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Heimkehr

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An der verfallenen Mauer einer eingestürzten Ruine kauerten zwei Kinder und bauten Burgen aus dem roten Ziegelstaub. Sie hatten dort einen wunderbaren Spielplatz gefunden; wo hätten sie denn sonst dieselbe warme Sonne gefunden und wären trotzdem so ungestört gewesen? Wer verirrte sich schon in das Ruinenviertel? Höchstens wühlte einmal eine alte Frau aus den Trümmern Brennholz hervor oder ein verlaufener Hund jagte nach Ratten.

Und doch ging einer langsam zwischen den Häuserresten dahin, ohne rechts und links zu schauen und so sah er auch nicht die Tafel »Gesperrt, Einsturzgefahr«. Der Mann war mager und ungepflegt. Haar und Bart trug er ungeschnitten, die Kleidung zerrissen, das Gesicht sonnenverbrannt und zerfurcht. Er hatte einen Sack in der linken Hand, der aber keinen Inhalt zu bergen schien und der leicht am Boden schleifte.

Das war seine Heimkehr. Es kam ihm jetzt nicht in den Sinn, dass er sich den Augenblick immer wieder ausgemalt hatte, das Einbiegen in seine Gasse, das Vorbeigehen am Greißlerladen, wo er seinerzeit seine ersten Einkäufe getätigt hatte, und dann würde er vielleicht wieder über den hervorstehenden Pflasterstein stolpern, über den er sich schon bei seinen Schulgängen oft genug geärgert hatte – es war gerade der zweite rechts neben der Laterne – und wollte man dieser ausweichen, musste man wohl oder übel über besagten Stein.

Und dann, wenn er bei dem letzten etwas vorgebauten Haus vorbeikommen würde, dass das letzte Hindernis zur Sicht seines Geburtshauses ist, ob er wohl einen Augenblick verweilen sollte oder ob er gleich auf das alte schmiedeeiserne Tor zustürzen und die Stiegen hinaufstürmen würde? Sollte er die Tür aufsperren und sich leise in die Küche zur Mutter schleichen oder sollte er an allen Türen Sturm läuten – auch bei den Nachbarn? – Ich bin wieder da!

Es kam ihm nicht der Gedanke, dass auch seine Heimstätte ein Trümmerfeld sein könnte und noch verbarg ihm die stehen gebliebene Vorderfront des Nachbargebäudes die verkohlte Mauer seines Hauses. Und als er jetzt um die Ecke bog, fasste er den Anblick nicht. Er sah sich hilflos suchend um und tappte willenlos an der Mauer entlang bis zum leeren Haustor, das mit Ziegeln bedeckt war. Jedes Denken in ihm war erstarrt.

Das Bild der blumengeschmückten Vorderseite war viel lebendiger in ihm und viel wirklicher. Er sah nicht, dass die Wohnungen ausgebrannt waren, dass in den noch stehenden Mauern Einschusslöcher waren. Nur im Unterbewusstsein merkte er, dass etwas nicht in Ordnung war.

Der Sack mit den spärlichen Habseligkeiten, den er kilometerweit mitgezogen hatte, entfiel seiner Hand. Und sein Fuß trat achtlos darauf, nicht achtend des seltenen Schmetterlings, der in einem Schächtelchen sorgsam auf eine Stecknadel aufgespießt für seinen Bruder bestimmt gewesen war. Und der holzgeschnittene Hund war Gertrud vermeint gewesen. Wer aus der Ferne kommt, steht nicht gern mit leeren Händen da.

Dort, wo früher das Stiegenhaus gewesen war, böschte sich ein riesiger Ziegelhaufen und oben waren noch die Haustüren zu erkennen. Die Beine begannen höher zu klettern, glitten zurück, hier war noch ein Teil des Geländers, dort fand der Fuß an einem Türstock Halt. Die Augen blickten starr nach oben, das Loch, das einmal sein Zuhause vom Gang und damit von der Außenwelt getrennt hatte, kam immer näher. Seine Hände klammerten sich an einen verkohlten Balken und das schwankende Holz trug noch einmal, die Schwelle schwang.

Und nun richtete er sich benommen auf. Er sah sich noch einmal über die Straßen gehen, hörte seine Schritte, Wälder, Berge, Wiesen glitten vorbei. Und verstörte Menschen gingen an ihm vorüber und er wusste nicht mehr, was er mit ihnen gesprochen hatte. Und er setzte wieder den rechten Fuß vor und dann den linken und dann wieder den rechten und wieder den linken und immer weiter und weiter, auch noch im Schlaf ein paar Stunden in einer leeren Scheune.

Er strich das wirre Haar aus der Stirn und hob die Augen. Statt der Küche gähnte ihm ein Loch entgegen und aus seiner Kammer schob sich ein Bruchziegelhaufen. Ein paar Schritte führten ihn zur Wohnzimmertür. Sie schien noch heil, doch als er sie durchschritt, löste sie sich aus den Scharnieren und fiel polternd zu Boden. Links war der Bücherkasten umgestürzt und neben Vaters Klassikern lagen die Scherben der italienischen Blumenvase, das Erbstück der Großmutter. Und da fand er gar ein altes Kinderbuch von ihm, aufgeschlagen, sodass ihm die bunten Bilder entgegenlachten, als er vorsichtig den Staub davon wegwischte. Und neben dem Klavier lag ein Haufen von Noten über das gelbe Seidentischtuch gestreut, auf dem noch der rote Kirschenfleck prangte, der seinerseits Vater so in Zorn versetzt hatte, weil er Kompott verschüttet hatte.

Über den von Sprüngen durchzogenen Boden tasteten die Füße zum Klavier und die bebenden Finger öffneten den Deckel, dass ein feiner Staubfaden zu Boden rieselte. Noch stand der Klavierschemel da und wie vor undenklich langer Zeit setzte er sich und die Hände suchten auf den Tasten. Und wirklich kamen einige Töne zum Vorschein und zerflatterten im aufgewühlten Staub und zögernd fanden sie sich zu einer Melodie zusammen, noch stockend und tropfenhaft. Langsam ging es fließender und dazwischen klang wieder die taktzählende Stimme des Klavierlehrers so wie einst. Er hörte die verstimmten Saiten nicht mehr, nur die reinen klaren Töne klangen auf und dazwischen mischte sich der Bass des Vaters, der manchmal an den Winterabenden ein Liedchen zum Besten gab, und die winselnden Geigentöne des Bruders; sie klangen auf einmal ganz seltsam schön. Das Spiel wurde lauter und jubelnder, ein Abend in fröhlicher Geselligkeit mit Freunden fiel ihm ein und der Nachbar, der immer wieder ruhemahnend an die Wand klopfen musste.

Er hörte das leise Lachen Gertruds in die Akkorde hineinklingen und nun war der Abend wieder da, an dem er ganz allein für sie gespielt hatte und ihre schmale Gestalt war im viel zu großen Lehnstuhl versunken und hatte gelauscht. Die Finger glitten nun wie von selbst über die Tasten, bis sie mit einem weichen Dreiklang die Klänge schlossen. Er sah Gertrud zum Fenster treten und ihre zarte Silhouette sich gegen den rötlichgrauen Abendhimmel abheben. Damals war er still am Schemel sitzen geblieben, ganz versunken in diesen Anblick.

Er wollte aber aufstehen, ganz leise hinter sie treten und den Arm ganz leicht um die feine Schulter legen. Und er erhob sich, langsam schleppe er sich zum Fenster und wie damals fiel ein Sonnenstrahl herein. Die Rechte krallte sich in den Vorhang und der Blick fiel irgendwohin in den Himmel. Unter den Füßen verbreiterte sich der Sprung, der quer durch das Zimmer lief, und ein Ziegel fiel in die untere Wohnung und dann noch einer, es löste sich ein Balken und rutschte ab, und eine Mauer neigte sich und stürzte mit dem ganzen Trakt zusammen. In das Rollen irrte noch ein weher Laut von reißenden Klaviersaiten – dann war anstelle des Gebäudes nur noch eine blasse Staubwolke, die sich langsam zerteilte und dann absank.

Vorn an der Ruine hoben zwei Kinder die Köpfe und wandten sich kurz darauf wieder ihrem Spiel zu.

Manuskript mit Datum vom 16.07.1949

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