Читать книгу Wirksam führen - Ärztinnen und Ärzte in Führung - Jörg Gottschalk - Страница 11
Raus aus der Komfortzone
ОглавлениеDie meisten Aufgaben, die Ihnen in Ihrer (neuen) Funktion begegnen, stehen nirgendwo geschrieben, da es kein Anforderungsprofil gibt. Weil Sie in der Hierarchie sehr weit oben stehen, wird Sie weder eine Kollegin oder ein Kollege, noch eine_r Ihrer Mitarbeiter_innen auf Ihren Auftrag ansprechen. Entweder setzen alle voraus, dass Sie wissen, was zu tun ist oder die, die wissen, dass Sie es nicht wissen, werden abwarten, was Sie herausfinden werden.
Der erste Reflex, dem viele erliegen, wenn sie eine neue Aufgabe übernehmen, deren Inhalte, Anforderungen oder Verhältnisse ihnen gänzlich unbekannt sind, besteht darin, sich zunächst auf das ihnen Bekannte und Vertraute zu konzentrieren. Kaum treten Ärzt_innen ihren Dienst an, tauchen sie ein in die Patientenversorgung. Es wird Frühbesprechung gehalten, Patienten versorgt oder operiert. Dort liegt das Bekannte, es handelt sich um ihre ganz persönliche Komfortzone.
Es gibt gute Gründe dafür, sich zunächst mit aller Energie auf die Medizin zu stürzen: Sie tragen schließlich die Letztverantwortung für die Versorgung ihrer Patient_innen. Sie müssen sich darin versichern, dass die Versorgung in Ihrer Abteilung gut und sicher ist, dass Ihre neuen Kolleg_innen einen guten Job machen.
Vermutlich sind Sie der Meinung, genau das entspräche der Erwartung Ihrer Kolleg_innen. In diesem Fall sprechen wir von Erwartungs-Erwartung: Ihrer Erwartung davon, was andere von Ihnen erwarten. Beinahe alle Neueinsteiger meinen, sie müssten schnelle Zeichen dafür setzen, wie viel sie von Medizin verstehen, dass sie herausragende, klare medizinische Entscheidungen zu treffen in der Lage sind oder sie initiieren rasch neue organisatorische Veränderungen. Sie wollen Kante zeigen. Ein solches Handeln entspricht nicht mehr der Erwartungshaltung einer Organisation oder gar ihrer Mitarbeiter_innen. Deshalb ist das Spiel mit Erwartungs-Erwartungen grundsätzlich trügerisch. Sie versuchen Erwartungen zu erfüllen, die niemand an Sie stellt. Auf diese Weise wird meist das Gegenteil dessen erreicht, was beabsichtigt ist. Sie arbeiten mit Ihrer ganz persönlichen Einschätzung dessen, was andere vermeintlich von Ihnen erwarten. Das sagt mehr über Sie selbst und Ihre Erwartungen aus, als über die der anderen. Denn das einzig zweifelsfreie am ersten Tag ist, dass Ihnen die Erwartungen ihrer Organisation völlig unbekannt sind. Es handelt sich um Ihre individuelle Fantasie über die Wirklichkeit, die lediglich auf Ihren Erfahrungen beruht.
Ihre Abteilung besteht bereits sehr lange. Auch ohne Sie wurden Ihre Patientinnen und Patienten gut versorgt. Ebenso hing der Heilungserfolg in der Vergangenheit nicht alleine von Ihrem Vorgänger ab, wie er jetzt nicht ausschließlich von Ihnen abhängt. Versorgung resultiert immer aus einem Gesamtkunstwerk, dessen wichtiger Teil, aber eben nur ein Teil Sie zweifelsfrei sind. In der Zeit, in der Sie sich intensiv um Ihre Patient_innen kümmern, werden Sie sich nicht all den anderen Fragen und Themen zuwenden können, die Ihre (neue) Aufgabe wirklich ausmachen. Seien Sie gewiss: Gerade in der ersten Zeit begegnen Ihnen Probleme, Störungen und Schwierigkeiten, die mit allem zu tun haben, nur nicht mit Medizin.
Ein gelungener Start mit einer neuen Führungsposition beginnt deshalb mit einer wohl überlegten, strukturierten Erkundungsreise durch das Unternehmen. Die erste wirkliche Herausforderung für Ärztinnen und Ärzte liegt darin, dem Reflex konsequent zu widerstehen, so lange wie möglich in ihrer persönlichen Komfortzone zu verbleiben, die sogenannte unbekannte Zone zu vermeiden und in den eigenen Grenzen zu verharren. Vielmehr gilt es, das Unbekannte intensiv zu erforschen.
Auf diese Erkundungsreise durch das Unternehmen werden wir uns gemeinsam begeben. Zuvor möchte ich die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Reise schaffen, sozusagen den Koffer für Ihre Reise packen.