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Erlebnis unter den Sternen

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Wahrscheinlich ist es der klare Nachthimmel mit seinen unzähligen Sternen, der mich heute so sehr an ein kleines Erlebnis erinnert. Es liegt schon viele Jahre zurück.

Eine ebenso schöne Sommernacht wie die heutige war damals angebrochen. Wir – eine kleine Gruppe von Studenten – waren mit der Vorortbahn bis zur Endhaltestelle gefahren und zogen nun unter fröhlichem Geplauder den Hügel hinan, auf dem die Sternwarte lag. Sie war unser Ziel. Ein Kollege, der Astronomie studierte, hatte uns eingeladen und wollte uns das große Fernrohr vorführen. An Weingärten ging es vorbei, an alten Heurigenschenken, und bald tauchte links die Mauer aus dem Dunkel empor, die den weiten Garten der Sternwarte einschloss.

Die idyllische Umgebung beeinträchtigte unsere Stimmung wenig. Mit Gesang weckten wir die Schläfer und freuten uns, wenn ein Fenster klirrend zugeworfen wurde. Vielleicht war dieser Übermut an dem Missgeschick schuld, das uns später widerfuhr.

»Einen schöneren Abend hättet ihr gar nicht treffen können«, rief uns Paul zu, der Astronom, der uns bereits am Tor erwartete. Wir schlenderten über kiesbestreute Wege durch den Park, unter den Kronen von alten Bäumen hinweg. Bald betraten wir die Lichtung, wo der Bau der Sternwarte mit der großen Kuppel sich gegen den Himmel erhob.

Über einige steinerne Stufen traten wir in den Vorraum ein. Angenehm kühl war es hier. Die Schritte hallten auf dem Steinboden, man hatte das Gefühl, sich in geheiligten Hallen zu bewegen.

Zunächst wandten wir uns zum Uhrenzimmer, von wo aus die Zeitangaben des Rundfunks geregelt werden. Dann ging es durch lange Gänge, vorbei an Vitrinen, in denen wertvolle Geräte staubfrei aufbewahrt sind. Unser Kollege erklärte, und bald schwirrte uns der Kopf von den vielen Fachausdrücken: Teleskopen, Refraktoren und Reflektoren.

Dann lenkten wir unsere Schritte zum Allerheiligsten, dem Turm mit dem großen Fernrohr, einem Zwanzigzollteleskop, wie uns Paul eingehend erläuterte.

Es verging einige Zeit, bis sich auf ein Klingelzeichen hin die Tür öffnete und wir eintreten durften. Hier brannte kein Licht. Das Auge des beobachtenden Astronomen muss völlig der Dunkelheit angepasst sein, damit er auch die schwächsten Lichtunterschiede im Blickfeld erkennt. Wir stolperten zunächst geblendet durch den Raum und bemerkten erst allmählich die Gestalt eines alten Mannes, der uns geöffnet hatte. Obwohl wir ihm wenig Beachtung schenkten, kam er uns doch etwas seltsam vor. Seine langen grauen Haare, die ihm wirr vom Kopf hingen, seine nachlässige Kleidung, seine unbeholfenen Bewegungen fielen uns auf. Doch er blieb im Hintergrund und hielt stets einen gewissen Abstand von uns ein.

Als sich unsere Augen etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnten wir über eine Treppe in das Innere der Kuppel kommen. Die Decke bestand aus aneinandergereihten Glasfenstern, sodass der Blick auf den unendlichen Himmel frei war. In der Mitte des Raumes auf einem Sockel, ruhte der massige Körper des etwa acht Meter langen Teleskopes. Wie wir erfuhren, war es seinerzeit das einzige dieser Größe gewesen.

»Sonst sind die Beobachtungsplätze am Fernrohr stets besetzt«, führte Kollege Paul aus, »heute aber haben die Herren eine Besprechung, sodass wir uns alles in Ruhe ansehen können.« Er trat an das Fernrohr heran und löste einige Befestigungen.

»Das Teleskop ist im Schwerpunkt befestigt, sodass man es leicht bewegen kann; schwieriger ist es, dieser Bewegung zu folgen. Bei geringer Winkelverstellung bewegt sich die Einblicköffnung stark auf- oder abwärts. Dieses Problem ist aber hier ganz einfach gelöst.«

Er drückte den Knopf. Ein Zittern lief über den Holzboden, dann begann dieser plötzlich, sich mit uns allen zu heben.

»Der Boden ist als Bühne ausgebildet, die ich hier durch diesen Knopf leicht heben und senken kann. Ich visiere jetzt den Saturn an.«

Wie in einem Aufzug fuhren wir empor, bis mit einem Ruck Stillstand eintrat. Paul drehte das Fernrohr noch etwas seitwärts und ließ uns dann durchblicken. Zum ersten Mal konnten wir den sagenhaften Planeten Saturn genauer sehen. Zum Greifen nahe hing er weiß schimmernd im Blickfeld, umgeben von seinem Ring. Auch zwei Monde waren deutlich erkennbar.

Einer nach dem anderen trat an das Fernrohr heran und konnte das Wunder der Himmelskörper auf sich einwirken lassen. Hier oben schien es, als stünde man mitten zwischen den Sternen und wir konnten zum ersten Mal voll erfassen, dass Menschen ihr ganzes Leben den Sternen widmen.

Nur langsam vermochten wir uns dem Bann zu entziehen und den Anweisungen unseres Führers zu lauschen, erst nach und nach sprachen wir wieder und tauschten unsere Gedanken aus.

Es waren vielleicht zwei Stunden vergangen, vielleicht auch etwas mehr – wir mussten an die Rückkehr denken. Paul senkte die Bühne und befestigte das Fernrohr. Langsam verließen wir den Raum.

Was nun geschah, spielte sich in Sekunden ab. Wir hatten nicht bemerkt, dass ein Kollege zurückgeblieben war. Plötzlich hörten wir das surrende Geräusch des Hebemechanismus und hörten einen Ruf aus dem Beobachtungsraum. Als wir die Treppe emporsprangen, sahen wir über uns die Bühne, die sich nach oben bewegte.

»Halt«, schrie unser Kollege, »stoppen! Das Fernrohr wird beschädigt.«

»Wo ist der Schalter dafür?«, erklang kläglich die Antwort von oben.

Der Unglücksvogel hatte ohne weiterzudenken den Hebevorgang ausgelöst und konnte ihn nicht mehr bremsen. Das Fernrohr war festgelegt, gleich musste die Bühne daran stoßen. Bei diesem Präzisionsgerät bedeutete natürlich jede kleinste Verbiegung einen Schaden, ein starker Stoß war kaum wiedergutzumachen.

Dazu kam noch, dass Paul für die Geräte verantwortlich war, da er den Assistenten vertrat. Ein solcher Zwischenfall wäre das Ende seiner Laufbahn gewesen.

Wir standen ratlos da und sahen das Unglück nahen. Da eilte der weißhaarige Alte herbei, bückte sich an der Wand hinab. Seine Hand schoss vor – Funken sprühten auf und … die Bretterbühne stand still. Wenige Zentimeter noch und der Zusammenstoß wäre erfolgt.

Wir atmeten befreit auf. Wie war die Rettung erfolgt?

Die Erklärung war einfach. An einer Stelle der Mauer traten die Zuleitungskabel aus einer Öffnung hervor, es waren hier die Drahtenden befestigt und isoliert. Der Alte hatte sie mit bloßen Händen herausgerissen, ohne die Gefahr zu beachten, die eine Berührung der Strom führenden Drahtenden mit sich bringen musste.

Doch es war gut gegangen. Der kleine Kabelschaden wurde schnell von uns repariert. Mittlerweile hatte sich unser voreiliger Kamerad oben am Podium über dessen Rückführung informiert und konnte es dann leicht hinab transportieren.

Wir fühlten uns etwas schwach in den Knien, als uns der Alte schließlich herausließ. Das erste Mal stand ich ihm nahe gegenüber, doch konnte ich seine Gesichtszüge noch immer nicht erkennen, da er nicht aus den unbeleuchteten Räumen des Turmes herauskam. Impulsiv streckte ich ihm die Hand entgegen, doch er rührte sich nicht.

Draußen im Garten erzählte uns der Astronom von dem alten Mann. Dass er früher Assistent des Observatoriums war und sich nicht mehr von seinen Sternen trennen konnte.

»Er erhält eine bescheidene Pension und entfernt sich nie aus seinem Turm. Er ist hier zu Hause und kennt jedes Schräubchen.«

»Und als ich ihm die Hand reichen wollte …?«fragte ich und ahnte schon die Antwort.

»Er geriet im Ersten Weltkrieg in einen Gasangriff und ist erblindet.«

Wir waren sehr nachdenklich, als wir nun in die Stadt zurückkehrten.

Wenn die Luft klar ist wie heute und so viele Sterne am Himmel leuchten, dann erinnere ich mich oft an diese Episode.

Entstehungsdatum ca. 1946–1950

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