Füßen“, hervorgerufen durch einen in das Badewasser geworfenen Fön, nicht aus.[273] Auf der anderen Seite können der Schmerz nach einer Ohrfeige[274] oder aber Verunstaltungen des Körpers, z.B. durch Abschneiden der Haare, eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung darstellen.[275] Da es sich bei weniger intensiven Eingriffen oft um Grenzfälle handelt, bedarf es einer zusammenfassenden Bewertung aller Einzelfallumstände.

74

Anlass zur Diskussion bietet auch die fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) im Straßenverkehr. Für einfache Körperverletzungen in diesem Bereich wird erwogen, den § 229 StGB um die Voraussetzung der „Leichtfertigkeit“ zu ergänzen und so die Strafbarkeitsschwelle anzuheben.[276] Andere Stimmen fordern demgegenüber sogar die Aufhebung der Strafbarkeit in diesem Bereich.[277] Für die Entkriminalisierung wird ins Feld geführt, dass bei der Bestrafung von jedenfalls leichten, durch geringfügiges Fehlverhalten entstandenen Körperverletzungen kein Strafzweck erfüllt würde. Weder General- noch Spezialprävention seien betroffen, da die fahrlässige Körperverletzung nicht von einer Willensbildung getragen wird und auch nicht davon auszugehen ist, dass durch partielle Entkriminalisierung die Rechtstreue der Bevölkerung abnehmen würde.[278] Auch ist die Teilnahme am Straßenverkehr insofern eine besondere Situation, als dass bei jeder fahrlässigen Handlung die Gefahr besteht, eigene Rechtsgüter zu verletzen. Der Anreiz, sich fahrlässig zu verhalten, sei so von Anfang an sehr niedrig.[279] Schließlich wird angeführt, dass die Anforderungen an die Fahrer*innen zu hoch seien und es allein vom Zufall abhänge, ob ein Sorgfaltsverstoß im Straßenverkehr zur Strafbarkeit führe.[280] Dem lässt sich entgegnen, dass der Erfolgseintritt bei Fahrlässigkeitsdelikten immer nur das Ergebnis der gefahrgeneigten Handlung ist und die strafrechtliche Vorwerfbarkeit sich bereits auf die Schaffung einer solchen Gefahr bezieht.[281] Der Gesetzgeber hat sich demgegenüber bislang dafür entschieden, der Problematik auf prozessualer Ebene zu begegnen und die Strafverfolgung zu beschränken.[282] Auf Exekutivebene wurde Mitte der 1990er Nr. 243 Abs. 3 RiStBV dahingehend geändert, dass das öffentliche Interesse bei einer im Straßenverkehr begangenen Körperverletzung nicht grundsätzlich zu bejahen sei.[283] Problematisch ist allerdings die unterschiedliche Handhabung der verschiedenen Möglichkeiten durch die Strafjustiz.[284] Eine bundesweit einheitliche Entkriminalisierung bzw. zumindest Steuerung der Verfahrenszahlen in diesem Bereich kann nur durch eine besondere gesetzliche Regelung im materiellen Strafrecht oder Verfahrensrecht geschaffen werden.

Handbuch des Strafrechts

Подняться наверх