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IV. Kriminologische Einordnung

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Auch aus kriminologischer Sicht kommt den Tatbeständen zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit eine hervorgehobene Bedeutung zu, während es sich zugleich um ein sehr diverses Deliktsfeld handelt. Während die Straftaten im Straßenverkehr in den Bereich der „Abweichung der Angepassten“[46] gezählt werden und als solche eine besondere Rolle spielen, wird die Gewaltdelinquenz angesichts ihrer gesellschaftlichen Relevanz als ein zentraler Kernbestand abweichenden Verhaltens bewertet. Dies ist unter anderem auch in den teilweise massiven Folgen begründet, die einschlägige Taten für die Opfer haben. Die Kriminologie untersucht in diesem Bereich sowohl die Entwicklung im Zeitverlauf als auch Ätiologie, Zuschreibungsprozesse, Täter*innen und Opfer.

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Bei der Ätiologie, der Frage nach den Ursachen von Gewaltdelinquenz, lässt sich kein einheitliches Bild zeichnen; zu unterschiedlich und vielseitig sind die verschiedenen Deliktsbilder und Geschehensabläufe. So kann Gewalt etwa einerseits Ausdruck einer Position sozialer Macht sein, andererseits aber auch einen Ausdruck von Hilflosigkeit darstellen. Dementsprechend kommt eine Vielzahl von chronologischen Theorien als Erklärungsansatz für Gewaltdelinquenz in Betracht, darunter etwa die von Durkheim entwickelte Anomietheorie.[47] Durkheim erkannte, dass die Gesellschaft durch raschen sozialen Wandel, Arbeitsteilung und stabile soziale Schichtung mit ungleichen Lebensverhältnissen geprägt sei. Kriminalität sei zunächst ein normaler Bestandteil einer jeden Gesellschaft und sei erst als Massenereignis überdurchschnittlichen Ausmaßes überhaupt besorgniserregend. An diese Betrachtung knüpfte die Chicagoer Schule Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA an. Es wurde nun der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und der Kriminalität in den Mittelpunkt gerückt. Merton erweiterte Mitte des 20. Jahrhunderts speziell die Anomietheorie und übertrug sie auf die US-amerikanische Gesellschaft.[48] Merton befand das Auseinanderfallen von kulturellen Zielen (Bildung, Wohlstand usw.) einerseits und des Zugangs bestimmter sozialer Schichten zu den notwendigen Mitteln, um diese Ziele erreichen zu können, andererseits als entscheidend für abweichendes Verhalten.[49] Darüber hinaus kommen aber etwa auch die Subkulturtheorie, Lerntheorien und die Theorie der Differentiellen Gelegenheiten als Erklärungsansätze in Betracht.[50]

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Auffällig ist die geschlechtsspezifische Ungleichverteilung im Bereich der Gewaltkriminalität. Ein Großteil der registrierten Gewaltkriminalität im Hellfeld wird von männlichen Tatverdächtigen begangen, im Jahr 2016 etwa 86 %[51]. Bei den registrierten Körperverletzungsdelikten[52] war der Anteil männlicher Tatverdächtiger mit 81 % kaum geringer.[53] Nur knapp 14 % der Gewaltkriminalität (18 % bei Körperverletzungsdelikten) in diesem Jahr entfielen auf weibliche Tatverdächtige. Bei einer Dunkelfelduntersuchung in Bochum ließ sich feststellen, dass die Geschlechterunterschiede in der Häufigkeit der Gewaltstraftaten umso ausgeprägter sind, je schwerer das jeweilige Delikt ist.[54] Die Geschlechterverteilung hinsichtlich der Opfer von Körperverletzungsdelikten ist weniger drastisch und etwas ausgeglichener: 63,5 % der registrierten Opfer 2016 waren männlich, 36,5 % weiblich.[55]

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Empirische Studien zeigen, dass das Viktimisierungsrisiko stark von Geschlecht, Alter und Bildungsgrad abhängig ist. Männer weisen ein höheres Opferrisiko auf als Frauen, gleiches gilt für jüngere Personen im Verhältnis zu älteren.[56] Aus diesen Befunden folgt, dass bei einem großen Teil der Täter*in-Opfer-Konstellationen beide Personen männlichen Geschlechts sind. Bei gemischtgeschlechtlichen Täter*in-Opfer-Konstellationen ist auf eine deutliche Asymmetrie in der Opfereigenschaft zu Lasten des weiblichen Geschlechts zu schließen.[57] Bezüglich der Altersverteilung von Täter*innen und Opfern gilt, dass Körperverletzungsdelikte überwiegend in der eigenen oder benachbarten Altersgruppe begangen werden. Dies trifft insbesondere auf Kinder, Jugendliche und Heranwachsende zu.[58] Wie sich die Beziehung zwischen Täter*innen und Opfer auf das Anzeigeverhalten auswirkt, ist nicht eindeutig geklärt. Ein überwiegender Teil der empirischen Studien berichtet jedoch von einem Zusammenhang zwischen der Bekanntschaft des Opfers mit dem*der Täter*in und dem Anzeigeverhalten. Dabei scheint die Wahrscheinlichkeit für eine Anzeige bei unbekannten Täter*innen am höchsten zu sein.[59]

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Als besondere Gruppe gerade auch im Bereich der Gewaltdelinquenz wurden von der polizeilichen Praxis und der Kriminologie die sog. jugendlichen Intensivtäter*innen[60] herausgearbeitet. Diese Kategorisierung geht auf kriminologische Befunde zurück, denen zufolge eine nur kleine Gruppe junger Täter*innen für einen erheblichen Anteil gerade schwerer Delikte verantwortlich ist. So konnte für Deutschland in einer Duisburger Studie festgestellt werden, dass ca. 6 % der Befragten (14. und 15. Lebensjahr) die Hälfte aller Taten und über Dreiviertel der Gewaltdelikte begangen hatten, die in dieser Altersgruppe zu verzeichnen waren.[61] Die aus diesen Befunden abgeleitete polizeiliche Praxis, diese Personengruppe besonders intensiv und stärker repressiv zu behandeln ist im Hinblick auf die damit verbundene Stigmatisierungswirkung allerdings stark umstritten. So konnte etwa auch die Duisburger Studie weder die These einer „life-course-persistent antisocial behaviour“ (eine bis ins hohe Erwachsenenalter starke Delinquenzbelastung) noch die „Early Onset-Annahme“ (frühe delinquente Auffälligkeit als Bedingung für eine lebenslange Persistenzannahme) bestätigen. Vielmehr ist das Verlaufsbild der Delinquenz selbst bei Intensivtäter*innen von Abbruchprozessen geprägt – und gerade nicht von (lebenslanger) Persistenz.[62]

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Gewaltdelikte – insbesondere solche schwerer Art bzw. durch Jugendliche – spielen in der Medienberichterstattung, vor allem der Boulevardmedien, eine herausgehobene Rolle. Dies ist durch den Sensationscharakter bedingt, den medial in Szene gesetzte (Gewalt-)Kriminalität besitzt. Die Medien erhoffen sich auf diesem Weg höhere Verkaufszahlen bzw. bessere Quoten und insgesamt mehr Aufmerksamkeit durch Konsumierende.[63]

1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben§ 4 Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit › C. Rechtliche Regelung und besondere Fallgruppen

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