Читать книгу DAS GUTENBERG-KONZIL - Jörg Weigand, Ulrich Blode - Страница 13

Nachbarskinder

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Obwohl weite, dunkelgrüne Nadelwälder ein Übriges dazu taten, das Dorf vor der Umwelt verborgen zu halten, vergaß die freundliche Nachmittagssonne nicht, es in ihren strahlenden Schein zu tauchen. Nur ein schmaler Gürtel von Wiesen und Feldern trennte die Ortschaft vom Waldrand. In malerischer Unordnung reihten sich die wenigen Häuser um ein altertümliches Kirchlein, sie drängten sich wie die Herde um den Hirten, und nur widerwillig schienen sie der Straße Platz zu machen. Der Bach, der kaltes, klares Gebirgswasser direkt aus den Bergen hertrug, war bescheidener; in vielen Windungen schlängelte sich sein silbernes Band um die Häuser herum, als wollte es ihnen nah werden; weiter unten war das Rauschen eines Mühlrades zu hören.

Die Dorfstraße herab kam ein Junge gelaufen, fröhlich schlenkerte er eine mit Brombeeren gefüllte Kanne. Vor dem Hause des Dorfschusters hielt er an, strich noch schnell das Haar aus der Stirne und klopfte dann an die Scheibe des offenen Fensters. Eine Katze, die sich am Fensterbrett behaglich gesonnt hatte, fuhr erschrocken auf und eine Frau erschien mit Mistschaufel und Besen bewaffnet.

»Ah, du bist’s, Toni«, sagte sie nicht gerade freundlich.

Toni grüßte höflich und fügte hinzu: »Ich bring’ die Beeren!«

Die Frau erschien jetzt die Hände an der Schürze trocknend an der Tür und nahm die Kanne in Empfang. Sie drückte dem Kind eine Münze in die Hand und meinte dann: »Du brauchst keine mehr zu bringen«, und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

Über das hübsche und intelligente Gesicht des Knaben glitt ein Zug des Erstaunens: Was störte die Frau? Er war sich keiner Schuld bewusst.

Er verscheuchte weitere Gedanken, vom Dorfbrunnen her klang helles Lachen und Geschrei; hier pflegten sich die Kinder zu versammeln und das war entschieden wichtiger als das griesgrämige Gesicht der Gattin des Schuhkünstlers.

Der Brunnen lag nicht weit vom Dorfplatz vor der Kirche entfernt. Wunderbar schattig war es dort, prächtige alte Linden hielten die Sonnenglut ab. Ihr zarter Blütenduft lockte zahlreiche Bienen an und ständig war in den Zweigen ihr Summen und Brummen zu hören.

Die Kinder ließen sich durch die Ankunft Tonis wenig stören.

»Wir gehen zur Sägemühle«, rief Fridolin, ein kleiner rundlicher Knabe. Das Sägewerk mit seiner Umgebung war ein beliebter Spielplatz der Dorfjugend. Zwischen den Holzstößen gab es wundervolle Verstecke, die Bretter ließen sich zu Hütten zusammenstellen und der Bach, der das Werk betrieb, verbreiterte sich etwas, bevor er zum Mühlrad gelangte, und verlockte zum Baden und Herumplätschern im Wasser.

Lärmend zog die muntere Gesellschaft zum Holzplatz, der Besitzer stand lächelnd am Eingang und ließ die Kinder an sich vorbeiziehen. Als er jedoch Toni sah, verdüsterte sich seine Miene. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und ergriff ihn am Kragen.

»Du hast hier nichts zu suchen«, brummte er, »geh’ nach Haus’!«

Nun war Toni betroffen – mochte ihn denn auf einmal niemand mehr?

Nachdenklich und betrübt machte er sich auf den Heimweg und merkte gar nicht, dass Elfi ihm nachkam. Elfi war das Töchterchen des Windhofbauern, dessen Gehöft nur wenige Minuten von Tonis Vaterhaus, dem Waldhof, entfernt war. Beide Höfe lagen etwas abseits vom Dorf, der Hof Elfis am Rande des Waldes, der von Toni auf einer nahen Waldlichtung. Das Mädchen hatte ihren kleinen Freund bald eingeholt und ging stumm neben ihm her.

»Warum spielst du nicht mit den anderen?«, fragte er nach einer Weile abweisend.

»Ich muss ohnedies nach Hause und hab’ gedacht, ich geh’ gleich mit dir«, antwortete das Mädchen.

Sein Gesicht hellte sich etwas auf. Die beiden schritten eine Weile schweigend nebeneinander her. Das Dorf lag bereits hinter ihnen, sie benutzten den Feldweg, der auch der gemeinsame Schulweg war. Toni hatte eine Gerte abgerissen und köpfte den Löwenzahn am Wegrand.

»Tu doch den Blumen nicht weh, Toni!«, rief Elfi schließlich.

»Wer fragt denn, ob mir jemand wehtut?«, trotzte ihr Gefährte. »Seit ein paar Tagen merk’ ich es schon. Warum mögen sie mich nicht mehr, die Leute im Dorf? Sag’, Elfi, warum?«

Das Mädchen zögerte: »Es ist wegen deinem Vater …«

Toni wandte erstaunt den Kopf: »Was ist mit meinem Vater?«

»Er ist halt so seltsam in der letzten Zeit«, antwortete das Mädchen stockend.

»Seltsam!«, rief der Bub. »Traurig ist er, seit die Mutter tot ist!« Das braune Gesicht des Jungen wurde weich. »Das muss doch jeder verstehn!«

»Das ist es ja nicht«, murmelte Elfi.

»Was ist es?«, schrie jetzt Toni aufgebracht, »Ich muss es wissen!« Er packte das Mädchen am Handgelenk. »Sofort sagst du es!«

»Au!«, quietschte die Kleine. »Du tust mir weh!«

Doch Toni ließ nicht locker: »Sofort sagst du es!«

»Es heißt, er wildert!«, rief Elfi, riss sich von dem verblüfften Jungen los und rannte ihrem Gehöft zu, an das sie mittlerweile herangekommen waren. Toni wandte sich kopfschüttelnd heimzu. Das letzte Stückchen des Weges führte durch den Hochwald, in dessen Dunkel nur vereinzelte Streifen hellen Sonnenscheins drangen. Von der Lichtung her, auf der der Waldbauernhof stand, hörte man Holzhacken, schon leuchteten helle Mauern durch die Stämme durch. Tonis Vater war gerade dabei, Brennholz zu richten. Es war ein schmaler, aber kräftiger Mann, dessen Züge allerdings etwas finster waren. Sie hellten sich zwar auf, als der Junge hinzutrat, verloren aber doch nicht ihre leise Trauer.

»Gut, dass du da bist, Bub«, sagte er, »kannst gleich Feuer machen und Wasser auf den Ofen stellen. Wir zwei Männer müssen jetzt allein auskommen, es ist traurig genug.«

Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, als er sein Kind eifrig ins Haus springen sah. Dann setzte er seine Arbeit fort.

Einige Stunden später lagen schon die Schatten der Nacht über dem Land. Der Waldbauernhof lag still inmitten des einsamen Waldes, der Hofhund saß vor seiner Hütte und lauschte in das Dunkel. Aus der angelehnten Tür fiel ein Lichtstreifen. Von der Küche her klang jetzt Tellergeklapper, Toni war gerade dabei, Geschirr auf einem Wandbrett zu ordnen. Der Raum war ärmlich eingerichtet, aber sauber und behaglich; eine alte Kuckucksuhr tickte, auf dem Tisch stand eine Vase mit Nelken. Der Bauer trat an die Tür und sah in die Nacht hinaus.

»Geh schlafen, Toni«, sprach er, ohne sich umzudrehen, »es ist spät und morgen heißt’s wieder fleißig sein.«

Toni trat neben seinen Vater, er hätte ihn gerne etwas gefragt, aber dieser hatte seine Augen in die unbestimmte Ferne gerichtet und bemerkte seinen Sohn gar nicht. So wünschte Toni leise »Gute Nacht« und zog sich in die Kammer zurück, wo sein Bett stand.

Ein Streifen Mondlicht lief über den Boden, und manchmal war ein geheimnisvoller Vogelschrei zu hören; Wipfel rauschten unbestimmt und leise. Toni konnte nicht einschlafen. Er musste daran denken, wie unfreundlich die Leute im Dorf in der letzten Zeit zu ihm waren und dass sie seinen Vater gar für einen Wilddieb hielten. Sein Vater ein Dieb! Das war unmöglich!

Er konnte keine Ruhe finden. Noch immer war durch die Ritze unter der Küchentür Licht zu sehen. Ging denn Vater gar nicht schlafen? Doch jetzt rührte sich etwas, das Licht erlosch. Erstaunt hörte Toni aber, dass die Haustür zufiel und sich draußen Schritte entfernten. Alle Wilderergerüchte fielen ihm ein, in den letzten Tagen wurde viel davon gesprochen. Was machte denn sein Vater jetzt im Wald?

Unruhig wälzte er sich hin und her, die Geräusche des Waldes kamen ihm plötzlich unheimlich vor. Da schlug der Hund auf einmal an. Was ging da nur vor? Das Gebell wollte nicht aufhören, war ein Fremder da? Wegen Vater hätte Tasso sicher nicht angeschlagen. Schließlich überwand Toni seine Angst, stand leise auf und trat zur Tür.

Er kam grade zurecht, um eine Gestalt hinter dem Schuppen verschwinden zu sehen. Der Hund zerrte wütend an der Kette und bellte dem Schatten nach. Hatte jemand etwas stehlen wollen? Toni löste dem Tier die Kette.

»Fass ihn, Tasso, lauf!«, flüsterte er. Wie ein Pfeil schoss der Hund davon und verschwand im Wald, sein Gebell entfernte sich. Toni trat vor Kälte und Angst zitternd in das Haus, um sich einen Rock umzuhängen. Zwei glühende Augen starrten ihn vom Herd aus an. Wie gelähmt drückte sich das Kind an die Wand. Die beiden Lichter näherten sich, ein schwarzes Etwas sprang auf es los und streifte miauend seine Füße.

»Ach, du bist es, Schnurrli!« atmete der Junge befreit auf. Er hob den Kater auf und streichelte ihn. Nun hatte er keine Angst mehr; er trat wieder in den Hof hinaus und lauschte. Nichts Ungewöhnliches war zu hören. Erst nach einer Weile knackten Äste, keuchend kam der Hund zurück.

»Na, was ist, Tasso?«, fragte der Knabe. »Erzählst mir’s?« Er nahm den Hundekopf zwischen seine Hände, erhielt aber natürlich keine Antwort.

»Ja, wenn du reden könntest, alter Tasso«, seufzte er. »Pass aber weiter gut auf, gelt!«

Sanft zog er ihn zur Kette hin, streichelte über seinen Rücken und ging dann wieder zu Bett. Bald war er vor Müdigkeit eingeschlafen.

Inzwischen hatte Elfi, das Kind des Nachbarn, ein seltsames Erlebnis. Längst schon schlief das Mädchen tief und traumlos in seinem Bett. Das Fenster war offen, doch der sanfte Wind, der mit den Vorhängen spielte, konnte es nicht stören. Plötzlich aber klangen Schritte auf, Äste brachen und lautes Hundegebell weckte das Kind. Verwirrt setzte es sich auf und rieb die Augen. Der Lärm kam aus dem Wald und näherte sich immer mehr dem Haus. Elfi lief zum Fenster, von wo sie direkt in den Wald sehen konnte – ihre Kammer lag an der Hinterseite des Gebäudes.

Zwischen den Stämmen erschien nun ein Mann, er wehrte sich verzweifelt gegen einen großen Hund, der ihn immer wieder ansprang. Elfi erkannte beide: der Mann war der Kirschhofbauer und der Hund war Tasso vom Waldhof – wie oft hatte sie mit ihm gespielt. Dass das Tier so bös sein konnte! Doch die Kleine hatte keine Angst. Schnell warf sie einen Mantel um und eilte durch die Hinterpforte hinaus.

»Pfui, Tasso, lass doch los!« rief Elfi. »Wirst du aufhören! Geh schon!« Sie hielt den Hund am Halsband fest, und wirklich ließ er von seinem Opfer ab. Er kannte das Mädchen und ließ sich beruhigen. Der Bauer war, ohne ein Wort zu sagen, wieder verschwunden.

Das Kind schüttelte erstaunt den Kopf und wandte sich wieder dem Hund zu: »Lauf nach Haus’, Tasso, komm, sei brav!«

Es gab ihm einen Klaps und wirklich trottete der Hund in Richtung zum Waldhof davon. Elfi dachte nicht weiter über das Geschehen nach, sondern legte sich gleich wieder in sein Bettchen, gähnte noch einmal und war auch schon eingeschlafen.

Ein strahlend schöner Morgen zog herauf. Tiefblau wölbte sich der Himmel über den Wipfeln, einige Vögel zogen hoch droben ihre Bahn. Überall glitzerte und blitzte es, es waren Tautropfen, an denen sich das Sonnenlicht brach.

Toni war schon zeitig auf den Beinen. Es war seine Aufgabe, das Vieh zu füttern, die Kuh auf die Weide zu bringen, das Pferd zu striegeln. Sein Vater arbeitete schon auf dem zwar kleinen, aber gepflegten Feld, das ganz von Wald umgeben auf der Lichtung neben dem Bauernhaus lag.

Toni holte eben Holz aus dem Schuppen und legte es zum Trocknen in die Sonne. Als er einige Scheite aus einer dunklen Ecke des Schuppens hervorzog, hörte er etwas klirren. Verwundert schaute er nach und zog eine Schnappfalle hervor, dahinter fanden sich Schlingen, ein großes blutiges Messer, und ganz hinten lag noch ein frisch abgezogenes Hasenfell. Toni war zutiefst erschrocken.

Des Vaters nächtlicher Ausflug fiel ihm ein, die bösen Gerüchte schienen sich zu bestätigen. Dennoch konnte er es nicht glauben. Er musste jetzt mit seinem Vater sprechen, doch als er hinauslief, durchzuckte ihn ein neuer Schreck: Drei Gendarmen sprachen gerade mit seinem Vater am Waldrand und einige Neugierige standen dabei. Nun setzten sich alle in Richtung auf das Haus in Bewegung. Toni lief hinzu, so schnell er konnte, er hatte ein ungutes Gefühl.

»Euer Haus wird durchsucht!«, rief ihm ein Junge entgegen, die naseweisen Kinder mussten natürlich auch dabei sein. Toni blickte ängstlich zu seinem Vater auf, doch der sah äußerst ruhig und gefasst aus.

»Schauen Sie nur genau nach«, sagte er fest, »ich habe nichts zu verbergen.«

Ein Gendarm stellte sich an die Tür, die anderen betraten das Haus und begannen alle Ecken zu durchwühlen, die Zuschauer warteten im Hof und debattierten über Schuld und Unschuld des Waldbauern.

Auch der Besitzer des Kirschhofes war dabei. Er beteiligte sich nicht an den Gesprächen, trat aber jetzt zum Wächter an der Tür und sagte beiläufig: »Es ist doch unwahrscheinlich, dass ihr im Haus etwas findet! Schaut doch lieber in den Ställen nach, oder in dem Schuppen dort hinten!«

Der Gendarm antwortete kurz: »Es wird alles durchsucht. Und wenn etwas da ist, dann finden wir es.«

Toni hatte dies mitangehört und war nun dem Weinen nahe. Wenn der Schuppen durchsucht wurde, dann war alles aus und sein Vater würde eingesperrt. Und noch dazu durch seine Schuld, denn er hatte die verdächtigen Geräte gerade hervorgekramt, sie lagen offen im Schuppen. Das musste verhindert werden! Unbemerkt machte er sich davon und begann das Wildererwerkzeug durch das hintere Fenster der Hütte auszuräumen, da das vordere Fenster und die Tür vom Hof aus zu beobachten waren.

Obwohl der Gendarm die Leute aufforderte, sich zu entfernen, gaben diese ihre Belagerung nicht auf. Die Kinder sprangen im Hofe herum, die Hühner gackerten aufgeregt und der Hund riss an der Kette. Ein Schmetterling verwirrte sich in den Hof, ein Junge jagte ihm nach und versuchte ihn zu haschen. Dabei gelangte er hinter den Schuppen; gerade verschwand Toni mit der Falle im Gebüsch, an der Hinterwand lagen Schlingen und das Hasenfell. Das Kind, das dies beobachtet hatte, lief aufgeregt zu den anderen.

»Ich hab’ etwas gesehen!«, sprudelte es hervor. »Toni versteckt eine Falle im Wald, dort hinter dem Schuppen!«

Toni war gerade dabei, den Rest zusammenzupacken, als ein Polizist, verfolgt von den Sensationslustigen, hervorstürzte und ihn am Schopf erwischte.

Die Schuld des Waldhofbauern schien erwiesen, zwei Gendarmen führten ihn ab. Der Eingang wurde versiegelt und Toni, den man für mitschuldig hielt, sollte unter Aufsicht gestellt werden; zu spät wurde bemerkt, dass er sich in dem Wirbel davongemacht hatte.

Bestürzt und ziellos irrte Toni im Walde umher und wich ängstlich jedem Menschen aus. Er merkte nichts von der Schönheit der Natur, die ihn umgab. Rot und lockend leuchteten duftige Waldbeeren vom Boden auf, bunte Pilze standen in Gruppen beisammen. Manchmal summte ein dicker Käfer über den Heidelbeerstauden, es roch nach lockerer Walderde und Harz, das an manchen Stellen aus Ritzen in der Rinde der Tannen und Fichten hervorquoll.

Toni rannte ohne Verweilen weiter. Schließlich gelangte er an den Friedhof, wo er sich erschöpft am Grab der Mutter niederkauerte. Sie wäre die Einzige gewesen, die noch hätte helfen können, doch sie lebte ja nicht mehr. Toni spürte eine Träne an seiner Wange herunterrinnen; er starrte den Hügel an, der seine Mutter bedeckte – jetzt erst bemerkte er frische Blumen auf dem Grabstein.

Es war ein Strauß Nelken und das Kind erinnerte sich: Das waren doch die Nelken, die gestern auf dem Küchentisch gestanden waren! Und noch etwas fiel ich ein: Nur Vater konnte sie gebracht haben, er musste in der Nacht auf dem Friedhof gewesen sein. Sein nächtlicher Ausflug hatte also nichts mit Wilderei zu tun und Toni wusste auf einmal ganz sicher: Sein Vater war unschuldig.

Neue Hoffnung stieg in ihm auf, es würde sich schon ein Ausweg finden. Es war dem Buben, als wenn die Mutter selbst geholfen hätte, er sah wieder ihr gütiges Antlitz vor sich, ihre abgearbeiteten Hände, die ihm doch so sanft über das Haar gestrichen waren.

Aus seiner Versunkenheit riss ihn die heisere Stimme des Totengräbers: »Ah, da bist du, du Schlingel! Na, komm nur, dich liefere ich im Gefängnis ab!«

Widerstandslos ließ sich Toni mitnehmen. Er wurde nicht auf die Wachstube gebracht, sondern nur unter die Aufsicht des Schuldieners gestellt. Dieser war nicht unfreundlich zu ihm, schloss ihn jedoch in ein Klassenzimmer ein.

Schnell hatte sich herumgesprochen, dass Toni im Schulhaus eingesperrt war, auch Elfi hatte davon gehört. Toni tat ihr leid. Sie beschloss, ihm etwas zu essen zu bringen, denn sie dachte, er bekäme nur Wasser und trockenes Brot.

Vor der Schulhaustür, gleich unter einem Fenster des Klassenzimmers, in dem Toni festgehalten wurde, saß der Schulwart und sonnte sich. Durchs Fenster konnte man also dem Gefangenen nichts zustecken. Das Schulhaus aber hatte noch einen hinteren Eingang und so war es nicht schwer, hineinzugelangen. Doch die Tür des Klassenzimmers war versperrt, der Schlüssel abgezogen.

Enttäuscht sah sich Elfi nach einer anderen Möglichkeit um, ihr Blick fiel auf den Kamin. Um eine Störung des Unterrichtes zu vermeiden, hatte man den Ofen, der im Winter die Klasse heizen sollte, so gebaut, dass das Feuer vom Gang aus betreut werden konnte.

Toni war nicht schlecht erstaunt, als aus dem Ofen plötzlich sein Name erklang. Er öffnete die Ofentür und erkannte Elfi, die ihm ein Paket Butterbrote durchreichte.

»Ich will dir helfen, Toni!«, flüsterte das Mädchen. »Was soll ich für dich tun?«

»Elfi«, wisperte er zurück, »das ist lieb von dir. Vater ist unschuldig, man müsste den wirklichen Wilddieb fangen. Aber da kannst du natürlich nichts dazu tun!«

»Das wirst du schon sehen!«, gab Elfi zurück, »Aber jetzt leb’ wohl, Toni, ich darf mich nicht erwischen lassen!«

Elfi lief durch das Dorf und wunderte sich, dass alle sie mit großen Augen anschauten. Ängstlich sah sie sich um; hatte man ihr Eindringen in das Schulhaus entdeckt? Doch niemand kam ihr nach.

Beim Dorfbrunnen wurde sie mit lautem Gelächter empfangen: »Ja, wie schaust du denn aus?!«

Elfi benützte den Brunnen als Spiegel und als ihr das eigene Gesicht entgegenblickte, verstand sie die Heiterkeit. Der Kamin hatte Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassen. Nase, Wangen und Stirn waren schwarz von Ruß. Der Schaden war leicht behoben, Elfi tauchte ihre Hände in das klare Wasser und rieb sich das Gesicht ab, bis die Wangen noch röter waren als sonst. Viel schwerer würde es sein, die Spielgefährten zu ihrem Plan zu gewinnen. Das musste schon schlau angefangen werden.

»Passt einmal auf«, rief das Kind, »ich will euch ein Geheimnis anvertrauen, aber ihr müsst mir versprechen, es niemandem zu verraten!«

Geheimnisse verfehlten nie ihre Wirkung und so saß bald die fröhliche Gesellschaft mit gespitzten Ohren um Elfi herum, die sich an den Brunnenrand gesetzt hatte: »Also hört zu. Ich werde einen Wilddieb fangen.«

Um sie herum standen die Münder offen vor Staunen.

»Aber den haben sie doch schon eingesperrt!«, rief der dicke Fridolin.

»Sei still, das ist nicht der Richtige!«, widersprach Elfi heftig. »Der Waldhofbauer ist unschuldig, das weiß ich genau!«

»Woher denn?«, fragte Herta, ein Mädchen mit schönen, dunklen Locken.

»Das darf ich noch nicht sagen«, entgegnete sie, »aber ich wollte euch fragen, ob ihr mir dabei helfen wollt. Aber ich kann nur die brauchen, die keine Angst haben.«

Angst wollte keines haben, und so beratschlagten sie bald, wie die Aufgabe anzupacken sei. Noch lange wurde gewispert und geflüstert, sodass die Erwachsenen sich darüber wunderten, wie ruhig und brav die Kinder waren.

Als die Vesperglocken läuteten, ließ sich im Dorf kein Kind mehr blicken. Alle waren in den Wald gegangen und durchsuchten ihn nach Schlingen. Von einer feierlichen Ruhe war dort nichts zu bemerken, frohe Stimmen klangen auf, und zwischen den einzelnen Gruppen flogen lustige Neckereien und Scherzworte hin und her. Sie ließen keinen Busch unbeachtet und krochen in jedes Gestrüpp hinein, dafür war die Arbeit von Erfolg gekrönt. An drei Stellen hatten sich Fallen gefunden, in einer hing sogar ein Hase, schon von der Schnur erwürgt und manches Auge wurde dunkel vor Mitleid.

»Den Wilddieb sollte man auch in einer solchen Schlinge fangen!«, rief Fridolin empört. Und die Kinder stimmten ihm zu.

»In einer Schlinge nicht«, versetzte Kurt, der Sohn des Försters, schlau, »aber wie wäre es mit einer Falle?«

Die kleinen Leute machten ungläubige Gesichter.

»Wie willst du das machen?«, fragten sie, »und woher willst du eine Falle nehmen?«

»Mein Vater hat ein paar Fallen«, erwiderte Kurt, von seiner Idee begeistert, »ich hol’ eine her und stelle sie so auf, dass die Eisen in die Hand einschnappen, wenn jemand den Hasen nehmen will. Die Falle wird unter den Zweigen der jungen Tannensetzlinge versteckt, und außerdem kann der Wilderer ja nur in der Nacht kommen, wo es ohnedies finster ist.«

Seine Gefährten waren bald überzeugt. Die Stelle war zum Verbergen der Falle wirklich gut geeignet. Sie lag in einem Jungwald, durch den ein Wildwechsel zwischen den Bäumen zum Wasser führte, hohes Gras und Farnkraut bedeckten den Boden.

»Zertretet das Gras nicht«, rief ein Mädchen, »sonst merkt man, dass jemand hier war.«

Die Schar zog sich etwas zurück, Kurt lief mit zwei anderen Jungen zur Försterei, um ungesehen die Falle zu holen. Bald erschien er wieder, und alles wurde so vorbereitet, wie es geplant war. Dann aber beeilten sich die Kinder nach Hause; es war mittlerweile schon spät geworden, die Blumen hatten ihre Kelche geschlossen und die Schatten der Bäume dehnten sich lang über den Boden hin.

Ein frischer Morgen hatte die Nacht verdrängt, die Sonne zerriss langsam den Nebelschleier über dem Boden. Noch war es kühl und taufeucht, doch die Jugend konnte dies nicht daran hindern, in den Wald hinauszulaufen. Sie konnte es kaum erwarten, sich vom Erfolg ihrer List zu überzeugen und stellte sich einen bärtigen Wilderer in der Falle sitzend vor. Die Stelle im Jungwald lag aber verlassen da, weder der Hase noch die Falle waren noch zu finden.

Die Gesichter wurden lang, doch Elfi rief: »Hurra, jetzt erwischen wir ihn!«

»Wieso?«, fragte es zurück.

»Er war doch sicher hier«, triumphierte Elfi, »sonst müsste doch die Falle noch da sein, bestimmt ist er hereingekommen. Wir müssen nur jemand finden, der an der Hand Eindrücke von den Zacken der Falle hat!«

Die Kinder schöpften Hoffnung.

»Wir müssen bei allen im Dorf nachschauen!«, rief Fridolin. »Fangen wir gleich an!«

Die junge Gesellschaft teilte sich in Gruppen, denen einzelne Dörfler zugeteilt wurden, um verdächtige Hände an ihnen festzustellen. Mit Feuereifer machten sie sich ans Werk.

Kurt rief noch schnell: »Am Dorfbrunnen treffen wir uns!«

Die gestellte Aufgabe sah sehr einfach aus, war es aber durchaus nicht, wie sich bald herausstellte. Viele Männer bekamen Gelegenheit zur Verwunderung über das seltsame Benehmen der Kinder, denn nicht immer gelang es diesen, die Hände unauffällig anzusehen. Eine harte Nuss gab ihnen der Kirschhofbauer zu knacken auf. Er hatte seine Fäuste in den Hosentaschen versenkt und machte keine Miene, sie wieder hervorzuziehen. Mit missmutigem Gesicht strich er vor seinem Hof hin und her. Die Kinder beobachteten ihn unablässig, aber vergeblich.

»Er muss doch einmal die Hände aus den Taschen nehmen«, rief Elfi schließlich verzweifelt, »wenn er es nicht freiwillig tut, dann müssen wir ihn dazu zwingen!«

»Aber wie?«, fragte es durcheinander.

Die Kinder dachten nach. Sie hatten sich nach und nach im Garten des Sägemüllers, der an das Anwesen des Kirschhofes grenzte, versammelt, fast alle hatten ihre Aufgaben schon gelöst. Über die Steinmauer des Gartens, hinter herabhängenden Zweigen der Obstbäume verborgen, konnten sie das unruhige Wandern des Bauern gut beobachten. Quer durch den Garten schlängelte sich der Bach, der das Sägewerk betrieb. Franz, der Knecht des Müllers hatte eine Angel ausgeworfen, um einige Forellen zu fangen. Und dies gab Fridolin einen Gedanken ein.

»Ich weiß etwas!«, rief er leise. »Wir angeln seinen Hut!« Und flüsternd setzte er seine Idee auseinander.

Gerhard, der Sohn des Sägemeisters lief über einen Umweg in die Werkstatt der Mühle, aus der das Kreischen der Kreissäge klang, und rief vom Fenster aus: »Franz, du sollst zum Vater kommen, er braucht dich einen Moment.«

Nicht gerade erfreut erhob sich der Forellenjäger, er ließ die Angel liegen und stapfte langsam ins Haus. Darauf hatten aber die Kinder gerade gewartet. Als er nach einer Minute schimpfend wiederkam, war die Angel nicht mehr zu finden, so sehr er auch danach suchte.

Der Kirschhofbauer stand gerade unweit der Mauer an ein Gitter gelehnt und sah mit ärgerlichem Gesicht dem Vieh beim Weiden zu. Plötzlich spürte er einen Ruck am Kopf, als wenn ein Windstoß seinen Hut entführen wollte. Unwillkürlich versuchte er ihn festzuhalten, die Kopfbedeckung schwebte zu seinem Erstaunen frei über ihm in der Luft, doch als er danach greifen wollte, hob sie sich langsam und verschwand hinter der Gartenmauer.

Die lauernden Kinderaugen hatten aber die gezackten Narben am Handgelenk nicht übersehen. Sie waren nun sicher, den gesuchten Wilddieb gefunden zu haben, umso mehr, als sich Elfi nun an ihr nächtliches Abenteuer erinnerte.

Sie beschlossen, Toni von dem Geschehen Mitteilung zu machen. Das war diesmal gar nicht schwer. Eine kleinere Gruppe von Kindern lungerte vor dem Schulhaus herum, und Elfi konnte sich, wenn gerade niemand vorbei ging, durch das offene Fenster ganz gut mit Toni verständigen.

Als Elfi alles berichtet hatte, rief er: »Jetzt weiß ich auch, wieso die Fallen und die anderen Sachen zu uns gekommen sind. Der Kirschhofer hat sie in der Nacht, in der du ihn gesehen hast, in unserer Hütte versteckt!«

Er erzählte von der Störung der Vornacht und es gab keinen Zweifel mehr an der Schuld des Verdächtigen. Die Kinder hielten es für das Einfachste, alles an der Gendarmerie anzugeben und eilten sogleich hin.

Der diensthabende Polizist sah neugierig auf, als ihn die ganze Herde überfiel und durcheinanderzureden begann. Als er endlich begriffen hatte, um was es sich drehte, schüttelte er sich vor Lachen.

»Nein, so was!«, prustete er. »Nun wollt ihr junges Gemüse schon gescheiter sein als die Polizei. Schaut, dass ihr verschwindet, und kommt mir nicht mehr mit solchen Märchen!«

Er säbelte eine Scheibe von einer Wurst herunter und kümmerte sich nicht mehr um das Geschrei um ihn herum. Erst als es ihm zu bunt wurde, ergriff er zwei Hauptschreier an den Ohren und beförderte sie an die frische Luft.

Die Kinder machten trübselige Gesichter, doch Elfi rief: »Wir müssen ihn selbst entlarven! Wenn wir das Versteck finden, wo er seine Sachen aufhebt und den Gendarmen eine Falle auf den Tisch stellen, dann muss er uns glauben!«

Sie kamen überein, den Bauern nicht aus den Augen zu lassen, abwechselnd sollten je zwei Kinder aufpassen. Einmal musste er ja sein Versteck aufsuchen. Auch den Garten, der sich hinten am Haus anschloss, wollten sie untersuchen.

Mit vor Eifer geröteten Gesichtern zogen die Kinder die abendliche Dorfstraße hinab; vom Kirchturm, dessen Spitze noch im letzten Abendschein glänzte, erklang das Abendläuten und am östlichen Himmel hing schon eine bleiche Mondsichel als Vorbote der Nacht.

Wieder lachte die Sonne über das Dorf, in dem geschäftiges Treiben herrschte. Ein Viehmarkt wurde abgehalten und das fröhliche Lärmen und Peitschengeknalle drang bis zum Kirschhof. Die Laune seines Besitzers hatte sich nicht gebessert, besonders da ihm die Gerüchte der Verdächtigung vonseiten der Kinder zu Ohren gekommen waren.

Fridolin und Kurt hatten gerade Wache. Fast zwei Stunden hatten sie aufgepasst und nichts Verdächtiges bemerkt. Doch jetzt konnten sie beobachten, wie der Kirschhofer, verdächtig um sich spähend, in eine im hinteren Garten gelegene Werkstätte schlich. Leise und behutsam pirschten sie sich heran und sahen, wie der Bauer einen Tisch beiseite schob, eine zum Vorschein kommende Falltür öffnete und darinnen verschwand.

Kurt stieß Fridolin an: »Da hat er die Sachen versteckt!«

»Wenn er wieder fort ist, schauen wir unten nach«, flüsterte der andere zurück. »Pst, ich höre ihn heraufkommen.«

Wirklich erschien der Bauer. Er hatte ein Gewehr und Schlingen bei sich und lud sie auf einen flachen Wagen, der in der Hütte stand. Wieder stieg er herunter und brachte weiteres Wildererwerkzeug und auch Wild herauf. Über die Dinge auf dem Wagen stülpte er Kisten und Bretter, bis nichts Ungewöhnliches mehr zu sehen war. Befriedigt betrachtete er sein Werk von allen Seiten. Sorgfältig schloss er dann die Falltür, schob den Tisch darauf und verließ die Hütte. Draußen rief er nach seinem Knecht.

»Er will die Sachen wegbringen, wahrscheinlich wird es ihm zu brenzlig!«, zischte Fridolin. Und wirklich hörten sie nun, wie er dem Knecht befahl, die Pferde anzuspannen.

»Ich fahre nach Wiesleiten«, fügte er hinzu. »Beeil’ dich!«

Fridolin und Kurt lauschten gespannt und ließen sich nichts entgehen.

»Wie sollen wir denn beweisen, dass er der Wilderer ist?«, tuschelte Fridolin.

»Wir müssen es tun, solange er die Sachen noch hat«, antwortete Kurt, »wart’ nur, ich hab einen Gedanken.« Er wisperte dem Kameraden eifrig ins Ohr.

»So muss es gehen!«, rief der gedämpft.

Eilig lief Kurt davon, während Fridolin den Vorgängen im Kirschhof weiter seine Aufmerksamkeit schenkte.

Die Kinder warteten inzwischen am Dorfbrunnen. Sie waren mit ihrer Untätigkeit keineswegs zufrieden und als Kurt mit seiner alarmierenden Nachricht herbeistürzte und seinen Plan entwickelte, stoben sie durcheinander wie die Ameisen. Ein Junge rannte in einen Garten, wo Wäsche zum Trocknen hing und erschien gleich wieder mit dem Seil. Die anderen gruppierten sich unauffällig um das Schulhaus und teilten Toni ihr Vorhaben mit. Toni war etwas bedenklich, es war ein unsicherer und verzweifelter Streich, aber es war der letztmögliche Ausweg. Der Bauer musste mit seinem Wagen hier vorbeikommen.

Eine Gruppe von Kindern hielt sich im gegenüberliegenden Haus auf und reichten einigen anderen ein Ende des Wäscheseils heraus, die es an Toni weitergaben. Die Kinder spannten das Seil so hoch über die Straße, dass ein Fahrzeug bequem darunter durchfahren konnte. Die Straße war keineswegs menschenleer; das war einesteils gut, weil doch möglichst viele die Entlarvung mitansehen sollten, andererseits konnte aber leicht jemand nach dem Zweck des Seiles fragen, besonders der Schuldiener war zu fürchten. Glücklicherweise ließ er sich nicht sehen, doch der Gendarm tauchte auf.

»Was geschieht denn hier?«, fragte er streng.

Schon glaubten die Kinder alles verloren, da sprang Elfi hervor und rief: »Hier kommt ein Schild daran: Autos langsam fahren! Der Bürgermeister hat es doch wegen der Schule befohlen!«

Der Gendarm schnitt ein erstauntes Gesicht, doch nickte er: »Ah ja, natürlich! Macht es nur ordentlich fest!«

Er erinnerte sich natürlich nicht an einen solchen Befehl, denn es gab keinen, wollte aber um keinen Preis zugeben, dass er nicht unterrichtet war. Es verirrte sich zwar nur alle heiligen Zeiten einmal ein Auto in das Dorf, doch Befehl ist Befehl. Beruhigt schritt er weiter und mischte sich unter die Bauern, die der Viehmarkt angelockt hatte.

Das Seil hing jetzt ruhig da und fiel daher nicht weiter auf, die Kinder schienen verschwunden zu sein, nur Kurt lehnte am Schuleingang und sah gleichgültig in die Luft.

Jetzt aber bog Fridolin aufgeregt um die Ecke und schrie aus vollem Hals: »Er kommt, er kommt!«

»Gut«, rief Kurt, »sei still!«, und machte aufgeregt ein Zeichen zu den Fenstern. Braune, blaue und graue Augen lugten aus allen Ecken hervor, viele Herzen schlugen schneller

Wirklich bog jetzt der Wagen, auf dem stolz der Kirschbauer thronte, rasselnd um die Ecke. Niemand beobachtete das Seil, das leicht in der Sonne zitterte, schon war das Pferd unter ihm vorbei, jetzt auch der Bauer am Bock – und nun ging die Hölle los!

»Los!«, brüllte Kurt, und blitzschnell senkte sich das Seil hinter dem Rücken des Bauern. Im Schulzimmer hielt Toni allein das eine Ende mit aller Kraft fest. Er hatte es um einen Tischfuß geschlungen. Leichter hatten es die Kinder im gegenüberliegenden Haus, die sich gemeinsam an das andere Ende klammerten. Der verdutzte Bauer, der nicht wusste, was ihm geschah, konnte den Wagen nicht schnell genug zum Stillstand bringen, um zu verhindern, dass das Seil seine schön aufgetürmte Wagenlast herunter streifte. Mit Gepolter stürzten die leeren Kisten herunter und zwischen ihnen lagen dann Schlingen, eine Falle, Hasen, ja sogar ein Reh.

Von allen Seiten stürzten schreiend die Kinder herbei und der Lärm lockte die Erwachsenen an, die gerade zurechtkamen, um zu sehen, wie der Gendarm den Bauern festnahm. Am Dorfplatz stand das Vieh auf einmal verlassen da, alles drängte sich um die Versammlung um den Wagen.

Das war ein großer Tag für die Jugend, sie hatte ihr Ziel erreicht, Toni war frei, die Unschuld des Waldbauern bewiesen. Der Kirschhofbauer gestand, dass er schon lange gewildert hatte und schließlich Tonis Vater in den Verdacht bringen wollte. Deshalb hatte er auch das belastende Material versteckt. Er hatte gehofft, auf diese Weise leicht eine Wiese erwerben zu können, auf die er ein Auge geworfen hatte und die der Waldhofbauer nie verkaufen wollte. Als dann alles gelungen schien, gedachte er das Wild seinem Abnehmer in der Stadt zu bringen und das Gerät weiter unten im Bach zu versenken, da er nun seine gefährliche Tätigkeit aufgeben wollte. Der Waldhofbauer wurde freigelassen, alle waren freundlich zu ihm und wollten das gutmachen, was sie ihm angetan hatten.

Die Kinder aber standen bis zum Einbruch der Dunkelheit um den Dorfbrunnen herum und besprachen ihre große Tat.

»Woher hast du denn eigentlich sicher gewusst, dass Toni und sein Vater unschuldig sind?«, wandte sich schließlich der dicke Fridolin an Elfi.

»Woher ich das gewusst habe?«, wiederholte das Mädchen nachdenklich, »Ich glaube, ich habe es gewusst, weil ich Toni gern habe.«

Nun wurde die Kleine doch verlegen, da es alle gehört hatten, doch Toni ergriff sie an der Hand, und die Kinder eilten fort, heimwärts, dem Walde zu …

Entstehungsdatum ca. 1946–1950

DAS GUTENBERG-KONZIL

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