Читать книгу Wirksam führen - Ärztinnen und Ärzte in Führung - Jörg Gottschalk - Страница 16
Rolle und Person
ОглавлениеInnerhalb der Organisation übernimmt jede Person eine Funktion, sie nimmt Aufgaben wahr. Dort muss sie Vorgaben erfüllen, Befehle empfangen, ist von der Arbeit Anderer abhängig, sie streitet sich oder wird von ihren Vorgesetzten angeschrien. Es wird als gegeben hingenommen, dass sie sich auch mit 40 Jahren und mehreren Diplomen in der Tasche im Angesicht des eigenen Chefs vorkommt wie ein Abiturient, ängstlich und klein.
Wenn dieser Mensch, vielleicht eine Oberärztin oder ein Oberarzt, das Krankenhaus am Abend verlässt, verwandelt er sich wieder in den selbstbewussten Menschen, die Mutter oder den Vater, Freundin oder Freund, den alle kennen, schätzen, bewundern und respektieren.
Wie kommt es dazu, dass sich Mitarbeitende innerhalb und außerhalb eines Unternehmens derart unterschiedlich verhalten, fühlen und zumeist auch sprechen? Welche Auswirkung hat ein solch widersprüchliches Verhalten auf ihre Arbeitsbeziehung im Unternehmen? Der Antwort auf diese Fragen nähere ich mich in den folgenden Kapiteln.
Organisationen sind Zweckb ündnisse
Menschen schließen sich in Organisationen zusammen, um einen Zweck zu erfüllen, den sie alleine nicht erfüllen können. Könnten sie diesen Zweck auch ohne andere erfüllen, würden sie die allgegenwärtigen Restriktionen, Probleme und Konflikte ganz sicher nicht aushalten wollen. Organisationen sind reine Zweckbündnisse.
Die Mitgliedschaft in einem Unternehmen ist mit einer Rolle verbunden. In ihr wird bestimmt, welchen Beitrag ein_e Mitarbeiter _in der Organisation leisten soll, damit diese ihre Ziele erreichen und das Gemeinschaftswerk „Unternehmen“ seinen vorbestimmten Zweck erfüllen kann. Die Rollen in einem Krankenhaus sind beispielsweise: Chefarzt, Stationsschwester, leitende Physiotherapeutin, Pförtner, IT-Netzwerkadministratorin oder Geschäftsführerin.
Eine Rolle existiert zunächst ganz ohne Menschen, quasi personen- und geschlechtsneutral. Die Rolle definiert, welche Kompetenzen und Fähigkeiten notwendig werden, welche Beiträge zu leisten sind, welchen Rang die Rolleninhaber im Unternehmen einnehmen, mit welchen Privilegien sie ausgestattet werden und was sie dürfen oder eben nicht dürfen.
Der Rang einer Rolle bildet das Gewicht ab, den vermeintlichen Wert, den sie in einem Unternehmen spielt. Die Rolle des Chefarztes ist eine ranghöhere, eine bedeutendere, als die einer Reinigungskraft. Sein Gehalt, sein Einfluss auf Entscheidungen und seine Verantwortung gehen weit über die einer Servicekraft hinaus. Er genießt weit mehr Privilegien als andere: Büro, Dienstwagen bis hin zum Grad seiner öffentlichen Wahrnehmung. Seine Fehler dagegen wirken ungleich stärker.
„Eine Rolle ist unpersönlich: es kommt nicht darauf an, dass der Beitrag von jemand Bestimmtem eingebracht wird – nur, dass es jemand tut. Im Gegenteil: wenn eine Organisation zu abhängig ist von dem Beitrag einer ganz bestimmten Person, hat sie ein Problem. Rollen sind natürlich auch viel Zeit überdauernder als Personen: Leute kommen und gehen, aber bestimmte Beiträge werden immer gebraucht.“3
Würden Unternehmen nur aus „gesichtslosen“ Rollen bestehen und verhielten sich deren Inhaber tatsächlich rollenadäquat, wäre der Erfolg eines Unternehmens vorprogrammiert. Es gäbe weder Konflikte, noch Widerstände, förmlich nichts, was dem Erfolg entgegenstehen würde. So jedenfalls könnte man meinen, wenn sich Führungskräfte über ihre Mitarbeitenden beklagen, wenn es wieder einmal „menschelt“.4
Rollen und Interessen - Personen und Bed ürfnisse
Doch werden Rollen von Personen ausgefüllt, interpretiert und weiter entwickelt. Alle Beiträge und alle Leistungen im Unternehmen werden von Personen in ihren Rollen erbracht. Von nun an sind Sie nicht mehr Sie selbst, sondern Sie sind Sie in Ihrer Rolle. Eine symbiotische Beziehung auf Zeit, die unauflösbar ist und es immer bleiben wird, solange Sie diese Rolle wahrnehmen. Das ist, was Sie von nun an für Ihre Organisation sein werden, für Ihre Mitarbeitenden und ihre Führungskräfte ebenso für Ihre Patient_innen. Sie erfüllen die Rolle des Gottes in Weiß, von dem niemand wirklich wissen möchte, was er am Wochenende treibt, damit man weiter zu ihm aufschauen und sich an ihm festhalten kann. Sie sind nicht mehr Sie (selbst), sondern Sie (selbst) in Ihrer Rolle - und das ist ein riesiger Unterschied.
Personen bringen ihre ganze Persönlichkeit, Wissen, Erfahrungen, Ängste, Wertvorstellungen und vieles mehr in ihre Rolle ein. All das ist einzigartig und höchst individuell. Sie interpretieren ihre Rolle und füllen sie aus. Menschen sind bemüht, die unausgesprochenen Erwartungen an sie in ihren Rollen möglichst gut zu erfüllen.
Gleichzeitig unterliegen Personen Bedürfnissen, zum Beispiel nach Anerkennung, Bewunderung, höflichem Umgang oder dem Wunsch, ethisch adäquat zu handeln. In ihren Rollen verfolgen sie Interessen, als Person haben sie Bedürfnisse. Die Unterscheidung zwischen Interessen und Bedürfnissen durchzieht eine Organisation wie ein roter Faden. Sie treffen im Alltag spürbar aufeinander und können Menschen, Teams und ganze Abteilung in den Widerspruch treiben. Die Beziehung zu einem Menschen mag persönlich sein, vertraut, vielleicht gar freundschaftlich. Und dennoch verfolgt er in seiner Rolle Interessen, die manchmal offen, oft aber versteckt und unbemerkt ihren Weg suchen. Die größten zwischenmenschlichen (Selbst-)Täuschungen zwischen Vorgesetzten und ihren Mitarbeiter_innen resultieren aus dem Missverständnis, dass eine persönliche Beziehung stärker wirke als Interessen.
Dabei bringt ein Mensch niemals seine gesamte Persönlichkeit in seine Rolle ein. Es würde sowohl die Rolle als auch alle Kolleg_innen überfordern. Es existiert Privates, Persönliches oder einfach nur etwas, das nicht zur Rolle passt bzw. nicht erwartet wird. Jeder verhält sich in seiner Rolle maximal erwartungs- und rollenkonform. Besondere Vorlieben, Gefühle, Hobbys oder vermeintlich nicht rollenkonforme Verhaltensweisen, die ihren Platz nur im Privaten haben, werden soweit wie möglich ausgesperrt.
Nicht alle Gefühle werden ausgelebt, jeder bemüht sich um Selbstkontrolle - soweit es gelingen kann. Immer gibt es etwas, dass weder Kolleg_innen noch Vorgesetzte wissen, bemerken oder fühlen können. Dieser geheime private Raum hat mit dem öffentlichen Raum, in dem wir uns in der Arbeitswelt bewegen, nichts gemein. Und dennoch beeinflusst er die Art und Weise wie die Rolle ausgefüllt wird. Überhaupt wird die Rolle erst durch die Person zum Leben erweckt, und zwar jede in einer besonderen Art.
Aus diesem Rollendenken entwickelt sich zwangsläufig die Erkenntnis, dass es im Unternehmen nicht (primär) um Sie als Person geht. Das mag hart oder befremdlich klingen, sehen Sie sich doch gerne vor allem erst als Mensch. Der Gedanke hat etwas Verstörendes und Erleichterndes zugleich. Es geht um Ihre Rolle und die damit verbundenen Interessen: Ihre, die der anderen und die der Organisation. Als Person sind Sie im Unternehmen zwar untrennbar mit Ihrer Rolle verbunden, Sie füllen sie Tag und Nacht aus und bringen Ihre Bedürfnisse ein. Sie sind aber nicht die Rolle, was einen ganz erheblichen Unterschied ausmacht. Für Sie persönlich sind Sie nicht die Rolle und für die anderen sind Sie nicht die Person.
Wer diese wichtige Differenzierung verinnerlicht wird eine emotionale Distanz zwischen sich und dem Geschehen im Unternehmen gewinnen können und feststellen, dass viele Reaktionen, Handlungen, Kritik oder auch Vorwürfe von Kolleg_innen nicht primär Sie selbst (als Menschen) meinen, sondern Sie ihn Ihrer Rolle im Unternehmen. Immer und ohne Ausnahme wird das, was Sie als Person wahrnehmen, jeder Kontakt, jede Beziehung, jedes Gespräch überlagert von Ihrer Rolle als Chef_in, Untergebene_r. In einem Unternehmen existiert kein interessenfreier Raum, weder in der Beziehung zwischen Vorgesetzten zu ihren Mitarbeiter_innen, noch zwischen Kolleg_innen untereinander.
Personen und ihre Rollen sind untrennbar verbunden. Diese Verknüpfung löst sich nicht nach Feierabend auf. Wenn Sie mit Ihrem Vorgesetzten befreundet sind und Sie ein intensives und vertrauensvolles Verhältnis miteinander pflegen, wird sich Ihr Freund im Unternehmen anders verhalten als am Abend beim Bier in der Kneipe. Es wird Geheimnisse geben, die es alleine im Privaten nicht gäbe. Im Unternehmen vertritt er seine Interessen und die seiner der Kolleg_innen, mit denen er keine Freundschaften pflegt. Ihre gemeinsame Beziehung wird dennoch nicht von einem Vertrauensverlust, sondern von einem Interessenkonflikt überlagert. Ebenso wenig werden Sie Ihrem befreundeten Vorgesetzten alles verraten, denn auch Sie geraten in einen Interessenkonflikt zwischen ihm und Ihren Kolleg_innen.
Eine enge, freundliche Beziehung zu seinen Mitarbeitenden zu pflegen, muss kein Fehler sein. Für viele Charaktere, Führungsstile oder Situationen ist es sogar hilfreich. Sie empfinden eine große Nähe, vielleicht sogar eine Form von Freundschaft. Doch wird jede Beziehung von Bedürfnissen und Interessen überlagert. Eine gute Beziehung zu seinem Vorgesetzten verspricht für den Rangniedrigeren Sicherheit, einen besseren Zugang zu Informationen, sie hilft der eigenen Karriere oder befördert vielleicht sogar sein Einkommen. Das passiert nicht mit Absicht, aber es schwingt immer mit und beeinflusst. Manch ein Vorgesetzter reibt sich verwundert die Augen, enttäuscht, wenn er seine Rolle irgendwann verlässt. Er ist nicht darauf vorbereitet, dass von einem Tag auf den anderen bislang enge und scheinbar stabile Beziehungen beendet werden oder mit der Zeit abkühlen. Was oder wer am Ende des Tages übrig bleibt, ist eine echte Beziehung, eine wirklich sehr persönliche.
Wenn Sie als neuer Chefarzt oder neue Chefärztin Ihr „Rollenspiel“ beginnen, werden Ihnen vielfältigste Erwartungen begegnen. Vielleicht halten einige Mitarbeiter_innen Sie in der aktuellen Situation für einen echten Hoffnungsträger, endlich passiert etwas nach Jahren des Stillstandes unter Ihrem Vorgänger. Sie erfüllen sehr gerne all die Erwartungen, die Ihnen unaufgefordert entgegenspringen. Irgendwann aber haben Sie die Veränderungserwartungen Ihrer Mitarbeitenden erfüllt und die schnöde Unternehmensrealität hält Einzug. Auf einmal wird Veränderung anstrengend. Aus Sicht Ihrer Mitarbeitenden wollen Sie auf einmal zu viel, Sie aber ziehen Ihren Stiefel durch. So schnell, wie sich Ihnen Ihre Mitarbeiter_innen zugewendet haben, so schnell kehren Sie Ihnen den Rücken. Interessen ändern sich, es entstehen andere, neue Bedürfnisse. Es wird schwer werden, die eigene Rolle ständig neu zu definieren und an die veränderte Situation anzupassen. Es geht schließlich immer auch um Glaubwürdigkeit.
Viele Führungskräfte messen diesen Zusammenhängen wenig Bedeutung zu. Sie bewegen sich auf einer großen, sehr verzwickten „Bühne“, auf der alle Teilnehmer_innen ihre Rollen verkörpern, sie interpretieren. Ist das Theaterstück beendet, geht es an die Bar, wo das wahre Leben stattfindet.
Und auch dort geht es nicht ganz unkompliziert zu, denn manche Menschen mögen sich, andere eben nicht: Sympathie und Antipathie. Beides existiert nicht nur im privaten Raum, sondern eben auch im öffentlichen, in Ihrem Unternehmen.