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Zurück zum dritten Leben

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Die Aufzeichnungen des Bernhard Retroy, meinem Freund, den ich nie kannte.

Ich aber will zum Grund. Auf weichem Seegrund will ein Stein ich werden, ein glatter Kiesel, kühl und unbewegt. Nicht Alge soll, nicht Fisch, nicht Menschenfuß berühren die Form, die ich mir gab, um blind und stumm und ohne Blut die kleine Ewigkeit zu ruh’n …

García Lorca

Wir müssen wohl durch viele Leben gehen

Und tausend Jahre sind ein einz’ger Tag,

ein Steigen, Fallen und ein Flügelschlag,

ein Wiederkehren und ein neu’ Verwehen.

Ein jedes Leben prägte seine Spuren,

und brannte tief sie in die Seele ein,

jedoch verwischte uns’rem wachen Sein

ein gnadenvoll’ Vergessen die Konturen.

Das Dasein ist, wohin wir auch gesendet,

ein Steigen, Fallen und ein Flügelschlag,

und tausend Jahre sind ein einz’ger Tag,

bis wir zum letzten Leben uns vollendet.

Unbekannte Dichterin

Vorwort

Bevor ich die Notizen des Bernhard Retroy der Öffentlichkeit übergebe, seien mir einige Worte der Erklärung gestattet. Einer solchen bedarf es, so ungern ich mich auch dazu entschlossen habe. Einesteils für diejenigen, die mich kennen: meine Freunde, meine Kollegen und Bekannten, die in mir einen nüchternen Denker sehen dürften, der sich am liebsten auf festem Boden der Wirklichkeit bewegt und den alle unfundierten Hypothesen mit einem fast körperlichen Unbehagen erfüllen. Um so unerwarteter, wenn nicht beängstigender, muss ihnen daher die Art der hier gebotenen Veröffentlichung erscheinen, die ganz das Gegenteil von dem darstellt, was sie von mir erwarten. Ich sehe sie vor mir, wie sie die Köpfe schütteln und Vermutungen darüber anstellen, was diese unerklärliche Verwandlung hervorgerufen haben könnte, die aus einem Naturwissenschaftler einen Dichter gemacht hat, der sich auf der Flucht vor der Realität in ein Schneckenhaus des Transzendenten zurückzieht. Sie alle können jedoch beruhigt werden, und dazu bedarf es eben jener Erklärung.

Aber auch diejenigen, denen ich fremd bin, haben das Recht auf eine Erläuterung der Umstände, die mich zu einer derartigen Publikation bewogen haben. Das verlangt schon die Art des Stoffes.

Diesem Unbekannten, der durch das vorliegende Bändchen erstmals von mir bekannt gemacht wird, sollte niemand übel nehmen, was darin geschieht – ich am allerwenigsten. Schon gar nicht sollte man diesen Bernhard Retroy kurzerhand zu einem Fantasten stempeln. Das will ich gerade vermeiden.

So bitte ich um freundliche Entschuldigung, wenn ich das Dokument, das ich hiermit vorlege, mit einem Vorwort versehe, in dem die Umstände dieses Beginnens dargestellt sind, obwohl dabei Persönliches von mir angeführt werden muss, das keineswegs in den ursprünglich gegebenen Rahmen dieser Notizen passt.

Es waren die Kriegsereignisse, die mich zur Zeit des deutschen Zusammenbruches im Frühjahr 1945 in die Gegend des Mühl- und Waldviertels verschlagen haben, eine Gegend, die in Friedenszeiten unbeschreiblich schön ist und deren Reiz auch die Katastrophe des Krieges nicht völlig zu rauben vermochte. Wo sonst herrscht so vollendete Harmonie zwischen naturverbliebenen Landstrichen und bebauten Flächen? Wo sonst findet man noch diese beseligende Stille des Walddunkels, diese graziöse Anmut der Lichtungen, diese unbeschwerte Leichtigkeit im Wechseln von Feldern, Wiesen und Weihern? Farbenfrohe Gärten leiten von uralten Dörfern zu endlosen Waldungen über, da und dort treten sagenumwitterte Granitfelsen zutage. Die – heute fröhlich lärmenden Dorfjungen als Spielplatz willkommen – früher als Kultstätten düsterer heidnischer Bräuche dienten.

Als ich nach Kriegsende dort festsaß und vorderhand keine Möglichkeit sah, zu meinen Angehörigen zurückzukehren, hatte ich allerdings wenig Sinn für heitere Naturstimmungen, sondern war mit Gedanken über meine unangenehme Zwangslage vollauf beschäftigt. Lange hatte ich nichts mehr von den Meinen gehört, wusste nichts über ihr Ergehen und ihren Verbleib. Die Gefährlichkeit der bewegten Zeit tat das Ihrige dazu, um meine Unruhe zu vergrößern. Doch mir blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten und ich verbrachte meine Tage zumeist, indem ich mich untätig herumtrieb, nur gelegentlich half ich bei Bauern aus, die dafür Naturalien spendeten.

Gerade ein solcher Handlangerdienst brachte jenen Zufall mit sich, der mir das in die Hand spielte, was mich jetzt – nach so langer Zeit – dazu veranlasst, mich mit Dingen abzugeben, die meiner üblichen Beschäftigung mit den exakten Wissenschaften diametral gegenüberstehen. Er äußerte sich nur in einem schwächlichen, ungewaschenen Kind, das an einem Brunnentrog saß und mit einem Bündel zerknitterter, eng beschriebener Papiere spielte. War es die Langeweile, die mich dazu bewog, einige Seiten zu glätten und zu überfliegen, oder fiel mir etwas Ungewöhnliches an diesem friedlichen Bild auf? Was ich da zu lesen bekam, war so seltsam, dass ich den Kleinen dazu überredete, mir das Zettelwerk zu überlassen, und sogar mein Taschenesser dafür opferte. Eilig zog ich mich dann in eine stille Ecke zurück und ordnete mühsam das unansehnliche Papierbündel, um es mit steigender Spannung durchzulesen. Eine eigenartige Welt eröffnete sich mir, eine Welt von Schuld und Liebe, von Rachedurst und Einsamkeit, in der sich Gegenwart und Vergangenheit durcheinandermengten und die mich doch irgendwie unmittelbar ansprach. Finstere Todesahnung und unstillbare Lebensgier schrien aus diesen Zeilen, übermenschliches Leid und nie erfüllte Sehnsucht.

Etwas nachdenklich geworden, begann ich meine eigene Lage mit anderen Augen zu betrachten, ich erinnerte mich daran, dass ich noch viel mein Eigen nennen durfte: meine Gesundheit, meine Freiheit, meine Verwandten, und dass es Menschen gab, die stets bereit wären, mir beizustehen, mir zu helfen. Meine Situation erschien plötzlich durchaus erträglich, und ich begann wieder, Hoffnung und Zuversicht zu schöpfen.

»Zurück zum dritten Leben«, so habe ich das Bändchen benannt, das aus meinem Fund hervorgegangen ist. Ob ich damit mehr gesagt habe, als für einen klingenden Titel notwendig ist, mag der beurteilen, der die Beschreibung der einmaligen Vorkommnisse so genau wie ich durchstudiert hat. Die Überschrift soll keineswegs eine Aussage über jenes dritte Leben sein, das dem Verfasser der Aufzeichnungen als Verheißung vorgeschwebt ist, höchstens ein Hinweis darauf, in welcher Richtung mir eine Lösung wahrscheinlich vorkommt. Überhaupt will ich mich jeder Stellungnahme enthalten; ich will nur Bote sein und Kunde übermitteln aus einem Bereich, der uns gewöhnlichen Menschen normalerweise verschlossen bleibt, gleichgültig, ob es sich um eine Welt der Wirklichkeit oder des Wahnes handelt.

Nicht unerwähnt darf ich lassen, dass ich jenes Dorf aufgesucht habe, von dem die Rede sein wird, um mich nach allen Begebenheiten zu erkundigen, die vielleicht Licht in die dunklen Vorgänge bringen könnten. Ich fand zwar einiges, leider aber nur unklare Andeutungen, nichts Greifbares, jedoch auch nichts, was eine Widerlegung bedeutet hätte. Natürlich betrafen die meisten Informationen, die ich erhielt, die Ereignisse, die für das Dorf von ausschlaggebender Bedeutung waren, die Einquartierung einer der letzten Befehlsstellen der deutschen Wehrmacht und die Bombardierung, die viele unschuldige Opfer forderte. Darum herum aber kreisten Gerüchte von einem Spion, der durch Lichtzeichen die Lage des Offiziersstabes verraten haben soll, und manche Dorfbewohner schilderten sogar nähere Umstände von dessen Gefangennahme kurz vor der Einnahme des Ortes durch die Truppen der Gegner. Ich glaube, nicht fehlzugehen, wenn ich diese Geschehnisse mit dem mich interessierenden Fragenkomplex in Verbindung bringe, damit wird natürlich auch jeder Zusammenhang mit Spionage gegenstandslos. Aber das geht erst aus dem letzten Teil der Notizen hervor.

Andere Dörfler erinnerten sich auch noch an ein Flüchtlingspaar, das sich eines Verwundeten angenommen hatte, der hierzulande unbekannt war. Es gelang mir leider nicht, diese beiden Samariter ausfindig zu machen, so sehr ich dies auch anstrebte. Die Verwirrung nach dem großen Fliegerangriff auf das Dorf in den letzten Kriegstagen mag dazu beigetragen haben, dass das Einzelschicksal eines Fremden kaum beachtet wurde. Jeder hatte mit sich selbst zu tun, suchte in den Trümmern nach seinem Eigentum, barg, was zu retten war, und beklagte das Verlorene. Nur wenige Häuser waren erhalten geblieben, von den meisten zeugten nur mehr verkohlte Ruinen; ihre früheren Einwohner hatten sich in alle Winde zerstreut. –

Seit dieser Zeit sind nun einige Jahre vergangen, ich konnte damals bald unversehrt heimkehren. Meinen mitgebrachten Fund verwahrte ich im Dunkel einer Schublade, wo er dem Vergessen geweiht zu sein schien. Als sich aber mit der Zeit die Aufregung der Kriegswehen legte, kam ich mit meinen Gedanken oft wieder zu ihm zurück. Nun habe ich mich endlich entschlossen, ihn der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, so wie ich ihn bekommen habe, ohne Änderung seiner oft unbeholfenen und doch so eindringlichen Sprache. Es war nur ein Zufall, dass er gerade in meine Obhut gekommen war, ich habe daher kein Recht darauf, ihn meinen Mitmenschen vorzuenthalten. Auch andere mögen sich mit seinen Rätseln befassen, sich ihr Urteil selbst bilden und eigene Erklärungen suchen. Sicher ergeben sich daraus bemerkenswerte psychologische Aspekte, und ich werde mich hier gerne der Meinung der berufenen Fachwelt beugen. Im Übrigen hat mich weniger die wissenschaftlich interessante Seite des Falles interessiert als das besondere Schicksal jenes Gehetzten, die Hoffnung und der Schmerz, zu denen ein Mensch fähig ist. Noch eines will ich nicht verschweigen: Ich persönlich bin davon überzeugt, dass der Schreiber der nachstehenden Schilderung ein ehrlicher und gewissenhafter Berichterstatter war; kein unwahres Wort dürfte wissentlich hingesetzt sein, wenn auch die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum nicht feststellbar sind. Diese Blätter möchte ich ihm widmen, der verschollen ist und dem gegenüber ich eine Pflicht zu erfüllen habe. Möge mancher Trost daraus schöpfen, indem er sein eigenes Leben von einer anderen Warte aus betrachtet, möge er eine Stunde der Stille und der Besinnung weihen.

Denn dann hat das Leben von Bernhard Retroy doch noch einen Sinn gefunden.

H. W. F.

Die Aufzeichnungen des Bernhard Retroy

Jetzt, wo ich den Stift ansetze, um meine Niederschrift zu beginnen, zittert meine Hand, als ob sie sich gegen mein Vorhaben sträube, und ich überlese zaudernd die ersten kümmerlichen Worte. Ich muss mich erst ans Schreiben mit der Linken gewöhnen; noch gleitet sie unsicher übers Papier, die Wörter werden schief und kindlich. Beim großen Luftangriff der vorigen Woche habe ich meine Rechte verloren. Bis heute ist mir nicht klar, auf welche Weise dies geschah. Darüber will ich jetzt nicht nachgrübeln, später werde ich davon zu berichten haben. Doch die Wunde schmerzt und bohrt und lenkt meine Gedanken immer wieder darauf zurück; noch blutet sie zuweilen, und auf dem Weiß des Verbandes wachsen seltsame braunrote Flecken …

Es ist ein gewagtes Unternehmen, alles das aufzeichnen und festhalten zu wollen, was in den letzten Tagen auf mich eingestürzt ist. Werde ich es bewältigen können? Doch ich muss es wohl versuchen. Es soll mich zwingen, die mit mir durchgehenden Gedanken zu zügeln, in ruhigere Bahnen zu lenken …

Vor meinem inneren Auge wogen Schauplätze, Gestalten und Gesichter; kaleidoskopartig wechseln die Bilder: sich drehende Wagenräder, zusammensinkende Körper, Trauer um Abschied und Trennung. Personen tauchen wie Schemen auf, maskenhafte Gesichter verzerren sich zu Grimassen, verschmelzen ineinander, teilen sich in scheußlichen Verzerrungen zu neuen Fratzen, und dazwischen ersteht ein wächsernes Antlitz von kristallener Reinheit, das in seiner Regungslosigkeit und Zerbrechlichkeit an altes modelliertes Porzellan erinnert … Dieser Ferchentanz in meinem Gehirn muss zum Einhalt gezwungen werden. Doch noch treibt alles wie brackiges Wasser durcheinander, kreist und wirbelt, strudelt und schlägt. Quälend ist diese Unklarheit, dieser trübende, wühlende Aufruhr; es liegt an mir, die Klärung abzuwarten; ich muss dazu beitragen, was in meinen Kräften steht. Nur eines soll jetzt für mich Bedeutung haben: dass sich Fieber und Wirklichkeit trennen, das Einst sich vom Jetzt sondert. Sonst müsste ich an meinem Verstand zu zweifeln beginnen und fürchten, dem Wahnsinn verfallen zu sein; nüchtern will ich eins ums andere aufzählen, wie es sich zutrug, ohne zu beschönigen, ohne zu entschuldigen.

Der Beginn jener Reihe von Begebenheiten fällt in den Mai 1945. Wenn ich aber sorglich zurückdenke, stoße ich auf Vorläufer, die viel weiter zurückliegen. Natürlich hatte ich damals keine Ahnung von der Bedeutung mancher Ereignisse; erst bei genauem Überlegen fällt mir dies und jenes ein, doch ich bin sicher, dass manches für immer vergessen bleibt. Anderes ist wieder so konturlos und unumrissen, dass ich es ebenso gut als Zufall ansehen kann. Deutlich zeigten sich diese vorfallenden Schatten eigentlich nur einmal …

Es war an einem Herbstnachmittag am Kai des Wiener Donaukanals. Noch flirrte die letzte Sommersonne in der Luft. Altweiberfäden schwebten nachdenklich unter dem weißblauen Himmel, noch gingen die Leute leicht gekleidet über das holprige Pflaster, heiter klang der Lärm der Großstadt durch die Straßen. Es gab damals keine großen Sorgen, die mich drückten, unbeschwert ging ich meiner Wege. Umso unvermittelter traf mich folgende Episode: Ein ältlicher Mann tauchte aus den Passanten vor, ein unscheinbarer Mensch in fadenscheinigem Mantel und abgetretenen Schuhen. Ein Zug von Resignation lag in den fallenden Linien seiner Mundwinkel, er schien müde, vom Schicksal geschlagen. Man sah ihm aber auch an, dass er früher eine stattliche Erscheinung gewesen sein musste – er trug den Kopf hoch und die Schultern gestrafft. Und obwohl nichts Gefährliches oder Furchterregendes an ihm war, fühlte ich mich von seinem Anblick wie gelähmt.

Wie oft sieht man einen Menschen, von dem man weiß, dass man ihn gekannt hat, doch vermag man sich nicht zu besinnen; man hat vergessen, wer er ist, von wo diese Bekanntschaft herrührt. Von solchen Begegnungen bleibt höchstens ein nachdenklicher Gedanke zurück, der bald verblasst. Man geht seiner Dinge weiter nach und denkt nicht mehr daran. Das jetzige Zusammentreffen war viel schwerwiegender, viel nachhaltiger. Es war, wie wenn ein Stachel die schützende Haut wegreißt und schmerzerregend das empfindliche innere Gewebe bloßlegt; mich beschlich das Gefühl einer Schuld, ich hatte das Bewusstsein, selbst Ursache für die weißen Schläfen, für die eingefallenen Wangen des Unbekannten zu sein. Angestrengt versuchte ich, mich von dem Bann zu lösen, dem ich so unheimlich unterworfen war, und ruhig weiterzuschlendern, als wäre nichts geschehen. Da aber traf mich der Strahl der Augen, der Augen eines waidwunden Tieres, und das markante Gesicht wurde zu einem Ausdruck von grenzenlosem Erstaunen. Der mir so Geheimnisvolle musste mich erkannt haben. Schreckliches schien mit mir verstrickt zu sein … Jetzt gab es kein Zögern mehr, ich stürzte los, in die erste beste Nebengasse hinein, mit aller Behändigkeit meiner fünfzehn Jahre, wie von Furien gepeitscht, von Häschern der Hölle gehetzt, rannte, bis ich am Ende meiner Kräfte war und erschöpft und keuchend an einem Randstein lehnte …

Niemand hatte mich verfolgt, nur das verzerrte Gesicht, die anklagenden Augen, sie jagten mich durch Monate, in den Nächten, den Träumen. Wieder und wieder schrak ich vor diesem Blick empor, mein Herz schlug dröhnend bis zum Hals herauf … Die Traumszenen waren nicht zu fassen, schattenhafte, chaotische Vorgänge versetzten mich in rasenden Schreck, und es gelang nicht, sie irgendwie zu ordnen. Der Fremde spielte sicher eine wichtige Rolle, aber welche …? Ich muss ihn schon früher gesehen haben, aber wann …? Vergeblich zerfurchte ich mein Gehirn nach ihm, suchte in jedem Winkel meiner Erinnerung … und fand nichts.

Viel träumte ich damals durcheinander – weniger von realen Dingen als von Empfindungen wie Angst, Furcht, Schuld. Dann wieder würgten mich schlangenhafte Finger, bis ich ächzend auffuhr und nach Luft rang. Dieses Gefühl verfolgte mich bis ans Tageslicht, sodass ich lange nicht fähig war, eine Krawatte umzubinden, ohne einen lähmenden Druck um den Hals zu spüren, der mir das Blut in den Kopf steigen ließ und meine Augen zum Tränen brachte. Solange der Kragen geschlossen war, bewegte ich mich unsicher und taumelnd. Erklärung hatte ich keine dafür. Oh – heute habe ich sie …

Die unruhigen fiebrigen Nächte wirkten sich schlecht auf mein Allgemeinbefinden aus. Der von meinen Eltern zurate gezogene Hausarzt verschrieb Tabletten, die jedoch wirkungslos blieben.

Erst etwas ganz anderes brachte Linderung.

In unserer Nachbarschaft lebten drei Schwestern, schon ältere Damen, zurückgezogen, von der Umwelt abgeschlossen. Eine von diesen war herzkrank und musste ständig das Bett hüten. Nun war es in unserer Familie zur Regel geworden, die Frauen zu besuchen, besonders die Kranke zeigte sich darüber stets erfreut.

Als ich – es war gerade die Zeit der Traumgeschichte – zu Neujahr glückwünschen ging, legte mir die Gelähmte die Karten. Ihre Bewegungen waren langsam, ihre Hände zerfältelt und gelbgrau wie verwelkte Blüten. Sie sagte zunächst nichts, sah mich aber lange mit Augen an, die mir voll Verstehen schienen. Dann kramte sie in einer alten Schachtel und holte eine dünne, feingearbeitete Kette hervor.

»Silber und Mangan«, sprach sie, »der Bär und der Widder. Mögen sie dich behüten, solange die Kette geschlossen ist.«

Die kranke Frau hatte in ihrer Einsamkeit seltsame Gewohnheiten angenommen, und niemand wunderte sich über ihr Tun. Ich aber bezog ihre Worte auf meine quälenden Träume, und von da an blieben sie aus.

Doch ich will mich nicht länger mit solchen Einzelheiten aufhalten, es drängt mich, mein eigentliches Ziel, die jüngsten Ereignisse, in Angriff zu nehmen, und das soll nun geschehen.

Nur ein Tuch werde ich noch rasch um meinen schmerzenden Arm binden, die hässlichen Flecken von geronnenem Blut beschmutzen sonst Schreibpapier und Tisch.

Die Sonne sandte ihre wärmenden Strahlen neidlos zur Erde herab, obwohl es erst Mai war. Schon glänzten Bäume und Sträucher in sattem Grün und erinnerten an Ferien und Landaufenthalt. Fröhlich verlebte Jugendsommer drängten sich in den Sinn, Wanderungen und Badeleben, heiteres Spiel am Holzplatz neben der Mühle, wo meine Eltern den Urlaub zu verbringen pflegten.

Ich wanderte auf der Straße dahin; ein Hungergefühl mahnte mich daran, dass die Mittagsstunde schon verflossen war. Die grünen Matten an den leicht gewölbten Hügeln luden zum Verweilen ein, und ich sah mich nach einem geeigneten Rastplatz um.

Ein magerer, hoch aufgeschossener Soldat kam mir entgegen, ein junger Mensch mit schlechter Haltung und zerschlissener Uniform. Er nickte mir zu, und ich lächelte zurück.

»Hast du vielleicht noch etwas zum Rauchen?«, fragte er, und ich holte Zigaretten hervor. So kamen wir ins Gespräch und beschlossen, uns gemeinsam eine Ruhepause zu gönnen.

Ein Waldrand zog westwärts den Hang hinauf, ein Weg lief dort entlang. Wenige Schritte weiter wies der Wald einen Einschnitt auf, ein bescheidenes von Brombeersträuchern umsäumtes Plätzchen. Einige Meter vom Wege entfernt, von der Straße aus unsichtbar, ließen wir uns nieder, lachten und unterhielten uns über die gegenwärtige Lage; bald versiegte die Unterhaltung, der laue Frühlingswind stimmte uns schläfrig.

Die Landschaft lag vor uns ausgebreitet wie ein buntes Tuch. Die Luft war würzig und roch nach Erde und Blättern; nur dort, wo – von hier aus unsichtbar – die Straße laufen musste, schwebte ein dünner Staubnebel. Ich lehnte mich zurück, sah Brombeerranken und Riedgrasähren über mir und schloss die Augen. Gelegentlich brauste unten ein schwerer Lastwagen vorbei; dann wieder rauschten Tannenzweige wie in festlicher Musik …

Ein Fußtritt schreckte mich auf, schlaftrunken fuhr ich empor. Einige Bewaffnete mit mattglänzenden Stahlhelmen standen um uns herum: eine Wehrmachtsstreife. Ich erkannte es an den Ketten, die die Männer um den Hals trugen, schwere bronzefarbene Ketten, an denen die für die Feldpolizei charakteristischen Metallschilder befestigt waren.

»Was haben Sie hier zu suchen!«, rief einer der Offiziere, dessen peinlich saubere Lackstiefel bei jeder seiner nervösen wippenden Bewegungen knirschten. »Wecken Sie den Kümmerling da auf!«

Der junge Mann neben mir atmete regelmäßig, sein hageres Gesicht zeigte einen friedlichen Ausdruck.

Ich beugte mich nieder und sagte: »Wach auf, du, … wach auf!«

Der Schläfer hörte nicht, nur ein Zucken lief über seine Stirn.

Die Mienen der Uniformierten wurden drohender.

»Hallo, wach auf!«, sagte ich wieder, und es tat mir leid, ihn stören zu müssen.

»Mensch, du Dussel, stell’ dich nicht so dämlich an, steck’ ihm den Stiefel in die Rippen!«, schrie der Militärpolizist. Er hielt sich für verspottet, obwohl ich nichts Derartiges beabsichtigt hatte. Ich rüttelte den Arm meines Kameraden, bis er die Augen öffnete, in der Sonne blinzelte und dann erschreckt aufsprang.

»Ausweise!«, befahl der Anführer der Patrouille. Wir suchten nach unseren Papieren und reichten sie.

»Bernhard Retroy, geboren sechsundzwanzig … Wien, natürlich aus Wien. Haben Sie einen Marschbefehl?«

»Und ein Halsband hat er auch«, fauchte der Unteroffizier, »hat man so was schon gesehen?«

»Jawohl, hier ist der Marschbefehl«, sagte ich und überreichte ihn.

»Diese jungen Knilche, schlapp bis in die Knochen«, bemerkte der zweite Offizier, der die Papiere meines Gefährten untersuchte. Mit seinem Schmerbauch und dem Doppelkinn sah er wie ein Metzger aus.

»Aus dem Lazarett entlassen, Marschbefehl Frontleitstelle Linz«, entzifferte mein Gegenüber, »wie kommen Sie hierher?«

Ich erklärte, dass ich von Budweis aus mit der Bahn gefahren sei; wegen der Zerstörung des Geleises bei einem Tieffliegerangriff auf den Zug wäre ich gezwungen, die Wiederinstandsetzung des Geleises abzuwarten, um weiterfahren zu können.

»Mensch, mir bleibt die Spucke weg! Da musst du doch selbst sehen, wie du weiterkommst …«

Mit ähnlichen unfreundlichen Redensarten wurde neben mir mein Leidensgenosse bedacht. Er war in einer Situation, die sich nicht wesentlich von meiner unterschied. Mir kam indes vor, als ob die Reden der Feldpolizisten an ihm genau so vorbeiklangen wie an mir.

»Sie drücken sich also hier herum, während andere ihr Leben einsetzen, um Führer und Vaterland zu retten.« Das ging uns beide an. »Wenn ich euch noch einmal hier sehe, dann lasse ich euch abknallen wie tolle Hunde!«

Wir rafften unsere Sachen zusammen und stolperten den Weg hinunter. Dabei beeilte ich mich gar nicht besonders; es ging mir durch den Sinn, dass ja doch keiner seinem Schicksal entgeht, und sollte es mir bestimmt sein, diesen Schergen in die Hände zu fallen, dann war es wohl nicht abzuwenden. So tat ich meinen guten Willen kund, indem ich jenen zeitlupenartigen Laufschritt andeutete, der auf den Kasernenhöfen die einzige Fortbewegungsart gewesen war.

Unten auf der Straße halfen wir einander, die Tornister aufzunehmen. Keiner sah dem anderen ins Gesicht. Dann wandte sich der junge Mann gegen Norden, während ich die Richtung südwärts nahm.

Diese ersten milden Tage, die der Mai gebracht hatte, wirkten ermüdend und verursachten eine dumpfe Gleichgültigkeit. In meinen Gliedern hing noch bleischwer die kaum überstandene Krankheit; jeder tiefe Atemzug stach in der Lunge mit tausend kleinen Nadeln.

Ich war zu Fuß weitergegangen, in den sinkenden Abend hinein. Die Straße streifte den Rand einer Stadt – es war Freistadt an der Aist – und dort führte ein Weg an einem Schuppen vorbei, den sich ein gutes Dutzend Soldaten und auch einige Zivilisten zur Übernachtung gewählt hatten. An einem offenen Feuer wurde Kaffee gewärmt und alsbald in lauem Zustand ausgeschenkt. Der fade Geruch der trüben Flüssigkeit mischte sich mit Fäulnisdüften, die der Wind von einem Mistablageplatz brachte.

»Nur hereinspaziert«, rief mir einer der Landser zu, »kleine Preise, beste Bedienung!« Er schwenkte einladend einen Becher mit schwarzem Kaffee. Mir sollte es recht sein. Von der ungewohnten Bewegung müde setzte ich mich auf einen Balken und aß ohne Genuss meine Essvorräte. Um mich herum lungerten andere Menschen, viele Heimatlose, Vertriebene, Flüchtlinge. Bunt lagen Koffer, Rucksäcke, Decken und Kisten herum.

Die Sonne war untergegangen. Blutige Wolken lasteten schwer über der herben Landschaft. Die Straße dehnte sich schmutzig durch die Wiesen und verlor sich im Wald. Auf ihr spielten sich die Schicksale unzähliger Menschen ab. Tropfenweise kamen sie, ihre Habe mitschleppend, stumpf und ergeben, müde und matt. Jetzt breitete die Dämmerung einen schützenden Mantel über alle. Dunkelgraue Rauchschwaden stiegen am Horizont zögernd auf, um weiter oben ein Spiel des Windes zu werden. Manchmal zuckte Feuerschein hinter den Wäldern und die Rauchwolken wurden zu einem glühenden, vom Himmel herabstürzenden Meer.

Jemand schlug eine Gitarre und sang dazu:

»Drei Rosen werden dort einst blüh’n

und rot im Abendleuchten glüh’n,

wo meine Sehnsucht starb …«

Ich wäre die Nacht über lieber im Freien geblieben als in der dumpfigen Scheune, jedoch ich hatte die feuchte Nachtluft zu fürchten. So zog ich mich denn in die Hütte zurück. Zwei Reihen von Ruhenden lagen schon da, die Beine einander zugewandt. Vorsichtig stieg ich über die Schläfer hinweg und fand an der dem Eingang gegenüberliegenden Wand noch genügend Platz. Meinen Rucksack legte ich als Kopfkissen zurecht, streckte mich längs der Mauer aus und deckte meinen schweren Mantel über mich. Das abstoßende Konzert der Schlafenden drang auf mich ein wie ein körperlicher Schmerz. Seufzer, schnarchender Atem, gemurmelte Worte.

»Verdammter Hund, verdammter Hund …«, brummte es aus dem Stroh. Bei jeder Bewegung knisterten und rauschten die Halme. Es roch nach Heu, vermorschtem Holz und Schweiß.

»… ich schlag dir die Pfoten zu Brei, verdammter Hund!«

Meine Augen hatten sich langsam an das Dunkel gewöhnt. Deutlich konnte ich nun meine Nachbarn sehen, einen älteren Volkssturmmann mit der Feldmütze über den Augen, der Speichel rann ihm aus dem Mund. Ich drückte mich an die kühle Wand und versuchte einzuschlafen.

Trotz der ungewohnten Lage muss ich wohl bald eingenickt sein, denn als mich ein Rascheln und Flüstern weckte, war schon tiefe Nacht. Durch den Eingang drang ein Streifen bläulichen Mondlichtes herein, in dessen Schein ich zwei undeutliche Gestalten erkannte, die sich offenbar um einen Liegeplatz umsahen. Ich schloss die schweren Augenlieder wieder, hörte aber das Rascheln der Schritte näherkommen. Da zischte ein Streichholz auf, der Lichtschein fiel mir ins Gesicht, ich öffnete die Augen wieder, soweit es das blendende Licht zuließ, und sah ein Mädchen über mich gebeugt …

Es ist schwer, diese Situation verständlich zu machen – ich befand mich in jenem Dämmerzustand zwischen Wachen und Traum, in dem man wohl Eindrücke empfangen, jedoch nicht reagieren kann. Das geringste beunruhigende Ereignis löst diesen Zustand, und man erwacht vollkommen. Mir geschah jedoch in diesem Augenblick durchaus nichts Beunruhigendes, es war wohl eher das Gegenteil – wie wenn man nach Jahren der Irrnis von Zeiten die Türme und Giebel der Heimatstadt auftauchen sieht oder nach langer Krankheit aus einem Genesungsschlaf erwacht und eine zarte Hand an der Stirne fühlt …

Die Zeit, in der wir uns in die Augen sahen, währte nur einen Augenblick, dann verlosch das gelbe Flämmchen, und ich hörte mehr als ich sah, wie sich die beiden an der Wand, an der auch ich lag, in die zweite Reihe der Schläfer einreihten. Ich lauschte den Geräuschen des bewegten Strohs, dem leisen Flüstern, ich ahnte die Umrisse des Mädchenkörpers, vom Gesicht sah ich nichts, nur das Phosphoreszieren der Augen, die in meine Ecke zu blicken schienen. Ein Balken knarrte, der einflutende Lichtschimmer verschwand, Wolken mussten unter dem Mond vorbeiwandern. Nur der Eingang war noch als graues Rechteck sichtbar, alles andere versank in Schwarz.

Noch war die Nacht nicht vorbei, doch schon meldete sich der Morgen mit empfindlicher Kälte. Draußen wogte der Nebel, und die wenigen wahrnehmbaren Gegenstände waren Kulissen einer Bühne. Ein unwirklicher grauer Schein fiel durch das offene Tor ins Innere und lag wie Staub auf den Falten der Decken und Kleidungsstücke, in die sich die Schläfer vermummt hatten.

Bis zu den beiden Längswänden, wo – auf Strohbündel gebettet – die Köpfe lagen, drang kein Licht; man hätte die Körper für eine leblose Masse von zugedeckten Gegenständen halten können, wenn sich nicht in der Mitte, wo der schwache Schein am intensivsten war, gelegentlich eines der einander zugewandten Beine in einer der zwei Reihen bewegt hätte, sodass ein Wölkchen von Staub aufstieg. Von Zeit zu Zeit unterbrach auch ein Husten und Räuspern die Stille, oder jemand wälzte sich ächzend von einer Seite auf die andere.

Am Abend hatte ich meine schweren Schuhe ausgezogen, sodass ich nun an den bloßen Füßen fror. Vorsichtig zog ich den Mantel darüber, um mich nicht anderswo zu entblößen; die feuchte Luft drang durch jede Ritze ein und verursachte ein Frösteln. Mein Rücken schmerzte, da ich auf dem harten Boden wie ein Igel zusammengerollt lag. Ich rekelte und streckte mich etwas, meine Zehen kamen dabei unversehens an etwas Warmes, die weiche Haut eines Knöchels. Ich blinzelte durch die Dämmerung; im Schatten der Decke mir gegenüber, hob sich noch schwärzer eine Fülle von dunklem Haar ab, dessen Formen ein matter Glanz undeutlich erkennbar machte.

Ich musste die ganze Nacht geträumt haben, doch nicht so, wie wenn man schlechthin träumt, eher wie wenn durch die Besonderheit einer Stunde Erinnerungen beschworen werden und Gestalt annehmen, leben. Die Locken dort umrahmten ein Gesicht, das ich längst kannte. Ich kostete die Wärme der Haut aus, die ich an meinem Fuß spürte. Zärtlich strich etwas ganz leise darüber hin, ein vertrautes Gefühl durchlief mich wohltuend – ängstigend und lähmend zugleich. Jede der Bewegungen verursachte eine Angst in mir, ich könnte den Zauber der Stunde zerbrechen.

Das Mädchen schien zu schlafen, unbewegt und ruhig lag es da, durch alle verwischten Geräusche hörte ich seine Atemzüge in stetigem Rhythmus. Mir war, als äußerte sich so der ewige Rhythmus der Zeit, von Tag und Nacht, Sommer und Winter. Und ich begriff – was ich bisher nur geahnt hatte –, dass alles Leben nur Abweichen von diesem Takt der unabänderlichen Ordnung ist.

Doch bald zeigte sich, dass es nicht das Atmen des tiefen Schlafes war – ich hatte falsch vermutet. Als ich eine Weile unbewegt blieb, spürte ich einen leichten Gegendruck und glaubte, mich getäuscht zu haben, doch nein: Ein feines Streichen über meinen Rist bestätigte meine Wahrnehmung. Eine Welle von Verstehen strömte durch meine Brust, eine Flut von ungeahnter Seligkeit, nur getrübt durch die Furcht, wieder grenzenlos allein sein zu müssen. Die kaum merkliche Regung bewies mir, dass ich vereinigt war mit jenem Unaussprechlichen, Unerfassbaren, das aus den tiefen Atemzügen klang, die den Raum erfüllten. Noch mehr dehnte ich mich, schmiegte mich an, gab mich ganz der leisen Berührung hin …

In dieser Stunde vergaß ich zum ersten Mal das Hoffnungslose der allgemeinen Lage und meiner eigenen Situation. Meine Umwelt verschwand, ich war von der traurigen Umgebung gelöst, gehörte nicht zu diesen schnaufenden, schnarchenden Menschen, die den unsauberen Schuppen bevölkerten. Ein Gefühl von Einverständnis und Gemeinsamkeit überkam mich, so gering auch die körperliche Berührung war. Dieses so ungewohnte Wohlbefinden war für mich ein einmaliges Erlebnis, das wegen des Gegensatzes zu meiner sonstigen, ewig gehetzten Lebensweise, zu der ich gezwungen war, noch eindrucksvoller wirkte. Das Unangenehme der durchdringenden Kälte war verschwunden, eine angenehme Müdigkeit umfing mich und aus dem bisherigen halb bewussten Zustand sank ich in einen tiefen traumlosen Schlaf …

Als ich durch das Fluchen meines sich erhebenden Nachbarn aufgeweckt wurde, war mein erster Gedanke: Argela. Wie von einer Tarantel gestochen richtete ich mich auf: Die Plätze gegenüber waren leer! Ich sprang empor, spähte umher … nichts zu sehen! Vielleicht draußen! Ich schnellte über noch Schlafende hinweg, trat auf Kauernde, stieß die schon Erwachten beiseite, drängte mich durch das Tor und sah die Straße hinauf … Da, schon weit entfernt, kaum mehr erkennbar, bewegten sich zwei Gestalten … Sie mussten es sein! Ich stürzte in den Schuppen zurück, schlüpfte in die Schuhe, riss den Rucksack und Mantel an mich und strebte wieder hinaus … nur schnell, schnell … Hinter mir gellten Flüche und Verwünschungen … Ich hörte nichts, ich beachtete nichts … Die Straße entlang rennen … sie nicht aus den Augen verlieren … gleich werden sie im Wald verschwinden …

Jemand packte mich am Ärmel und hielt sich fest. Ein Unteroffizier.

»Loslassen!«

Ich versuchte, mich loszureißen.

»Bei dir ist wohl eine Schraube locker, Mensch, wie siehst du aus!« Eisern hielt er mich. Er blickte auf meine herabhängenden Schuhbänder, den Rucksack, den ich am Riemen nachzog, meine wirren Haare. Wie sollte ich Argela finden?

»So eine verrückte Tüte! Bringen Sie Ihre Klamotten in Ordnung und kommen Sie mit!«

Argela! Jetzt fiel mir auf, dass ich ihren Namen kannte, obwohl ich doch kein Wort mit ihr gewechselt hatte. Langsam kam ich zur Besinnung. Ich sah das Mädchen vor mir, wie es sich über mich beugte, von der flackernden Flamme beleuchtet. Der Ausdruck des Gesichtes war nicht der gewesen, mit dem man einen Fremden anschaut, nein, deutliches Erkennen war in den dunklen Augen aufgetaucht. Der Mund hatte sich geöffnet, als wenn er etwas sagen wollte … und hatte doch geschwiegen. Was verband mich mit ihr?

»Na los, Mensch!« mahnte der Unteroffizier, scheinbar ein sehr geduldiges Exemplar seiner Gattung. Ich holte meine Feldmütze aus der Manteltasche hervor und stülpte sie über den ungekämmten Kopf, knöpfte die Bluse zu, zog den Mantel an … Schließlich folgte ich dem Mann in die Wehrleitstelle.

Was soll ich hier weiter berichten? Erwähnt sei nur, dass der nötige Stempel auf meinen Marschbefehl gedrückt wurde, dass ich Verpflegung fasste und mich dann trollen konnte.

Ich folgte der Straße westwärts, wohin ich vorher sinnlos gehetzt war. Alles zog in gleicher Richtung, weg von der nahen Front. Der Aufenthalt hatte mich fast eine Stunde gekostet. Was hätte mir das noch am Vortag bedeutet! Doch heute war ich entschlossen, dem Mädchen zu folgen. Doch was heißt: ich war entschlossen – es war wie ein Zwang, ich musste Argela wiedersehen, fragen, woher wir uns kannten. Mir blieb keine Wahl. Und so schritt ich tüchtig aus, noch war ich munter und frisch, die Sonne hing schon tief. Gleichmäßig setzte ich Fuß vor Fuß, Fuß vor Fuß.

Es waren damals unerwartet heiße Tage; ich gönnte mir keine Rast, stehen zu bleiben, zu trinken. Wenn ich zurückdenke, wird mein Gaumen trocken – ich nehme einen tiefen Schluck aus dem Mostkrug neben mir. Jetzt sehe ich, dass ich mich getäuscht hatte, wenn ich mir von meiner Schreibarbeit Beruhigung versprach. Beruhigung und Lösung von der Spannung! Wenn auch nur an meinem inneren Auge Szene um Szene abläuft, ich erlebe alles noch einmal, mich packt wieder das Fluidum der vergangenen Tage, reißt mich zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her. Und doch! Es ist notwendig. Vielleicht lösen sich die großen Fragen von selbst. Schon werden mir manche Zusammenhänge klar, bilden sich aus früheren sinnlosen Einzelheiten; schon liegen manche bunten Steine des Mosaiks eng aneinandergefügt, wenn sie auch das große Bild noch nicht erkennen lassen.

Ich erlebe alles wieder. Fuß setze ich vor Fuß, immer wieder, über einen Teppich aus glatten Fichtennadeln und gefrorenen Buchenblättern. Zur Maschine bin ich geworden, die mechanisch gehorcht, ihrer Einstellung folgt, ohne zu denken, wozu, warum … Der Antrieb war so mächtig, dass mir die Sinnlosigkeit meines Tuns nicht zum Bewusstsein kam. Damals war es sinnlos. Einem fremden Menschen nachzulaufen, kilometerweit, ohne zu wissen, was die Begegnung bringen sollte. Damals war es sinnlos, die Kette war noch geschlossen …

Die Sonne hatte sich bereits wieder zum Sinken gewandt, ausgetrocknet war die Luft, der Staub fror an den Blättern ein, da sah ich, in der Ferne, die zwei Personen. Noch weit … Die Straße führte mich über den Scheitel einer Anhöhe. Eine weite hügelige Landschaft wellte sich vor mir, noch immer dieselbe, wie der vergangenen Stunden, und doch: jetzt ein Rahmen für die beiden Figuren, die sich kaum merklich von Ort und Stelle schoben.

Fuß setzte ich vor Fuß. Langsam, langsam kam ich näher. Dort vorn gewannen zwei Punkte Gestalt, Leben. Der eine war Argela … Sie blieb immer wieder zurück, schien angetrieben zu werden, holte auf, blieb wieder zurück …

Es dauerte noch lange und ging doch jetzt blitzschnell. Ich ging wieder langsamer, hielt den gleichen Abstand. Sie schritt vor mir … denselben Tag. Und davor ihr Begleiter. Ich brauchte nur meinen Arm auszustrecken, um ihre Schulter zu berühren, sie musste meine Schritte längst hören …

Doch dann konnte ich plötzlich nicht mehr. Meine Beine versagten. Ich war ja nicht gesund. Und stand still … Sie entfernte sich wieder. Meine Hand erreichte sie nicht mehr. Ein Vibrieren saß in meinen Kniekehlen. Mein Hals schmerzte. Auch Argela war erschöpft. Ihre Schritte waren kurz … unsicher, zögernd … und verlangsamten sich mehr und mehr. Jetzt blieb sie stehen … drehte sich um …

Längst hätte ich eine Beschreibung geben sollen, ihr Aussehen schildern – ich kann nicht.

Schön ist ein wolkiger Frühlingshimmel, wenn die Sonne aufgeht. Schön ist Sternenlicht, das sich in einer mondlosen Nacht im Spiegel eines Gebirgssees bricht. Die dunkle Schönheit Argelas, wer könnte darüber schreiben …

Das weiche Licht der Frühlingssonne umgab sie mit einem gleißenden Mantel.

Sie kam mir entgegen, näher, bis vor mich hin.

Heiser flüsterte ich: »Argela!«

»Ich heiße nicht Argela«, sagte sie, und ihre Stimme war weich wie schwarzer Samt, »ich heiße Marga.«

»Woher kennen wir uns?«, rief ich und streckte die Hand nach ihr aus. Die Frage brannte hinter meinen Augen.

»Ich weiß es nicht …«

»Dann haben wir uns gesehen?«

»Gesehen? – … es muss lange her sein …« Sie sagte es leise, und ihre Hand bebte in der meinen.

Wir schwiegen, und ich hielt das warme Bündel der Finger wie einen scheuen verwundeten Vogel. Glückhaftes Verstehen erfüllte uns, und doch spürten wir das unerklärlich Gefahrdrohende der Situation, das Folgenschwere unter der Oberfläche. Das Meer der durcheinanderströmenden Gefühle bildete Strudel, die uns herabzureißen und zu verschlingen versuchten.

Das dauerte nur Sekunden, dann rief eine kalte Stimme.

»Warum, zum Teufel, bleibst du stehen?!«

Wir haben das Rufen des Begleiters von Argela überhört, sein Nahen übersehen.

»Wer ist das? Was will er?«

Es klang, als wenn Metall auf Metall schlägt. Unter Argelas langen Wimpern erlosch ein Licht.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie.

Der hochgewachsene Mann stand aufrecht vor mir und irgendetwas sprach in mir: der Feind!

Ich erklärte: »Wir haben denselben Weg, ich will nach Linz.« Ich hatte das Gefühl, mich jetzt nicht von Argela trennen zu können, unsicher und kläglich redete ich weiter »… es ist dieselbe Straße, zumindest bis zur nächsten Gabelung …«

Was weiß ich, was ich noch daherschwätzte. Der Mensch streifte Argela mit einem Blick und sah dann mich an. Es war wie ein Nadelstich, und ich verstummte.

»Sie sind Soldat, warum halten Sie nicht ein Auto auf?« fragte er kurz. Fliehende Wehrmachtstransporte rollten jetzt unaufhörlich vorbei.

Ich wusste keine Antwort.

»Sie werden nicht daran gedacht haben«, versetzte er, und ich glaubte, Spott in seinen Mienen zu erkennen. Er trat in die Mitte der Fahrbahn, sodass ein Lastwagen rasch bremsen musste, und rief dem Fahrer zu:

»Ja, nehmen Sie den Schützen mit, er hat denselben Weg zumindest bis zur nächsten Gabelung!«

»Na, dann mach schnell«, schrie der Beifahrer, »setz’ dich hinten druff’, na, so tu’ schon!«

Ich wusste nicht, wie mir geschah, ich kletterte auf den Wagen, fiel durch den Ruck des Anfahrens auf eine Munitionskiste und sah, wie Marga wieder zum Pünktchen zusammenschrumpfte, das schließlich vom Staub gefressen wurde.

Ich biss die Zähne zusammen, ohnmächtige Wut suchte mich zu überwältigen, das Gesicht wollte ich in den Händen vergraben und heulen wie ein hilfloses Kind. Doch dann straffte sich etwas, ich fühlte, wie sich die Muskeln stählten, und meine Gedanken wurden glasklar und kühl wie Eis.

Das Verlangen nach der Nähe Argelas war unbezwingbar, doch wollte ich der Versuchung Herr werden, die unsinnigen Triebe zu unterdrücken. Mein Befehl lautete, mich in Linz zu melden. Zu gehorchen war zwar mindestens ebenso sinnlos, als meiner drängenden Sehnsucht nachzugeben, aber noch war das Gefühl des hilflosen Ausgeliefertseins einem solchen Auftrag gegenüber stark. Warum sollte ich mir die Anforderungen, die an mich gestellt waren und denen ich mich nicht gewachsen fühlte, mutwillig durch ein jäh erwachtes Verlangen erschweren, das sich nie erfüllen konnte?

Doch war dies wirklich der Fall? Stück für Stück fielen die Schlacken des Zauderns und Bedenkens von mir ab. Einmal wollte ich tun und lassen, was mir beliebte. Das Chaos wartete auf jeden Fall auf mich. Schon war das Land fast vollständig von fremden Truppen besetzt, die wenigen eingeschlossenen Soldaten waren hungrig und krank. Greise, Krüppel und Kinder wurden mit kläglicher Bewaffnung dem Feind entgegengeworfen, kaum dass sie ein Gewehr bedienen gelernt hatten. Sobald ich meiner Kampfgruppe zugeteilt war, waren meine Tage gezählt. Schon längst hatte ich alle Hoffnung aufgegeben, mein Trachten galt nur mehr ungestörter Ruhe, Frieden, Wünsche hatte ich keine mehr.

Und nun mit einem Schlag, plötzlich und unerwartet, erfüllte mich eine kaum erklärliche Unruhe, eine Leidenschaft, vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen, mein kürzlich noch nichtsnutziger Körper war von prickelnder Energie durchflutet – es war mir nicht mehr möglich, tatenlos meinem Untergang entgegenzuschauen. Irgendetwas musste geschehen, ich musste die Zukunft selbst in die Hand nehmen. Dabei war mir aber durchaus nicht klar, wie ich dies anstellen sollte. In diesem Zeitpunkt geschah etwas, was mir alles Zögern wie Schleier vom Kopf riss …

Ich hockte auf dem Auto oben und starrte in den gelben Staubnebel, den die Reifen aufwirbelten. Wie Schemen tauchten Menschen auf, die wir überholten, sie glitten vorbei und verschwanden dann sich etwas verlangsamend irgendwo hinter uns.

Ich beachtete dies alles kaum, bis ich plötzlich zusammenzuckte, wie vom Schlag getroffen: ein Flaschenwagen, von zwei dürren Pferden gezogen, war in der Reihe der vorübergleitenden Figuren erschienen, und darauf saß, trotz des warmen Wetters in eine Decke gehüllt, ein alter Mann mit müden, traurigen Augen. Ja! Er war es, der Fremde, das unheimliche Gespenst meiner Kindheit! Er war es, es gab nicht den geringsten Zweifel, so kurz auch die Zeit war, in der er vorüberschoss.

Irgendeine aufgestaute Macht tat ihre Schleusen auf, sie stürzte auf mich ein mit urwüchsiger, elementarer Kraft. Jeder Zweifel war zerflossen, jetzt kurz vor dem Ende sollte sich meine Bestimmung offenbaren, ich durfte noch meine Aufgabe erfüllen. Komme, was da kommen wolle, ich durfte mich ihr nicht entziehen. Und trieb ich dem Verderben entgegen, stellte ich mich außerhalb der noch geltenden Gesetze, indem ich mich meiner Wehrpflicht entzog, sollten mir die letzten Tage noch den Bann lösen, der mich festgehalten hatte und noch hielt, mich entfesseln, frei machen. Dem Verderben war ich geweiht, was hatte ich zu verlieren.

Das Auto fuhr jetzt etwas langsamer, es ging bergauf. Und so warf ich – nur wenige Sekunden konnten seit der Begegnung vergangen sein – meinen Rucksack über die Flanke und sprang dann selbst nach.

Welches Vergnügen hatte mir das früher immer bereitet, vom fahrenden Lastwagen abzuspringen; am Lieferwagen des Nachbarn, einem Gemüsehändler, hatte ich reichlich Gelegenheit dazu gehabt. Nie war mir in den Sinn gekommen, dass ich mir die Knochen brechen, ja, auch nur die Haut ritzen könnte. Darum erinnere ich mich noch deutlich an das Gefühl von Erstaunen, das mich erfasste, als ich beim Aufsprung einen Stich in der Brust spürte, der mir alle Luft wegnahm und den Atem unterband. Etwas in mir verlangte gewaltsam nach Luft und ich zerrte am Kragen, riss Bluse und Hemd auf. Dann tauchte ich in einen grellen Lichtschimmer und der Boden versank – ich schwebte frei in der Luft, verlor das Bewusstsein …

Als ich erwachte, lag ich im Straßengraben, über mich gebeugt der alte Mann, das runzelige Gesicht – ich spürte seine Hände an meinem Hals, eine meiner Hände war noch am Kragen des Fremden verklammert und die andere hielt meine alte silberne Kette. Und diese Kette … war … gerissen …!

Wenn ich mich heute frage, was ich mit dem Verlassen des Autos bezweckte, diesem Schritt, der mich aus allen vorbestimmten Geleisen warf, so zweifle ich daran, damals überhaupt eine feste Absicht gehabt zu haben. Es war wohl so, dass ich mein Schicksal ahnte und ihm nicht mehr ausweichen wollte, im Gegenteil, es aufsuchen, es zwingen, sich zu offenbaren. Und dieses Schicksal war verflochten mit jenem alten Mann, er musste alles wissen, die Lösung lag in seiner Hand.

Schon damals suchte ich nach einer Lösung, als es noch keine Probleme gab, oder doch nur wenig gegenüber dem, was mir an Rätseln noch zuteilwerden sollte. Von da an kamen sie erst, die Fragen, drangen auf mich ein. Die Tür war aufgesprungen, ich war erst im Begriff, das Labyrinth zu betreten, meinen Fuß hatte ich schon über die Schwelle gesetzt. Von da an gab es kein Zurück mehr. –

Der Schmerz in der Brust, an den ich mich schon gewöhnt habe, hat nun etwas nachgelassen, es ist ein unerwartetes erleichterndes Gefühl. Und es gibt mir Mut, in meinem Unternehmen fortzufahren. Jetzt muss sich erst entscheiden, ob ich überhaupt fähig bin, das in Worte zu fassen, was gehalt- und gewichtslos war, an dessen Realität ich lange zweifelte und das mir bis heute unverständlich blieb, wie eine fremde Sprache, der man mit Sorge und Jubel anhört, aber deren Ursachen ein Geheimnis bleiben.

Träge schaukelte ich in blendender Helligkeit, kaum vermochte ich die Augen zu öffnen.

Nur langsam gewöhnte ich mich an das einflutende Licht. In schwankenden Bewegungen schwamm ich dahin … endlos lange … Um mich herum trieben wildbewegte Gestalten, mit bunten Fähnlein an den Lanzen, mit Schildern und Schwertern … Das stetige Geräusch, das in meinen Ohren rauschte, war der Hufschlag der schweren Pferde. Vor und neben uns, aber viel undeutlicher, sah ich das landschaftliche Bild, Sträuchergruppen, Wiesen, Nadelwald … Straße gab es keine, spärliche Spuren von Rädern führten direkt durch das Gras. Der Rücken meines Pferdes war feucht von Schweiß, es schnaubte und Flocken von schaumigem Speichel trieben mir ins Gesicht … Und ich drückte ihm die Sporen in die Weichen und setzte mich wieder an die Spitze meiner Gruppe. Es war mir nicht erlaubt, mich versinken zu lassen, zu träumen …

Vor mir ritt der Späher, tief über sein Pferd gebeugt, vom freien Kopf flatterte das schwarze Haar. – Mein Schädel war leer … Es kostete mich Anstrengung, mich zu erinnern, wo ich war, wohin es ging … Hinter mir das Getrampel der Hufe, mein Trupp. Wie weit waren wir schon von der Burg entfernt? Zwei Tagesritte, zwei Stunden? Jetzt ging es ihm an den Kragen: Zadek, dem Hussiten. Nochmals trieb ich meinen Rappen die Sporen in die Weichen. Vorwärts! Vorwärts, mein Degen war scharf, mein Messer geschliffen. Zadek, der Unbezwingbare! Heute fühlte ich mich der Welt überlegen. Er hatte sich feige verkrochen! Was war mit seiner sprichwörtlichen Tapferkeit, seinem Mut! Bei den Weibern und Alten in der Wagenburg war er geblieben, während seine Buben die Dörfer verwüsteten.

Vorwärts, Rappe!

Die Hufe polterten; Wälder und Gesträuch flogen vorbei, als wenn sie sich unter mir voran bewegten, ich aber unbewegt darüber schwebte …

Nur weiter!

Doch nun stoppte der Späher das Pferd und bedeutete mir zu halten.

Wir sprangen ab, und ich folgte ihm über die nächste Anhöhe. Und unten im Tal, da standen die Plachenwagen im Kreise angeordnet, ein Gefährt eng an das andere geschoben, die Zwischenräume kaum drei Ellen weit. Doch von unserem erhöhten Standpunkt aus sahen wir über die leinenen Wagendächer ins Innere des Kreises, wo sich die Franzosen emsig tummelten. Bunt schillerte ihre farbenfrohe Tracht, oft drehte sich ein Frauenrock dazwischen; auch Kinder tollten schreiend durcheinander. Die Männer aber machten diesen friedlichen Eindruck wieder zunichte, bis an die Zähne bewaffnet stolzierten sie umher.

Etwas abseits davon lag der Tross, einige Burschen bewachten die weidenden Pferde, ein Hund jagte kläffend hin und her.

Endlich war die Stunde der Vergeltung gekommen. Die gebrannten Dörfer kamen mir in den Sinn, die verwüsteten Äcker, das mutwillig getötete Vieh. Die geschundenen Leiber unserer Getreuen, die ihnen in die Hände gefallen waren, die dahingemordeten Kinder, die missbrauchten Frauen, alles das verlangte Rache, Rache, Rache …

Sie waren besser bewaffnet, als wir vorausgesehen hatten, und in Überzahl dazu. Aber zu unseren Gunsten sprach unsere Tapferkeit, unser Wille dieses Geschmeiß zu vernichten, diese Brut endgültig zu zertreten. Für uns sprach die Gewandtheit im Gebrauch der Waffen, die Schnelligkeit unseres Angriffs und die Überraschung dieser Stunde.

Ich konnte das Jagdfieber kaum mehr bändigen. Wir liefen zu den Pferden und den wartenden Männern zurück und sprangen auf.

»Herunter! Und keine Schonung!«

Wie ein Unwetter wirbelte der Trupp den Berg herab, ich allen voran. Die da unten hatten uns bemerkt, es wirrte wie in einem Ameisenhaufen, den man mit einem Stock auseinanderreißt.

Ich trieb mein Pferd zu einer Stelle, wo der Abstand zwischen den Wagen etwas breiter schien, und setzte in einen Sprung über die Deichsel mitten in das Lager herein. Mit einem Fuß blieb ich an der Plache hängen und riss sie herunter. Meine Leute stürmten mir nach … Vom Pferd herunter war ich den Unberittenen überlegen; was sich mir entgegenstellte, ritt ich einfach nieder … schon wogte der Kampf im Inneren um mich herum. Nur Jan, den Löwen, sah ich nicht.

»Wo ist er, euer Löwe?«, schrie ich. »Komm heraus aus deinem Loch, feiges Aas!«

Und wirklich: Eine Decke hob sich, und er trat hervor. Ich erkannte ihn sofort, obwohl ich ihn nie gesehen hatte. Schon sein Wams aus weißem Leder mit den gekreuzten Schwertern war unverkennbar. Und dann sein goldener Degen! Das Kampfgetümmel schien einen Augenblick zu stocken, alles schaute zu seiner achtungsgebietenden, hellen Gestalt auf. Ich sprang vom Pferd, um keinen Vorteil zu haben. Mit gleichen Waffen wollte ich ihn besiegen … Eine Gasse wurde mir zu ihm frei gemacht … alles wich zurück.

Aug in Aug stand ich vor ihm. Sein Ausdruck war so zwingend, dass ich einen winzigen Augenblick wie erstarrt stehen blieb. Die dunklen Augen blickten in mich hinein …

Mit einem unartikulierten Schrei riss ich mich los und stürzte vor. Ein Schlag – pariert, noch einer – wieder pariert. Ich griff immer wieder an, wütend, ohne Hemmung … ich achtete gar nicht darauf, mir keine Blöße zu geben, ich haute drauf los. Ich wurde immer zorniger, der Mann stand da, fast ohne Teilnahme, wie gleichgültig. Er parierte nur, ohne hastige Bewegung, ohne Gegenschlag. Und keiner meiner Hiebe konnte ihn auch nur ritzen. Ich wusste nicht mehr, was ich tat, in mir war nur der Wille zu vernichten, zu töten. Ohne an die eigene Abwehr zu denken, holte ich zu einem Streich aus, einen Streich, über den jeder meiner Lehrmeister gelacht hätte, von unten heraus in halbem Bogen gegen die Brust des Gegners, als gelte es, ein Schwein abzustechen, stünde es aufrecht vor mir. Ich selbst war dabei völlig ungedeckt, und während der Bewegung fiel mir plötzlich das Fehlen jeder Überlegung ein und ich erwartete schon, den Hieb in meinem ungedeckten Hals zu spüren. Jetzt wusste ich auch, wieso dieser Mann unschlagbar war; seine Abwehr war unüberwindlich und der erste Fehler seines Widersachers bedeutete dessen Niederlage. In diesem Augenblick blickte ich in diese starren Augen meines Gegners, und ich sah: Er war ruhig wie zu Beginn des Kampfes. Doch mein Fehler war gemacht. Gleich musste sein tödlicher Schlag niedergehen. Auch er sollte mich in die dunklen Gefilde begleiten. So stach ich zu. Während sich meine Degenspitze durch die Brust bohrte, sah ich wieder seine Augen. Sie waren plötzlich unendlich traurig, wie die eines waidwunden Tieres, und während des Sturzes sahen sie mich an …

Ich musste mit einem Mal die Hände vors Gesicht schlagen, um das nicht mehr zu sehen. Ich hatte gesiegt. Ich war unversehens berühmt. Überall würde man von mir sprechen, von dem Bezwinger des Löwen. Ich wusste aber auch, dass ich um ein Haar dem Tod entgangen war. Nur ein Wunder hatte mich retten können.

Um mich war es still. Tief atmend blickte ich auf. Unsere Gegner waren entwaffnet, sie hatten sich ergeben. Alle Blicke waren auf Zadek gerichtet. Es musste mit ihm vorbei sein. Ich zwang mich, hinzuschauen. Über seinem Körper kauerte eine Frauengestalt. Jetzt trat ein altes, ungeheuer häßliches Weib aus einem Wagen und zog die Kauernde empor. Es war ein junges Mädchen mit schwarzen langen Haaren, sein Gesicht konnte ich nicht sehen.

Einer der gefesselten Gegner murmelte neben mir: »Argela, armes Kind.«

Die Alte hatte das Mädchen schon halb in den Wagen gezogen, da dreht es sich plötzlich um und sah mich an. Und in dem Blick lag der Hass zweier Welten, der Hass des Feuers gegen das Wasser, des Tages gegen die Nacht.

Und um dieses Blickes willen hätte ich gerne alles hergegeben, meinen mir sicheren künftigen Ruhm, meinen Besitz, meine Ahnenreihen, und wäre ein Baumstumpf auf einer mondhellen Wiese geworden oder ein Brunnenstein an einem kühlen Quell.

Das Nächste, dessen ich mich zu entsinnen vermag, war ein Stampfen und Rütteln, das mich ins Erwachen zwang, so sehr sich die Müdigkeit in mir dagegen auch wehrte. Wie Blei lagen die Lider über meinen Augen, und es kostete mich ungeheure Willensanstrengung, sie zu einem Spalt zu öffnen. Allmählich drangen bildhafte Eindrücke in mein Bewusstsein, eine graubraune Leinenjacke über mir, Kleidungsstücke, die an einer Verstrebungsstange baumelten, Kisten und Körbe zu schwankenden Türmen aufgeschichtet. Ich lag auf einigen Decken ausgestreckt im Hintergrund des Raumes, offenbar dem Inneren eines Wagens. Von vorne kam gedämpftes Licht, mühselig richtete ich mich auf und sah über den Rücken zweier Pferde auf eine Landstraße und auf ihr einen ungeordneten Menschenstrom, zu Fuß, mit Leiter- und Pferdewagen, manchmal flitzte der Schatten eines Autos vorbei. Weit sah ich von meinem erhöhten Standpunkt aus über das Land. Ganz vorn schien der Fluss der Vorwärtsstrebenden ins Stocken geraten zu sein. Ein Durcheinander machte sich bemerkbar, Pferde bäumten sich auf, einige Autos kamen in scharfem Tempo zurück. Wie eine Welle breitete sich die Unruhe aus, lief auf uns zu, die Leute kehrten um, warfen ihre Habe fort und rannten. Und da sah ich auch den Grund.

Ich taumelte vor und schrie: »Panzer vor uns!«

Und dann blieb ich wie gelähmt stehen.

Denn ich erkannte die drei Menschen, die neben dem Wagen hergegangen waren: den Alten und – ja, sie war es: Argela. Und ihr Begleiter. Ich bemerkte, wie dieser dem Alten die Peitsche aus der Hand schlug und die Pferde so scharf herumriss, dass fast der Wagen umgestürzt wäre. Der Weißhaarige kletterte auf den Wagen, und auch der Schwarze folgte. Um uns war die Hölle los, und alles jagte in panikartiger Flucht davon …

Ich hatte Argela die Hände entgegengestreckt und sie zu mir auf den Wagen gezogen. Und als wir in wilder Jagd dahinrasten, hielt ich ihre Schulter umfasst, um sie zu schützen und festzuhalten, vor jeder Gefahr zu bewahren. In all dem Wirrwarr sah ich nichts als ihr Gesicht; der Schimmer des noch hellen westlichen Himmels beleuchtete die mir abgewandte Seite, umriss aber das Profil mit einem goldenen Schein.

Jäh wurde ich aus meiner Versunkenheit gerissen. Ein Stoß mit dem Stiel der Peitsche traf mich. Das Schreien der geängstigten Menschen um uns, das Rattern des Wagens und dumpfes Rollen von hinten wurden übertönt vom Schrei des Mannes am Kutschbock vor mir: »Was willst du hier!?«

Ich hatte nichts zu antworten und hätte es auch nicht können. Der Schwarze schwang die Peitsche, der Wagen sprang über Stock und Stein, rollte über Regenrinnen und Äste auf der Straße, aufgewühlter Staub wehte an uns vorbei.

»Scher’ dich zum Teufel«, brüllte der Schwarze durch das Toben, und eine kräftige Hand ergriff mich am Kragen, um mich herunterzureißen. Krampfhaft klammerte ich mich an der Rückenlehne fest – und wurde unerwartet losgelassen. Der Alte hatte eine Hand gehoben, und mit verächtlichem Blick wandte sich der Schwarze wieder den Pferden zu.

»Schau’ nach hinten, unnützes Vieh!«, schrie er mir ins Ohr. Ich richtete mich auf, um über das Wagendach hinweg die Lage zu erkunden. Und was ich sah, erfüllte mich mit neuem Schrecken. Eine Gruppe von Panzern kam seitlich über ein Feld gegen die Straße gerollt. Mich ergriff die Angst des gejagten Wildes …

Ich drehte mich nach vorn, links lag ein freies Feld, rechts ein Wald … ein grasüberwachsener, aber breiter Weg tat sich auf … ich riss die Zügel an mich und lenkte dort hinein. Jäh hatten wir das Chaos verlassen und waren wie eingetaucht in ein schützendes, beruhigendes Nass, das uns aufleben ließ, Atem schöpfen und den Schweiß von der Stirne wischen. Der Lärm verebbte langsam, unsere Fahrt verlangsamte sich, die Pferde fielen von selbst in Schritt. Wir waren gerettet …

Langsam schwankte der Wagen weiter. Ich achtete nicht darauf. Wie gleichgültig war es mir, wohin uns der Weg führte. Argela saß neben mir – das war genug. Keine Frage war nötig und keine Antwort. Locker hielt ich die Zügel, wir bewegten uns ins Raumlose, die Finsternis hüllte uns ein. Wir hätten gerade so gut am Nachthimmel dahinschweben können, hoch über den Sternen. Argelas Hand ruhte auf meinem Arm, und ich spürte durch den rauen Stoff hindurch ein leises Vibrieren und konnte nicht erkennen, ob es das Schütteln unseres Wagens war oder das Zittern ihres schmächtigen Körpers. Wir fuhren durch endlose Weiten, unberührt vom Atem einer schreckhaften Welt, der wir längst entronnen waren, gereinigt durch die glasklare Luft, in der wir gewichtslos dahin glitten.

Nur wenige solcher Augenblicke durfte ich an Argelas Seite erleben, und wie unvergänglich sind sie mir geblieben! Die Erinnerung droht mich zu überwältigen, meine Sehnsucht steigt ins Uferlose, mein ganzes Sein jetzt ist nichts als Sehnsucht nach ihr. Ich werde das Rätsel lösen, das uns beide aneinanderkettet. Nur so kann ich den Weg zu ihr finden. Meine Fantasie zaubert ihre Gestalt in trügerischer Natürlichkeit vor mir her. Mir ist, als spüre ich ihre Gegenwart körperlich neben mir.

War eine Ewigkeit oder ein Augenblick verstrichen, ich wüsste es nicht zu sagen. Traumbefangen sah ich um mich, Trajan, der Schwarze, hatte mir die Zügel abgenommen und den Wagen zum Halten gebracht. Wir befanden uns auf einem Dorfplatz, links hob sich das geschwungene Zwiebeldach eines Kirchturms als dunkle Silhouette gegen den Himmel ab, rechts gleißte eine Wasseroberfläche, anscheinend ein Dorfweiher. Um uns rannten Soldaten durcheinander, ein Lagerfeuer war in Betrieb gesetzt, Funken sprühten hoch, der Kessel dampfte. Auch einige Flüchtlinge standen dort wartend herum.

Nachdem die Soldaten ihr Essen gefasst hatten, wurden auch wir eingeladen, unsere Näpfe zu füllen. Wir ließen uns an einem der Tische der Dorfschenke nieder, um unseren Anteil zu verzehren. Es war kühl geworden, die Soldaten unterhielten ein Feuer, an dem sie ein Schwein brieten. Die Dorfbewohner mischten sich unter sie, brachten Most in bauchigen Krügen. Es war ein abenteuerliches Bild.

Zuckende Schatten glitten über helle Hauswände, Flammenfinger griffen in die Luft. Obwohl ich nie eine ähnliche Stimmung erlebt hatte, erschien mir das Ganze irgendwie vertraut und bekannt. Doch dies dauerte nur einen Augenblick, dann war ich wieder gefangen von dem Dasein Argelas, auf deren Wangen Lichtreflexe dahinhuschten und sie schmückten, besser als Schmuck und Edelstein.

Inzwischen hatten die meisten ihre Sättigung beendet, die Landser gingen verschiedenen Arbeiten nach, die Offiziere blieben schwatzend an den Tischen sitzen. Auch Trajan beteiligte sich an den Gesprächen, niemand achtete auf Argela und mich.

Es drängte mich, mit Argela allein zu sein; ich hatte ihr so viele Fragen zu stellen, wollte alles von ihr wissen. Zart berührte ich ihre Hand und bedeutete ihr, dass wir uns zurückziehen sollten. Sie warf einen Blick über den jetzt mondbeglänzten Weiher. »Wir dürfen Trajan nicht allein hier lassen!«, flüsterte sie, »wer weiß, was er uns antut!« Ich fühlte die Wärme ihrer Hand und verstärkte den Druck meiner Finger. Wie hätte ich für Vernunftsgründe zugänglich sein können, handelte ich doch jetzt bar aller Überlegung, entsprach doch mein Handeln längst keiner Logik mehr. Mein Blick suchte den ihren, und es war mir, als verstärkte sich der Glanz ihrer Pupillen, die im Licht der Flammen glänzten.

Der Lärm um uns versank, wir erhoben uns und gingen am Weiher entlang, eilig, als gälte es plötzlich, nichts zu versäumen, jede Minute auszukosten. Wir hatten eine stille Stelle erreicht, ein Steg führte dort zum Wasser hinunter, über das nur selten schwacher Feuerschein lohte.

Wo war meine Absicht geblieben, Fragen zu stellen? Ich wusste keine mehr. Alles war klar, wir hielten uns an den Händen, ich fühlte die Nähe Argelas, es war mir, als könnte ich ihr Herz schlagen hören und ihr Blut durch die Adern pulsieren sehen, durch irgendeinen Sinn, der mir plötzlich geschenkt war, der es mir erlaubte, ihr Wünschen und Wollen zu erfassen, und es durchrieselte mich die Erkenntnis, dass es meinem eigenen gleich war, wie ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Unsere Lippen wurden aneinandergezogen und fanden sich, wir schienen alle Körperlichkeit verloren zu haben und nur noch aus gelöstem, reinem Glück zu bestehen …

Schwere Schritte brachten uns unversehens in die Wirklichkeit zurück. In mir war kein Erschrecken oder Ärger darüber zu spüren, obwohl mir klar war, dass dies wieder die Rückkehr zur Erdgebundenheit bedeutete, das unwiderrufliche Ende meiner Liebe, die sich eben erst zu erfüllen schien. Mir war die Last und Qual der letzten Jahre schon so in Fleisch und Blut übergegangen, dass es mir ganz klar erschien, dass es auf der Erde kein solches schrankenlose Glück geben dürfe und das, was ich eben erlebt hatte, gleichsam widerrechtlich von mir angeeignet wurde. Ich musste dafür Tribut zahlen und war im Moment bereit dazu; ich hatte etwas erleben dürfen, was keinem dieser Menschen je vergönnt ist, wofür auf der Erde überhaupt kein Platz war.

Ich sah über die beiden Feldgrauen hinweg, die da aufgetaucht waren. Ich verstand wohl, was sie sagten, doch es war irgend ein anderes Bewusstsein, das die Worte aufnahm und mich danach handeln ließ. In meinem eigentlichen Bewusstsein sah ich Argela vor mir, die an den Holzsteg gelehnt stand und dann dort zurückblieb. In meiner Erinnerung ist aber auch noch das, was die Soldaten zu mir sprachen, und es scheint mir ein Anzeichen dafür, dass wir uns fast immer dieses Ersatzbewusstseins bedienen und nur ganz wenige Momente bis zu unserem eigentlichen Selbst dringen können.

Was mir die Soldaten mitzuteilen hatten, war keinesfalls etwas Besonderes, etwas, was einer Gewaltmaßnahme gleich kam; sie deuteten mir nur an, dass ich mich beeilen sollte, der Abmarsch stünde bevor. Und sie fügten scherzend noch einiges hinzu – mit einem zweideutigen Blinzeln auf Argela –, womit sie ausdrücken wollten, dass sie mir sowieso mein Vergnügen gegönnt hatten, während sie die Munition einluden, und dass sie mich beim besten Willen nicht länger hier lassen könnten, wenn ich nicht zurück bleiben wollte. Ich wüsste, was das für Folgen hätte – eine kreisende Bewegung um den Hals vervollständigte die Erklärung.

Das alles war keineswegs zwingend, und ich hätte mich ohne Weiteres davon machen können, die beiden hätten wohl den Kopf geschüttelt, sich aber kaum in meine Angelegenheiten eingemischt. Einer war dem anderen fremd, längst bestand keine Truppeneinheit mehr, Versprengte wurden zusammengetrieben und neu in den Kampf geworfen. Es fiel keinem auf, mich noch nicht gesehen zu haben.

Doch ich ging mit. Reihte mich in die Marschkolonne ein, mit einem Gewehr auf dem Rücken. Die Ersten setzten sich in Bewegung, stolpernd bewegten sich bald alle die Straße entlang, Offiziere mit silber- und goldbestickten Krägen neben uns. Einen Blick warf ich zurück, und da durchlief es mich eiskalt. Diesen Augenblick hatte ich schon erlebt; der schwarze Begleiter Argelas und des Alten stand breitbeinig auf der Straße, und ein kalter, höhnischer Zug war auf seinem Gesicht zu erkennen. Und plötzlich wusste ich auch, dass nur er mir die beiden Soldaten auf den Hals gehetzt haben konnte, wahrscheinlich, indem er sie liebenswürdig auf den Kameraden aufmerksam machte, der dort hinten eben daran war, den Aufbruch zu versäumen.

Und ich sah auch ein, dass er diesmal wieder gesiegt hatte. Sicher hatte er die Szene am Teich beobachtet und mir – hätte ich zu entkommen versucht – einen Offizier nachgeschickt. Dann wäre mir ein Schnellgerichtsverfahren sicher gewesen. So war ich noch einmal davon gekommen, zwar wieder von der militärischen Tretmühle erfasst, aber, jetzt, wo ich sah, dass es sein Eingreifen gewesen war, dass ich in diese Situation gebracht hatte, fühlte ich mich wieder zum Handeln fähig und war plötzlich von der Sicherheit durchdrungen, diesen Menschen aus meinem Weg räumen zu müssen, den Kampf mit ihm aufzunehmen. Denn es ging um Argela.

Meine letztbeschriebenen Abenteuer, die mit meinem Sprung vom Wagen begonnen hatten, liefen ohne Atempause ab wie ein Film, in den sich ein ganzes Leben drängt. Und genauso ruhelos ging meine Schreibarbeit vor sich, ich kam gar nicht dazu, dabei jeden Vorfall kritisch zu verfolgen, wie ich es ursprünglich vorgehabt hatte. Erst jetzt, wo sich wieder einige stiller verlaufende Stunden anschließen, beginne ich etwas nachzudenken.

Es war nicht viel mehr als ein halber Tag vergangen seit meinem schicksalbestimmenden Schritt von der mir vorgezeichneten Bahn. Und doch enthielt diese Zeit eine unbändige Fülle von Ereignissen, die mich mit einer Wucht überwältigten, die jeden Versuch der Auflehnung dagegen lächerlich machten, sodass ich dann erst langsam dazukam, zu begreifen, was um mich herum vorgegangen war. Auf irgendeine Weise war ich zunächst in die Obhut des Alten gekommen. Dies kann ich am ehesten erklären, sprang ich doch auf seinen Anblick hin vom Lastwagen ab. Vielleicht hatte er es beobachtet oder mich gleich darauf am Straßenrand gefunden und aufgelesen. Was ihn dazu bestimmte, mich mitzunehmen, kann ich nur vermuten. Ich nehme aber an, dass ich ihm kein Unbekannter war und sein Eingreifen damit zusammenhing.

Doch schon der nächste Abschnitt ist viel unerklärlicher. Ich müsste ihn als Einbildung hinnehmen, als Reaktion meiner überreizten Nerven, wenn ich nicht jetzt eine Bestätigung dafür hätte, dass das alles nicht nur Traum war. Aber dennoch stehe ich da heute wie damals vor einem nicht lösbaren Problem. Plötzlich in ein anderes Leben versetzt zu sein, als ein anderer, und doch als eigenes Selbst zu erleben, zu handeln, das ist so abnorm und außer aller Gesetzlichkeit stehend, dass es wohl auch Erfahrenere als ich nicht zu deuten vermögen.

Ich müsste von den Erlebnissen in dieser anderen Welt ausgehen, um Beziehungen zum Heute festzustellen. Solche verbindenden Fäden gibt es, was hätte sonst der Weißhaarige darin zu suchen, noch dazu in einer Gestalt eines von mir des Lebens Beraubten? Habe ich beschrieben, dass beide identisch sind? Habe ich erwähnt, dass auch Argela dort auftrat? War es unsere erste Begegnung? Das konnte kaum der Fall sein, wie hätte mich ihr Anblick so erschüttern können! Dennoch war mein Eindruck der von etwas ganz Unerwartetem, Neuen. Gibt es eine Zusammengehörigkeit, die viel tiefer fußt, als wir Menschen ahnen können, die noch vom Grund her stammt, von dem wir alle kommen und zu dem wir alle zurückkehren?

Fragen, nichts als Fragen. Noch konnte ich nicht jene Ruhe finden, die mich vielleicht der Lösung näherkommen ließe. Ununterbrochen befand ich mich in angespannter Tätigkeit beziehungsweise erschöpfter Untätigkeit. Und jetzt, wo ich die Möglichkeit dazu hätte, mir etwas Ruhe zu gönnen, bin ich nicht imstande, meine Schreibsucht zu unterbrechen, es ist, als flöge die Feder von selbst übers Papier, mein Gesicht glüht, die Schrift ist kaum mehr leserlich, aber ich muss weiterschreiben, in einer dumpfen Wachheit, andere Gedanken sind nicht festzuhalten, schwinden dahin wie Schneeflocken auf einer heißen Hand. Es bleibt mir nichts anders übrig, als die Arbeit fortzusetzen, weiterzuschreiben, wiederzuerleben …

Wie oft tappte ich früher stumpfsinnig in der Kolonne dahin, eine willenlose, an unsichtbaren Fäden tanzende Marionette. Heute war ich hellwach. In mir arbeitete es – jede Fiber war zum Zerreißen gespannt. Ich spähte nach links und nach rechts, um die beste Gelegenheit zum Entwischen sofort erfassen zu können. Mit diesem unsinnigen Krieg hatte ich nichts zu tun, er ging mich nichts mehr an. Meine Aufgabe hieß Argela oder Marga, was tut der Name? Über die seltsamen Geheimnisse, die uns verbanden, machte ich mir keine Gedanken. Mein Platz war an ihrer Seite, da gab es keinen Zweifel, alles andere würde sich später klären, hatte Zeit.

Doch noch musste ich ausharren, es ergab sich nicht die geringste Fluchtmöglichkeit. Ständig strichen die Schatten von Korporälen an unseren Reihen entlang. Die breite Straße hatten wir verlassen und stolperten nun auf holprigen Wald- und Wiesenwegen einher, die nur aus zwei von Rädern gegrabenen Furchen und einem Grasstreifen dazwischen bestanden. Wie eine Viehherde wurden wir dahingetrieben, wer stehen blieb, erhielt einen Stoß in den Rücken und taumelte vorwärts, immer wieder von der Grasnarbe in die Räderspur abgleitend. Die Gegend wurde sumpfig, die Sohlen saugten sich am Boden fest, dumpfes Rollen drohte in der Ferne.

Wir erreichten eine weite, riedgrasgesäumte Wiese, die von einem Entwässerungskanal durchflossen wurde, und erhielten den Befehl, diesen zu besetzen, das heißt, uns der Länge nach in den sumpfigen Brei des Grabengrundes zu legen und zu warten. Bald lag alle zehn Meter ein Mann im übel riechenden Wasser und die Frösche begannen langsam wieder ihr Konzert; manchmal stiegen Luftblasen aus dem Schlamm.

Vor uns dehnte sich leicht hügeliges freies Land, manchmal hockte ein bescheidener Bauernhof zwischen Weiden und Äckern. Ich sah mich abschätzend um; wieder war jede Gelegenheit zum Entkommen verwehrt, hinten im Wald saßen die Offiziere, die sich zur Besprechung zurückgezogen hatten. Allmählich lichtete es sich im Osten; ich verfiel in einen dösenden Zustand, Schlaf war unmöglich, die Feuchtigkeit drang durch Kleider und Schuhe, unter den Augen spürte ich dumpfen Schmerz …

Der Geschützdonner verstärkte sich, Einschläge wurden sichtbar, näherten sich unserer Verteidigungslinie. Fontänen von Erde und Dreck gingen hoch, prasselten auf uns nieder … Und dann erschien hinter der nächsten Bodenwelle ein Kopf, und noch einer, erdbraune Gestalten wuchsen empor, vom Waldrand hinter uns erklangen Befehle. Schüsse blitzten auf, ein Maschinengewehr tackte …

Jetzt bemerkte ich, dass mein Gewehr unbrauchbar war, ich ergriff es beim Lauf, um mit dem Kolben dreinschlagen zu können. Ich musste mein Leben verteidigen, es gehörte Argela. Ich erinnerte mich, wie ich noch vor kurzer Zeit bei einem Tieffliegerangriff auf der Straße gegangen war, ohne die beschwörenden Rufe aus den Straßengräben zu beachten, wo Menschen kauerten, die um ihr Leben bangten und fürchteten, ich würde die Aufmerksamkeit auf sie lenken. Heute hätte ich es mit einem ganzen Rudel von Gegnern aufgenommen, erfüllt von einem unbezwingbaren Willen zum Leben.

Es war nicht nötig. Der Gegner wich zurück, als er die Konzentrationslinie unserer Verteidigung erkannte. Neue Befehle gellten: Verfolgung, Nachsturm. Unsere Leute erhoben sich schwankend aus der Rinne und zögerten …

Ein Schuss von hinten streckte einen nieder. Da setzten sie sich in Bewegung, in einem matten Laufschritt, von den Kleidern triefte Morast, die Gesichter waren grau, schmutzig, ausdruckslos … Ich lief auf das erste Gehöft im Vordergrund zu … Gewehrfeuer scholl uns entgegen, die Einschläge folgten uns; hin und wieder fiel einer nieder und blieb mit dem Gesicht im Schlamm vergraben liegen.

Das Laufen in der schlammigen Wiese war ermüdend, mein unbrauchbares Gewehr schwer. Schon hatte ich das Haus erreicht und schleppte mich an der Mauer vorbei, als sich neben mir eine Welle von Erde und Steinen erhob; der Luftdruck warf mich mit dem Kopf an eine Wand, und ich verlor die Besinnung.

Dunkel umgab mich … Unsicher bewegte ich mich durch die Finsternis … tastend hatte ich die Hände vor mich hingestreckt, um nicht an Bäumen anzurennen. Immer wieder kam ich vom Weg ab und fand nur mühsam die Richtung wieder. Mein Kopf schmerzte, das Denken fiel mir schwer, in meinem Kopf fühlte ich einen Zustand der Leere – ich wusste im Moment nicht mehr, was ich beabsichtige, was ich suchte …

Es strengte mich an, dieses Wühlen im Gedächtnis, doch es führte zum Erfolg: Plötzlich erschien mir die lichte Gestalt Argelas, und ein Glücksgefühl überkam mich – heute hatte ich erreicht, was ich seit jenem Tag erstrebte, der mir die Begegnung mit Argela gebracht hatte: Sie wollte mir ein Zusammentreffen gewähren und mich in der kleinen Hütte am Mahnstein erwarten.

Schon tauchte die bizarre Granitgruppe vor mir auf, abgrundtiefe Felsblöcke, von der Natur aufeinandergetürmt. Eine alte Holzhütte stand dort auf der Waldlichtung, noch aus alten heidnischen Zeiten stammend. Und an der Türe eine schmale Gestalt; trunken vor Freude eilte ich herbei, doch wich sie ins Innere zurück, von wo mir eine grundlose Finsternis entgegenschlug.

»Wo bist du?«, fragte ich ins Dunkel.

Ein Rascheln in einer Ecke war die einzige Antwort.

»Argela, warum weichst du mir immer aus?« fragte ic,h. Vergeblich strengte ich meine Augen an.

»Unsere Völker sind verfeindet!«, erklang nun eine Antwort von der Seite her, und ich wandte mich hastig dorthin.

»Was hat denn diese Feindschaft mit meiner Liebe zu tun? Spürst du nicht, wie groß sie ist, Argela?«

»Ich weiß es«, klang es leise, kaum hörbar, wieder aus einer anderen Richtung. Gekränkt drehte ich mich der Stimme nach.

»Ich habe alles für dich getan, was ich konnte«, fuhr ich fort, »du hast dich vollkommen frei bewegen können, du hast deinen Schmuck, deine Kleider – oder fehlt dir etwas?«

»Nein«, hörte ich leise von der Rückwand der Hütte.

»Du hast deinen Wagen behalten, du hast deine Dienerin, du darfst sogar mit unseren Leuten sprechen, stimmt das nicht?«

»Ja, ist richtig«, sagte sie und ihre Worte tönten wie eine Melodie in Moll.

»Komm doch, Argela«, sprach ich weiter, »oder glaubst du mir nicht? Ich kann es dir beweisen: Ich weiß, wer den Gefangenen am letzten Sonntag befreit hat! Argela, du hast mein Vertrauen missbraucht, aber ich trage es dir nicht nach! Ich habe für dich meine Pflichten verletzt, ich tu’ noch mehr dich … alles, Argela!«

»Du hast es gewusst?«, fragte sie nun vor mir, und ich sprang vor, um sie festhalten zu können.

Sie wich an die Wand zurück und stieß dort mit einem dumpfen Schlag an. Es fiel mir nicht auf. Ich hatte ihre Arme zu fassen bekommen und versuchte, sie an mich zu ziehen. Ein Knacken von außen ließ mich aufhorchen, doch in diesem Moment musste ihr Widerstand erlahmt sein, sie sank an meine Brust, und ich küsste ihre Wangen. Dabei spürte ich den salzigen Geschmack und die Feuchtigkeit von Tränen und ich flüsterte erschrocken: »Du weinst!?«

Doch als wäre plötzlich eine Wand abgerissen, presste sich ihr Mund auf den meinen, sie küsste mich mit einer Leidenschaft, die mir das Blut aufpeitschte, und ich vergaß die Tränen …

Wie aus allen Himmeln gerissen war ich, als ich plötzlich einen Stoß von ihr erhielt, der mich rückwärts taumeln ließ. Ich fühlte mich von starken Händen gehalten und war im Nu gefesselt; eine Fackel loderte auf. Ein schwarzer gelockter Kopf tauchte in den Lichtschein und verzog sich zu höhnischem Lachen; unser entkommener Gefangener.

»Argela«, schrie ich auf, unfähig, den Verrat in seiner letzten Konsequenz zu erfassen.

Ihr schlanker Körper erschien vor mir, und aus den geliebten Augen war jeder Glanz gewichen.

»Du hast meinen Bruder getötet«, sagte sie und sah an mir vorbei. »Du bist ein Mörder, ich hasse dich!«

Alle weiteren Geschehnisse versanken in meiner grenzenlosen Enttäuschung. Ich weiß nur, dass ich später zu rasen begann … ich zerrte an meinen Banden, bis die Haut in Fetzen herunterhing … mit den Füßen trat ich umher, bäumte mich auf und biss mich in meinem Arm fest, bis mich ein stechender Schmerz im Kopf zusammensinken ließ …

Es war helllichter Tag, als ich die Augen aufschlug. Die Sonne stand hoch am Himmel, wohliges Gefühl von Wärme erfüllte mich, langsam richtete ich mich auf.

Vor mir lag das Feld, auf dem noch Spuren des Kampfes zu sehen waren, zerbrochene Gewehre und durchlöcherte Stahlhelme lagen umher, da und dort bewegungslose, menschliche Körper. Bei jeder meiner Bewegungen fielen Krusten von getrocknetem Lehm und Schmutz von meiner durch die Wärme getrockneten Kleidung ab. Nur die Seite, auf der ich gelegen war, klebte noch feucht und kühl am Körper. Viel wichtiger erschien mir jedoch die Feststellung, dass alle meine Gliedmaßen gebrauchsfähig waren. Das dumpfe Gefühl im Kopf verschwand nach einigen tiefen Atemzügen; was machte es mir aus, dass es mich dabei wieder wie mit Nadeln stach. Meine Lebensgeister erwachten, aufmerksam suchte ich Umgebung und Horizont nach lebenden Menschen ab; weder Freund noch Feind machten sich bemerkbar.

Der Kampf musste über mich hinweggebraust sein; zu wessen Gunsten er entschieden war, erschien mir gleichgültig. Seit langer, langer Zeit war ich wieder allein, Herr meiner Zeit und meines Tuns und Lassens.

Ich wandte mich dem Haus zu. Durch das Tor gelangte ich in einen verlassenen Hof, verstreute Gebrauchsgegenstände zeugten von einem überhasteten Aufbruch der Einwohner. Die Tür stand halb offen und gab meinem Druck willig nach. Auch hier größte Unordnung, Kleider und Esswaren in malerischem Durcheinander.

Ohne Hast bereitete ich mir eine ausgiebige Mahlzeit aus lauter Dingen, die ich schon jahrelang nicht zu Gesicht bekommen hatte. Wunderbar gestärkt erhob ich mich und suchte mir passende Kleider in Zivil. Bald sah ich aus wie ein Landstreicher und kam mir doch wie neugeboren vor. Sorgfältig stopfte ich meine spärlichen Habseligkeiten in die Taschen meines neuen Gewandes.

Zum ersten Mal fiel mir auf, dass ich Rucksack und Mantel im Wohnwagen vergessen hatte, und ich lächelte darüber. Mein militärisches Äußeres war abgestreift, ich brauchte keine Menageschale mehr, keine Gasmaske, kein Gewehrputzzeug, nichts von diesem unnützen Kram. Um die Umwandlung endgültig zu machen, zerknüllte ich den Marschbefehl, zerriss das Soldbuch und steckte beides in Brand, sodass bald nur ein Häufchen kärglicher Asche und etwas stickiger Geruch übrig waren.

Schließlich steckte ich Brot und Wurst zu mir, nahm noch einige tiefe Züge aus der Milchkanne und machte mich dann auf den Weg. Denn für mich stand fest: Ich musste Argela erreichen, ich wollte sie mit mir nehmen und mit ihr fortgehen, irgendwohin, wo es keine Menschen gibt außer uns beiden, wo man zu den Blumen sprechen kann und die Sonnenstrahlen die Haut mit weichen Fingern streicheln.

Nun setze ich meine Niederschrift fort. Unversehens bin ich ins Träumen geraten. Ich stand mit Argela in hohem Gras, das sich weich an unsere Beine schmiegte, und wir blickten über ein Land, in dem es keine grauen Farben gab und das in der Ferne direkt in den Himmel überging, einen tief dunkelblauen Himmel …

Ich war verwirrt, und daran war meine Schwäche schuld. Das bisschen Schreibarbeit war schon zu viel für mich, es wird auch ein Weilchen dauern, bis ich wieder kräftig und ausgeruht bin. Die letzten Seiten schrieb ich im Licht einer Petroleumlampe, die ich am Türstock an einem Nagel hängend gefunden habe. Ich muss ziemlich lange geschlafen haben, schon lichtet sich im Osten ein milchiger Morgen, das Ölflämmchen ist fast heruntergebrannt, doch es reicht noch für meine Schreibarbeit.

Ich soll jetzt dort fortfahren, wo ich unterbrochen habe. Doch es wird genügen, die folgenden Stunden nur flüchtig zu streifen. Die stehen mit meinem Schicksalsweg nur in mittelbarem Zusammenhang.

Vorher erwähnte ich, wie wenig es mich interessierte, wer bei dem Gefecht gewonnen hatte. Doch nun sollte ich es zu spüren bekommen, wie wichtig diese Entscheidung für mich war. Wie ich bemerkte, hatten die unseren den Kürzeren gezogen und sich zurückgezogen. Ich befand mich also im Feindesland, zwischen mir und Argela dehnte sich die Frontlinie.

Wie es mir gelang, mich durchzuschlagen, will ich übergehen. Für den kurzen Weg, für den wir beim Hermarschieren nur wenige Stunden benötigt hatten, brauchte ich nun drei Tage. Straßen und Wege durfte ich nicht benutzen, musste mich vor jeder Uniform hüten, gleichgültig, ob sie nun lehmbraun oder feldgrau war. Ohne Orientierung irrte ich durch die Wälder, verlor immer wieder die Richtung, musste umkehren und erneut weitersuchen. Jede Truppenansammlung zwang mich zu zeitraubenden Umwegen, Nahrung bettelte ich mir bei Bauern zusammen, die Mitleid mit mir hatten. Langsam begann ich die Hoffnung zu verlieren, dass der Wagen überhaupt noch an der Stelle stünde, wo ich ihn verlassen hatte; dennoch schwebte mir das kleine Dorf wie eine Stätte der Verheißung vor, denn ich war sicher, dass mir Argela irgendeine Spur zurückgelassen haben würde, die mich unfehlbar zu ihr leiten könnte.

Als ich nach Aufbruch der Dunkelheit am Ende des dritten Tages das Dorf wirklich erreichte, befand ich mich in einem völlig heruntergekommenen Zustand, die Schuhe waren durchlöchert, Hose und Rock hingen in Fetzen vom Leib, gegessen hatte ich untertags überhaupt nichts mehr, zudem war ich das letzte Stück meines Weges mehr gelaufen als gegangen. Es war mir gewesen, als wäre jede Minute kostbar, jedes Zaudern nicht wiedergutzumachen.

Erst nach dem Überwinden der letzten Anhöhe bescherte sich mir ein Anblick, der mich mit einem Male meine Müdigkeit vergessen ließ. Unten am Dorfplatz, im letzten schwachen Licht des verdämmernden Tages gerade noch erkennbar, ruhte der braune Fleck der Deckplache von Argelas Wagen. Noch trennte mich eine Viertelstunde von diesem meinem Ziel, und ich rannte wie ein Irrsinniger los, sodass ich bald keuchend einhalten musste, die Hände an meine schmerzende Brust gepresst …

Doch bald ging es weiter, zwar vorsichtiger, aber dafür in stetigem Tempo, meinen Wünschen entgegen. Noch war es nicht ganz finster, als ich zu den ersten Häusern kam, doch meine Sehnsucht war so groß, dass sie sich nicht länger zurückdrängen ließ. Ich konnte die völlige Dunkelheit nicht abwarten, so notwendig das auch gewesen wäre. Und diese Unvorsichtigkeit sollte sich rächen. Wie hätte ich auch ahnen können, dass gerade dieses Dorf als Hauptquartier einer der letzten Truppeneinheiten auserwählt worden war und deshalb scharf bewacht wurde.

Als ich mich beim ersten Gebäude vorbeischleichen wollte, erscholl ein lautes »Halt, Losungswort!« hinter mir und ein Posten stürmte aus der Tür. Dieses Hindernis im letzten Moment verursachte mir einen ungeheuren Schreck. Kopflos lief ich die Straße entlang, ein Schuss ertönte, und etwas streifte die Mauer neben mir. Dann war ich hinter der nächsten Ecke verschwunden, während alarmierende Rufe aufklangen. Schon wurde es lebendig, gerade noch erreichte ich den Wagen und konnte unbemerkt hineinschlüpfen.

Argela war hier! Auf dem Lager, wo ich mich einst von meinem Sturz erholt hatte, lag sie, aus den schwarzen Decken schaute das Gesicht hervor, ein schmales Gesicht von fast durchsichtiger Blässe, in dem die Augen den meisten Platz einzunehmen schienen.

Noch war ich nicht in den trüben Schein der Öllampe getreten, Argela konnte mich nicht erkennen.

»Wer ist da?«, fragte sie, die Stimme klang müde und gleichgültig.

Draußen brandete Lärm auf. Einen Moment durchzuckte mich eine unsägliche Trauer: warum man einen wehrlosen Menschen so mitleidlos hetzen musste? Dann aber dachte ich daran, dass es sich vielleicht nur um Sekunden handeln konnte, bis man mich von Argela wieder Fortriss. Wortlos flog ich auf sie zu, wir klammerten uns aneinander, wir küssten uns mit unbeschreiblicher Glut, eine Woge von Leidenschaft trug uns fort …

Erst langsam begann dann mein Denken wieder zu funktionieren, ich fragte, wie es ihr ergangen war, wieso der Wagen noch hier sei.

»Ich habe eine Radachse zerhackt«, antwortete Argela und drängte sich an mich; doch ihr Ausdruck wurde ängstlich und bekümmert, der Lärm von draußen drang erst jetzt in ihr Bewusstsein. Ich hob einen Zipfel des Tuches und spähte hinaus. Und was ich sah, erfüllte mich mit neuer Angst. Eine Patrouille suchte Haus um Haus systematisch durch, ein Scheinwerfer beleuchtete die Fassaden der Bauernhäuser, verängstigte Frauen und Kinder wurden aus den Häusern getrieben. Noch waren wir im Wagen sicher, doch immer näher kam das Geschrei.

»Wir müssen fort!«, rief ich mit gedämpfter Stimme, »steh’ auf, beeil dich!«

Argela versuchte sich aufzurichten, doch sank matt auf das Kissen zurück.

»Was hast du?«, flüsterte ich erschrocken. »Bist du krank?« Ihr schlechtes Aussehen fiel mir erst jetzt auf.

Es gelang ihr, aufzustehen.

»Es ist nichts Ernstes«, sagte sie, doch sie musste sich auf mich stützen, »ich bin nur etwas schwach, es dreht sich alles!«

Sorge stieg in mir auf, eine Angst, die mich eine Sekunde zögern ließ. Doch ich musste handeln … Ich hob die Plache an der dem Licht abgewandten Seite und half Argela, hier hindurchzukommen. Dann hob ich sie mit beiden Armen auf, sie hielt sich an meinem Hals fest, und vorsichtig im Schatten verbleibend versuchte ich, sie fortzutragen …

Welch vergebliches Bemühen! Längst waren alle Wege, die aus dem Dorf hinausführten, besetzt, außerdem war ich so schwach, dass ich den zarten Körper kaum mehr halten konnte … An eine Mauer gelehnt stand ich da, das Mädchen an mich gepresst und sah ein, dass alles aus war.

Ich hielt Argela noch an mich gedrückt, als uns der Scheinwerfer erfasste … Blendendes Licht tauchte uns ein, wir sahen nichts mehr von der Umgebung, wie gebannt von einem unbarmherzig glühenden Weiß standen wir still, nur unsere Augen sprachen, kein Wort kam über unsere Lippen …

Dann sahen wir uns umringt, Soldaten, die mich festnehmen sollten, versuchten, uns auseinanderzureißen, Bauern standen um uns herum, aufgeregte Offiziere brüllten, Weiber schrien ängstlich. Ich trennte mich nicht gutwillig von Argela. Die Männer zerrten an mir, immer wieder riss ich das Mädchen an mich, und endlich, mit brutalem Griff, konnten sie uns ganz auseinanderbringen. Und noch im Moment der Trennung rief mir Argela etwas zu, und ich verstand davon nur: »Ich warte« … und »beim grauen Turm« …

Dann schleifte man mich endgültig weg …

Ich war irgendwie betäubt und verstand nichts, dennoch erinnere ich mich an jeden Fluch der Unteroffiziere, jeden Blick weinender Kinder, die mir furchtsam nachschauten. Und durch die brodelnde Menge sprang der Dorfnarr und schrie: »Im dritten Leben kommt ihr zusammen, im dritten Leben, im dritten Leben …«

Der Kreis hatte sich geschlossen. Wieder will ich mir das nun folgende Verhör ersparen. Meine Gedanken waren nicht zugegen, ich ließ die Fragen wie die Schläge wortlos über mich ergehen. Leute in Uniform lümmelten um mich herum und starrten mich durch den Rauch ihrer Zigaretten an wie ein seltsames Tier. Vielleicht waren die dabei, die mich seinerzeit am Waldrand aufgestöbert hatten. Alle sahen gleich aus.

Ich kann nicht einmal berichten, wie das Urteil ausfiel, das mir nach kurzer Wartezeit vorgelesen wurde; wahrscheinlich sollte ich hingerichtet werden. Da ich keine Papiere bei mir hatte, war ich ein Spion oder ein Deserteur, und für diese gab es nur eine Strafe: den Tod. Aber wie gesagt – ich hörte kaum zu, die Worte glitten an mir vorbei. Der Kreis hatte sich geschlossen. Wo ich zu Beginn meiner seltsamen Abschweifung vom zugedachten Pfad gestanden war, dort stand ich jetzt wieder. Nur war das, was damals nur Drohung war, heute Wirklichkeit.

Zunächst wurde ich in einem Keller versperrt, offenbar den Gemeindekotter, wo ich in einen Haufen von feuchtem Stroh sank. Alles drehte sich um mich, die Entfernungen von den Wänden schienen unendlich groß zu werden, der Boden unter mir zu versinken. Ich hatte das Gefühl zu fallen und zugleich zu steigen und empfand die Einsamkeit körperlich um mich herum. Trauer überkam mich, der ich hilflos ausgesetzt war, und als ich mich in unsäglichem Weh hin und her warf, glaubte ich, haltlos im leeren Raum zu pendeln. Überdies spürte ich deutlich jeden Schlag des Herzens, das Blut drängte sich schmerzhaft durch die Schläfen, und eiserne Reifen schienen meine Brust zu umklammern. Mein Kopf war glühend heiß, mein Denken bewegte sich aus den gewohnten Geleisen heraus. Ich vermochte nicht mehr, Einbildung und Wirklichkeit zu unterscheiden; Vergangenheit war gegenwärtig, und ich verschmolz mit der Gegenwart zu einem auf mich eindringenden Halbwesen.

Man hatte mich ins Gefängnis geworfen, weil ich ohne Ausweise in das Hauptquartier eingeschlichen war. Zugleich aber, weil mich Argela an die Hussiten verraten hatte und ich nur mehr bis zum nächsten Tag zu leben hatte; schon wurde draußen der Galgen vorbereitet. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen gestern und heute. Dumpfe Schläge schollen bis zu mir herein, vom Gejohle unterbrochen. Dann schien man meine Gefangennahme zu feiern, eine Geige fiedelte, Gesang klang auf und Geklirr von brechenden Krügen mischte sich darin. Sehen konnte ich nichts von den Vorgängen draußen, Licht kam nur durch ein enges und vergittertes Loch mir gegenüber an der Wand, mehr eine Schießscharte als ein Fenster; es war der Glanz der Sterne, und ich saß auf meinem Stroh und sah hinauf. Ein Stern gleißte in wildem Licht; unser Streit, unsere Kämpfe, ja selbst mein Leben und Tod kamen mir plötzlich unwichtig vor. Der Lauf der Gestirne blieb ungerührt von unseren Sorgen und Nöten, und keine zu ihnen hinaufgerufene Klage mochte an dem ehernen Schicksal etwas zu ändern. Geburt und Tod, Sternenauf- und -untergang, alles geschah, wie es bestimmt war.

So hockte ich an den kalten Stein der Wand gelehnt; die Schritte des Wächters hallten im Gang hinter dem Eisengitter, das mein Verlies verschloss, wenn er gelegentlich vorbeikam, um mich anzugaffen; später verstummten sie auf längere Zeit. Dafür schoss eine Fledermaus durch die Fensteröffnung herein und verließ sie wieder, nachdem sie wie ein Schatten mit vibrierenden Flügelschlägen durch den Raum geflattert war. Undeutliches Geschrei schwoll draußen auf und verebbte wieder, und ein zweiter, schwächerer Stern begann, in meinem Ausblickloch zu funkeln.

Plötzlich vernahm ich kaum hörbares Rauschen und drehte mich um. Zwischen zwei Gitterstäben sah ich zwei samtglänzende Punkte, Augen, die auf mich hinsahen … Ich ahnte die Nähe Argelas und rührte mich nicht … Ihre schmale Hand hob sich, Schlüssel klirrten, ein Ruck, die Tür stand offen.

»Komm«, flüsterte es in der Dunkelheit, »wir haben keine Zeit zu verlieren!«

Argela kam, um mich zu befreien! Oder war es wieder ein grausames Spiel, Freude an der Demütigung, Lust an der Qual? Noch stand der Verrat deutlich vor mir.

»Komm«, drängte sie, »so komm doch!« Dieser flehende Ton trog nicht, ich hörte es ihm an. Und jetzt erkannte ich auch, dass das Mädchen mich liebte und nichts so dringlich ersehnte, als mich in Sicherheit zu wissen. Aber noch war das Geschehen am Mahnstein lebendig; damals war ich bereit gewesen, meiner Liebe alles zu opfern, und nichts hätte mich mehr verletzen können, als die erlebte Schande. Mein Stolz war noch lebendig in mir, der Stolz, der uns seit der Kindheit anerzogen war und der es uns erlaubte, auf alle Menschen mit Verachtung herabzublicken, die nicht aus unserem Geschlecht stammten. Argelas wegen war ich einmal bereit gewesen, von ihm zu lassen, der mir bis dahin das Höchste auf Erden erschienen war.

Doch jetzt überkam mich der Teufel. Ich liebte dieses Mädchen genauso wie am ersten Tag, dennoch legte ich Verachtung in meine Stimme, als ich aufstand und sagte: »Von dir möchte ich keine Stiefel nachgetragen haben, geschweige denn meine Freiheit!«

»Ich habe dem Wächter Branntwein gebracht, er liegt betrunken vor der Türe, wir können fliehen! So komm doch, bitte!«, schluchzte sie und versuchte, mich fortzuziehen.

Kalt stieß ich sie zurück.

»Wenn die Stunde der Wachablöse gekommen ist, ist es zu spät, wir haben höchste Eile!«, stieß sie hervor, am Boden kauernd und meine Beine umklammernd.

Ein Triumphgefühl überkam mich, ein Gefühl der schrankenlosen Macht über einen Menschen und die Lust, diese zum Vernichten zu gebrauchen.

Ich rief: »Du hast mich in eine Falle gelockt und verraten …«

»Ich habe es doch schon sehr bereut, ich will es wieder gut machen, verzeih’ mir doch! Kannst du denn nicht vergeben?«

Wüstes Geheul schreckte uns auf, Gestampfe näherte sich, mein Wächter taumelte durch den Gang, von Fußtritten gestoßen, Fackeln erhellten die Szenerie.

»Lieber tot, als einem Weib das Leben verdanken!«, schrie ich und lachte.

Der groteske Zug hatte meinen Kerker erreicht, der Schwarze trat ein, mit weingerötetem Gesicht, die Locken wirr ins Gesicht hängend.

»Wir stören wohl!«, lachte er und zog Argela am Genick empor.

Sie sah mich mit unendlich traurigem Blick an und sagte: »Gott möge uns beiden verzeihen, meinen Verrat und deinen Mord!«

Ein wüst aussehender, aufgedunsener Fettwanst kreischte: »Jetzt muss er baumeln, das wird heiter!«

»Es war kein Mord«, schrie ich, »ich hab’ den Zweikampf gewonnen, du kannst nur nicht vertragen, dass er besiegt wurde, der Löwe!«

»Das wird ein Spaß«, kicherte der Dicke, »auf den Galgen mit ihm!«

Sie zerrten mich aus dem Verlies und schlossen Argela ein. Sie stand aufrecht am Gitter und sagte schwer: »Mein Bruder konnte sich kaum bewegen, er war verwundet, du hast einen Wehrlosen getötet!«

Ich hörte es kaum mehr, und doch traf es mich wie ein Hieb … Das war das Geheimnis zu meinem ruhmvollen Sieg! Ich hätte mir selbst ins Gesicht speien können. Was war mein Stolz gegen den dieses Mannes, der lieber mit der Waffe in der Hand starb, als Schonung wegen Krankheit in Anspruch zu nehmen. Ja, jetzt fielen mir seine matten Bewegungen ein; der Körper war unbewegt gestanden, nur der Unterarm und die Hand hatten den Degen in Paradestellung gebracht. Seine Augen blickten mich wieder an, Augen, die dem Tod ins Gesicht sahen und keine Furcht kannten. Nicht ich hatte diesen Kampf gewonnen, er hatte mich bezwungen. Vernichtender als mit Waffengewalt, zerschmetternder als durch körperliche Überlegenheit.

Diese Augen verfolgten mich, sie blickten mich an, als man mich später ans Feuer schleppte, als man meine Mörderhand auf den Block legte und das Beil fiel. Sie standen vor mir, als man mir die Schlinge um den Hals legte, sie durchbohrten mich, als der Tisch unter mir umgestoßen wurde und folgten mir in jenes Niemandsland, aus dem kein Tag zurückführen soll.

In dieser furchtbaren Stunde, an die ich mich nur mit Schaudern erinnern kann, war mir die körperliche Angst, die jede Kreatur vor dem Sterben hat, stark von den Gewissensbissen verdrängt, die mich mein Leben verfluchen ließen, meine Gier nach Ruhm, meinen tödlichen Stolz, und mit jeder Minute wuchs mein Bedauern darüber, dass mir keine Zeit mehr blieb, meine Schuld gut zu machen. Immer sehnlicher wurde dieser Wunsch, der wuchs und wuchs und mich immer mehr erfüllte, und seinen Höhepunkt erreichte, als ich, schon mit gebrochenem Genick und doch noch für Augenblicke bei Bewusstsein, zurückfiel, woher ich einmal gekommen war.

Dazwischen oder nachher – wie hätte ich es unterscheiden können – wurde mir noch eine Erscheinung zuteil, die mir noch einmal den Schmerz der Trennung wachrief, um mich – von diesem durchdrungen – um so grausamer wieder der Nacht ausliefern.

Ich stand in meinem Kerkerraum, die Hände an die Stahlstäbe des Fensters gelegt, hochaufgerichtet, um einen Blick herauswerfen zu können, von einer Ahnung durchdrungen, die hieß: Argela.

Meine Beine zitterten, haltlose Schwäche machte mich hilflos wie einen Käfer mit ausgerissenen Beinen, auf den man tritt. Dazu hatte ich das Gefühl, als wäre mein Kopf vom Hals getrennt und nur lose auf einem aus dem Rumpf ragenden Stock befestigt; ich konnte ihn weder heben noch drehen; den ganzen Oberkörper musste ich zurückneigen, um überhaupt hinaussehen zu können …

Und Argela kam … zuerst die Spitze einer Deichsel, zwei Pferdeköpfe, deren Körper müde folgten, und dann sie! Auf dem Kutschbock sitzend, den Kopf geneigt, vor sich hinblickend … Kein Wenden des Kopfes, keine Geste, die ein Ansprechen auf jene Wellen inniger Gefühle angezeigt hätten, in das ich mich aufzulösen schien, als ich erkannte, dass ich nicht rufen, nicht reden, nicht einmal flüstern konnte. Ein Schrei, ein Laut, ja, nur ein Röcheln hätte sie aus ihrer Versunkenheit erweckt, und ich brachte keinen Ton heraus, kein Laut entrang sich meiner Kehle …

Würgende Krallen schienen meinen Hals umklammert zu halten, und Argela entschwand meinen Blicken. Ich aber brach auf dem Boden nieder und wollte nicht mehr sein.

Langsam bin ich am Ende meiner Geschichte angelangt, einer Geschichte, die, so unglaubhaft sie mir selbst scheint, doch ihre Spuren in mein Hirn unlösbar eingeprägt hat. Nie wieder werde ich so fröhlich lachen können wie früher einmal, nie wieder unbeschwert heiter sein. Und doch bin ich nicht mutlos, denn ich habe meine Schuld gebüßt. Mein schmerzender Armstumpf verursacht mir fast ein angenehmes Gefühl, die Mordhand ist verschwunden, und es ist mir, als wäre dies ein Zeichen, dass die Zeit der Strafe vorbei ist. Aber ich muss zu einem Ende kommen.

Ich habe berichtet, wie ich es erlebte, und es kann nicht alles Traum gewesen sein, das bestätigt mein zerschundener Körper, der Schmerz an meinem Hals und der blutige Verband meiner rechten Hand.

Ich bin mit meiner Schilderung bis zu dem Zeitpunkt gekommen, wo ich im Gefängnis zusammenbrach, und kann erst da fortsetzen, wo ich dadurch geweckt wurde, dass man versuchte, meinen Arm unter den Trümmern hervorzuziehen und dieser ohne Hand zum Vorschein kam. Ein Fliegerangriff, der der Befehlsstelle galt, hatte das Bürgermeisteramt getroffen, in dessen Keller ich eingeschlossen war, und mich halb verschüttet. Unter der Pflege mitleidiger Menschen war mein Arm besser geworden, mein Wille zum Leben aber schlummerte, bis ich einmal zufällig von jenem »grauen Turm« sprechen hörte, einer bis zu den Grundmauern verfallenen Ruine eines Wachtturms aus alten Zeiten.

Und dies weckte mich aus meiner Lethargie, es schreckte mich fast unsanft auf; ich verließ bedenkenlos meine guten Betreuer, denen ich nie so danken können werde, wie sie es verdienten. Ich hatte den Weg zu jenem Gemäuer genau erfragt und gelangte nach zwei Stunden dorthin. Es steht auf einer Anhöhe, von der man weit ins Land hinein sieht, gegen Norden bis hin zu den böhmischen Bergen, im Süden bis zum Dachstein und dazwischen Hügel um Hügel, Wälder und Wiesen, grauer Dunst schwebt darüber, wie ein violetter Schleier.

Argela ist nicht hier. Aber ich zweifle nicht daran: Sie kommt.

Ich habe mich in einer einfachen Jagdhütte neben der Ruine niedergelassen, wo ich sogar etwas zu trinken fand, und vertreibe mir die Zeit mit der Niederschrift meines Lebens, so weit es mir bedeutsam erscheint. Längst bin ich davon abgekommen, das Ungewöhnliche und Geheimnisvolle daraus klären zu wollen.

Und doch hat meine Arbeit ihren Zweck erfüllt: Ich habe wieder Ruhe gefunden. Das Rätsel meines Lebens heißt Argela; seit Jahrhunderten schon, vielleicht seit jeher. Was kommt es da auf Stunden oder Tage an? Was hilft da Ungeduld und Nervosität? Das Rätsel wird gelöst sein, wenn die Zeit gekommen ist.

Durch das Fenster sehe ich über die friedliche Landschaft, kein Mensch verirrt sich hierher. Argela ist vielleicht noch weit, vielleicht aber schon nahe. Ich erwarte sie hier, es kann mir nicht zulange dauern.

Noch einmal überlese ich die eng beschriebenen Seiten. Können sie auch keine Fäden entwirren, so kann ich vielleicht Hoffnung aus ihnen schöpfen. Und wirklich, ich bemerke etwas, das mir bisher noch nicht aufgefallen war: »Im dritten Leben findet ihr euch!« So rief der Dorfnarr am Weiher unten bei meiner Festnahme. Ist jener Narr vielleicht ein Wissender, einer, der mehr vermag als die anderen, die ihn deshalb nicht verstehen können?

Die Entbehrungen und Anstrengungen der letzten Wochen hätten mich längst zugrunde richten müssen. Und ich lebe noch, ja, ich fühle mich besser als je zuvor, bin von meiner Krankheit ganz erholt und spüre keine Schmerzen mehr. Ich fühle sogar meine Hand, die unter Trümmern in der Erde fault, spüre jeden Finger. Nichts tut mehr weh!

Es muss das dritte Leben sein! Das neue Leben der Verheißung. So ist es bestimmt. Daran glaube ich … Die Vereinigung mit Argela steht bevor … Schon ist sie am Weg … Die Gewissheit meines kommenden Glückes durchbraust mich und macht mich schwach … und müde … Ich werde den Kopf auf meine Arme legen, mich auf die Tischplatte stützen und etwas schlafen … Und wenn ich aufwache, wird Argela bei mir sein. Und bei mir bleiben …

Entstehung der handschriftlichen Urfassung 1945/46

Korrekturen und Maschinenabschrift 1952

DAS GUTENBERG-KONZIL

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