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Die Melodie

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Heute bin ich sechsundsiebzig Jahre alt, und ich fühle, dass mein Denken schwerfällig wird und meine Erinnerungen verblassen. Bevor sich aber die Schleier des Vergessens endgültig über mich senken, habe ich noch eine Pflicht zu erfüllen: Ich muss die Spieldose vernichten. Dies hätte schon damals geschehen sollen – mein Leben wäre anders verlaufen.

Damals – das sind die Tage vor Beginn des sechsten Semesters meines Studiums an der Wiener Musikakademie. Ich hatte die Ferien in meinem Heimatort, einem kleinen Dorf in den Voralpen, verbracht. Eines Tages erzählte mir jemand von einem alten Spielmann, der sich einem versteckten Tal niedergelassen hatte, er warnte mich aber zugleich, ihn aufzusuchen. Einigen, die dies versucht hätten, wäre es nicht gut bekommen.

Zu der Zeit besaß ich noch so viel gesunden Lebensmut, um mich über solche Bedenken hinwegsetzen zu können. Mich interessierten einige italienische Geigen, die sich in seinem Besitz befinden sollten und ich machte mich schon am nächsten Tag auf den Weg.

Meine Wanderung führte mich in eine verlassene Gegend. Langsam gingen die Hänge des Tals in zerklüftete Wände über, sie stiegen immer höher und höher und schoben sich allmählich so weit zusammen, dass kein Sonnenstrahl den Talgrund mehr erreichen konnte.

Eine eigenartige Beklemmung erfasste mich, als ich die Hütte des Musikanten betrat. Aus einer Ecke des dämmrigen Raumes hörte ich gemurmelte Worte. Auf einer niedrigen Bettstatt lag dort ein alter Mann – aus den zerschlissenen Decken sah nur der Kopf hervor, der Kopf eines Greises, an dem schlohweißes Haar und einzelne rabenschwarze Strähne einen eigenartigen Gegensatz bildeten.

Nur schwer konnte ich die Aufmerksamkeit des Alten auf mich lenken und ein Gespräch beginnen. Als ich die Rede auf seine Geigen brachte, glitt ein schwaches trauriges Lächeln über seine Züge. Ihr jungen Leute, sagte er, schlagt alle den falschen Weg ein. Das Instrument ist doch nur ein Mittel zum Zweck. Was ihr finden wollt, ist aber die Melodie. Die Melodie!

Seine Hände tasteten nach einem Schemel am Kopfende des Bettes. Dort stand eine Schatulle aus schwarzem, kupferbeschlagenem Holz. Als er den Deckel hob, sah ich, dass es eine Spieldose war. Über eine Walze liefen Metallhämmerchen zu einem Gewirr von feinen gespannten Saiten.

Meine Neugier war geweckt – ich brachte das Spielwerk sogleich mit der Melodie in Zusammenhang, die der greise Spielmann erwähnt hatte. Zu meinem Entsetzen bemerkte ich aber, dass sich die mageren Finger zwischen die haardünnen Drähte krallten und daran zerrten. Ein weher ächzender Ton kam aus dem Kistchen. Der Alte schien den ganzen Rest seiner schwindenden Kräfte zu sammeln, um das wertvolle Werk zu zerstören.

Ich hielt sein Tun für die Folge einer aufsteigenden Geistesverwirrung und rückte die Spieldose aus dem Bereich seiner zitternden Hände. Immer wieder fasste er vergeblich danach und dabei flüsterte er: Niemand darf sie mehr hören, niemand! Endlich sank er zurück und rührte sich nicht mehr.

Ich bin dann wie gehetzt ins Dorf zurückgelaufen – die Spieldose unterm Mantel versteckt. Im Schutze der Nacht zog ich das Werk auf und vernahm zum ersten Mal die Melodie. –

Von dieser Nacht an kenne ich keine andere Melodie mehr als sie. Sie ist die Musik schlechthin. Alles, was bisher gesungen und gespielt wurde, ist nur ihr schäbiger Abklatsch. Ich hörte sie in jedem Lied, es drängte mich, sie zu spielen, sooft ich ein Instrument in die Hand nahm, ich schrieb sie tausendmal auf Notenpapier. Niemand anderer aber durfte von ihrer Existenz erfahren – ich wollte sie bearbeiten und in einer großen Tondichtung verwenden.

Es gelang mir nicht.

Sie existiert für sich selbst – neben ihr kann nichts bestehen. Sie ist vollkommen. Zu vollkommen für mich. Andere Musik bedeutet mir nichts mehr. Ich habe mein Studium aufgegeben und führe seither meinen kleinen Notenladen. Die Melodie hat meine Hoffnung, meine Pläne und mein Leben zerbrochen. –

Die Spieldose soll niemand anderen mehr unglücklich machen. Ich werde die Drähte zerreißen, die Hämmer verbiegen und die Walze zerschneiden. Hoffentlich habe ich noch die Kraft dazu.

Vorher aber will ich sie noch einmal hören.

Entstehungsdatum ca. 1946–1950

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