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1. Kapitel – Im Vorhof des Yeni Saray

Als Kosta weg war, fühlte sich Jannis elend wie noch nie in seinem Leben. Solange er mit dem Bruder wenigstens täglich ein paar heimliche Worte wechseln konnte, war ihm sein Los noch einigermaßen erträglich erschienen, aber nun versank er in Hoffnungslosigkeit und begann, stumm vor sich hin zu brüten.

Die Galeere nahm wieder Fahrt auf und hielt sich parallel zum Seewall. Im Osten zeigte sich ebenfalls Land. Auch dort gab es große Steinbauten, aber die Ansiedlungen waren nicht so eindrucksvoll von Mauern und Wehranlagen geschützt wie die Stadt, an deren Befestigungen das Kriegsschiff gerade entlanggerudert wurde.

Hinter dem Siebenturm-Kastell und der Seemauer erhoben sich zahlreiche Hügel. Fast alle krönten große Kuppelbauten, neben denen lanzengleiche Türme standen. Jemand raunte ihm zu, dass diese Kuppeln die Kirchen und Tempel der Muselmanen wären. Jannis spuckte aus. Er sah auf dem Rücken einer Seemauerzunge prachtvolle Gebäude, terrassierte Gärten und eine lange Reihe von grau gewölbten Dächern mit rohrartigen Auswüchsen.

Die ansonsten wenig gesprächigen Bewacher der Knaben wiesen ehrfurchtsvoll nach oben und sagten, dass sich dort das Neue Saray, das Yeni Sarayı, der Palast des allmächtigen Sultan Süleyman befinde. Jemand nannte den Palast auch Dar-üs Saadet, Haus der Glückseligkeit. Erneut spuckte Jannis aus.

Das Kriegsschiff begann die Landspitze, auf der der Palasthügel lag, zu umrunden. Ein prächtiges, geschlossenes Tor in der Saray-Mauer, das Topkapi, das „Tor der Kanonen“, das von zwei wehrhaften Türmen flankiert wurde, stand dicht an der Uferlinie.

Eine breite Meerenge tat sich auf. „Das ist der Bosporus“, flüsterte ein Knabe hinter Jannis. Gleich darauf glitt das Schiff nach Westen in eine seitliche Bucht dieser Meerenge. Jannis’ Hintermann wusste auch den Namen dieses Seitenarms: Goldenes Horn.

An dessen Nordufer, fast genau dem Neuen Saray gegenüber, befand sich auf einer Erhebung und dicht am Wasser ebenfalls eine Stadt. In ihrer Mitte erhoben sich unterhalb des Hügels ein gewaltiger runder Turm mit einer spitzen Haube und mehrere wuchtige Kuppelbauten.

Die Galeere steuerte tiefer in den Seitenarm hinein und machte dann an einer Kaimauer der Palastuferseite fest. Rechts und links von den Soldaten eskortiert marschierten die Knaben in Dreierreihen durch die Stadt. Man hatte ihnen die Fesseln abgenommen. In ihrer auffälligen roten Kleidung wären sie im Fall eines Fluchtversuchs keine drei Schritte weit gekommen, denn überall liefen die Städter zusammen und säumten ihren Weg. Kinder und Alte, verschleierte Frauen, Bettler und prächtig gekleidete Herren, alle drängten sie sich heran, um einen Blick auf die Devschirme-Knaben werfen zu können.

Jannis, der als Fischer die Orientierung auch bei völliger Dunkelheit auf dem offenen Meer nie verloren hatte, war bald nicht mehr in der Lage zu bestimmen, in welche Himmelsrichtung man sie trieb. Die teils mit mehrgeschossigen Holzhäusern gesäumten gewundenen Gassen in der Stadt des „Gesetzgebenden“ glichen einem unendlichen Irrgarten. Und überall wohnten und arbeiteten Menschen! An den hohen Kirchenfesten auf den Heimatinseln waren auch alle Bewohner zusammengekommen, aber nie waren es annähernd so viele gewesen wie hier in einer einzigen Gasse der Sultansstadt an einem Tag, der ein ganz normaler Tag zu sein schien. Jannis fiel auf, dass alle Holzhäuser einfarbig angestrichen waren. Es gab graue und dunkelgraue, etliche rote oder gelbe und nur sehr wenige schwarze; grüne oder blaue Häuser sah er keine.

Nachdem die Devschirme-Knaben an mehreren riesigen, berghohen Kirchen der Muselmanen vorbeimarschiert waren, neben denen immer speergleiche Türme sich gen Himmel reckten, gelangten sie schließlich an ein großes, sich über zwei Stockwerke ausdehnendes Tor, dessen Flügel weit geöffnet waren. Rechts und links vom Eingang befand sich eine Reihe von Nischen, in denen Männerköpfe lagen. Einer sah aus, als wäre er gerade erst vom Rumpf seines Besitzers getrennt worden, denn niemand hatte dem Schädel des Enthaupteten die Augen geschlossen. Später erfuhr Jannis, dass dieser Palasteingang den poetischen Namen Bab-i Hümayun trug, das „Tor des vom Paradiesvogel beschatteten Kaisers“.

Wächter mit braunen Turbanen auf dem Kopf, aber ansonsten ähnlich gekleidet und bewaffnet wie die Soldaten von der Galeere, bewachten dieses Portal, das auf einen weiten Hof führte. Der Hof bildete ein unregelmäßiges Rechteck und war von steinernen Bauten umstanden. Auch gleich linkerhand hinter dem Tor gab es etliche Gebäude, teils aus Marmor oder aus Felsstein gemauert, teils aus Holz errichtet. Am Hofende lag eine mit niedrigem Gras bewachsene Fläche. Dort erhob sich eine riesige Platane, unter der, bewacht von Soldaten, eine lange Reihe großer Bronzekessel aufgereiht stand. Gepflasterte Wege durchschnitten den Hof in alle Richtungen. Ein weiteres Tor, flankiert von zwei spitzen Türmen, öffnete sich an der Stirnseite des Hofes.

Jannis sah Hunderte von Menschen, die allen möglichen Beschäftigungen nachgingen. Einige schleppten riesige Holzbündel, andere schoben Karren mit Mehlsäcken, wieder andere fegten die Wege. Dennoch herrschte eine geradezu gespenstische Ruhe. Das lauteste Geräusch war das Plätschern zahlreicher Brunnen und das Zwitschern von Vögeln auf den Dächern der steinernen Häuser.

Man führte die Jungen in ein Gebäude, in dem man sie mit Bohnensuppe und Fladenbrot speiste und ihnen zu trinken gab. Danach mussten sie wieder in den Hof zurück und sich zu zehnt in vier Reihen hintereinander auf der Grasfläche mit der riesigen Platane aufstellen. Andere Soldaten als die, die sie nach Istanbul geführt hatten, umringten sie. Nur der Tschorbadschi der Galeerensoldaten war auch unter den Saray-Janit-scharen. Wieder berührte Jannis die Stille, die inmitten der vielen Menschen herrschte.

Jannis kam trotz aller Furcht, die ihn befallen hatte, seit Kosta von ihm getrennt worden war, aus dem Staunen nicht heraus, und seinen Schicksalsgefährten erging es ähnlich. Daheim auf der Insel gab es auch Häuser aus Stein, aber sie waren, verglichen mit den Hofgebäuden, winzig wie Ziegen- oder Schafställe. Und die in den Himmel ragende Kuppel hinter der Torseite des Hofes, von der er nun wusste, dass es ein Gotteshaus der Muslime war, wie oft mochte die kleine Kapelle von Thiratois darin wohl Platz finden?

Aus einem Gebäude, vor dem wie unter der Platane mehrere große bronzene Kochkessel standen, die jedermann, der daran vorbeiging, mit einer tiefen Verbeugung grüßte, traten weitere Soldaten auf den Hof. Sie bildeten einen weiten Ring um die Knaben. Einer, offenbar ihr Befehlshaber, trug ebenfalls eine hohe weiße Filzmütze, aber an der Stelle des Stofffutterals über der Stirn, in dem bei den einfachen Soldaten der Suppenlöffel steckte, war bei ihm eine aus Goldblech gefertigte geschlossene Hülse befestigt. Auch war seine Kleidung unvergleichlich prunkvoller. Als Zeichen der Würde hielt er ein armlanges silbernes Zepter in der Hand. Langsam und wortlos schritt er die Reihen der Knaben ab und musterte jeden von Kopf bis Fuß. Dann ging er auf den Hauptmann der Galeerensoldaten zu, der neben den Knaben stand und nun ein braunes, ledergebundenes Buch aufschlug. Ein Begleiter des Befehlshabers öffnete ein Ähnliches. Es war das Buch des Kadi, der die Knabenlese auf dem Festland im Südosten von Pharnox, Pserlendos und Thiratois geleitet und dieses Buch, wie es die Vorschrift besagte, mit einer anderen Galeere auf gesondertem Weg nach Istanbul geschickt hatte.

Mit gedämpfter Stimme las der Begleiter des Befehlshabers die Namen der Knaben vor. Die Aufgerufenen hatten einen Schritt vorzutreten. Der Befehlshaber schaute in das Buch des Hauptmanns, musterte die betreffenden Knaben erneut und nickte dann, worauf diese sich wieder einzureihen hatten.

Der Begleiter des Befehlshabers las weitere Namen, die Prozedur wiederholte sich, bis alle vierzig Knaben aufgerufen worden waren.

Als Jannis und Spiro, der Junge, den die Soldaten in Pserlendos geraubt hatten, vortraten, standen dem Hauptmann Schweißperlen auf der Stirn.

Aber die geschickten Korrekturen an zwei Zeilen der Liste, die einer der Weißen Eunuchen bereits auf dem Schiff vorgenommen hatte, wurden vom Befehlshaber, dem Agha der Janitscharen, nicht bemerkt. Und er ahnte nicht, dass sein Offizier, der die Namen verlas, von einem verschnittenen Großherrlichen Saray-Wächter mit einer markanten Stirnnarbe aufgesucht worden war, während man die Knaben gespeist hatte.

Sowohl im Buch des Hauptmanns als auch in dem des Offiziers waren die Namen Theodosius gegen Jannis, und der eines gewissen Leonidas gegen Spiro meisterhaft ausgetauscht worden.

Als alle Namen aufgerufen worden waren, hielt der Janitscharen-Agha eine kurze Ansprache in der Sprache der Muselmanen, die einer seiner Offiziere übersetzte:

„Ihr seid von nun an Söhne des Sultans. Erweist euch seiner Gnade würdig!“

Die Sonne begann zu sinken. Der Befehlshaber und sein Begleiter kehrten in das Steinhaus zurück. Der weite Ring, den die Soldaten um die Knaben bildeten, öffnete sich. Auch der Hauptmann von der Galeere trat mit einer tiefen Verbeugung zur Seite und ließ eine große Gruppe bärtiger Männer vorbei. Der Jüngste von ihnen mochte das Alter des Tschorbadschi haben, der älteste hingegen sah aus wie ein Greis. Die Männer trugen hohe Filzmützen, die denen der Soldaten ähnelten, aber keinen Rückenschleier hatten. Ihre Oberkleidung bestand aus mit derben Stricken umwundenen, dunkelfarbigen wollenen Mantelkutten, deren Saum fast bis an die Erde reichte.

‚Aus der Entfernung könnte man sie leicht mit Popen verwechseln‘, dachte Jannis. Der Pope auf Pharnox hatte auch einen langen Vollbart und kleidete sich in ähnlich dunkle Gewänder. Erst jetzt fiel Jannis auf, dass außer dem Befehlshaber keiner der Soldaten einen Kinnbart trug.

Die Bärtigen gesellten sich zu den Knaben und redeten freundlich auf sie ein. Sie sprachen nicht, wie man auf Jannis’ Heimatinseln redete, aber er verstand alles, was sie sagten.

Die Bärtigen bedeuteten den Jungen, Platz zu nehmen und setzten sich zu ihnen ins Gras. Es waren genauso viele Männer wie Knaben. Vor Jannis hockte sich ein dürrer Alter mit schütterem weißem Kinnbart hin. Sein Gesicht war wettergegerbt. Jannis schaute trotzig zu Boden.

„Friede sei mit dir! Wie heißt du, mein Sohn?“

Jannis hatte eine Greisenstimme erwartet. Er war erstaunt, dass die Worte des Alten zwar fast geflüstert, aber dennoch kräftig und klar wie die eines jungen Mannes waren. Der Bärtige sprach griechisch, langsam und bedächtig, ähnelte darin dem Popen auf Pharnox, der aus dem fernen Kreta stammte, wo alle so redeten, als würden Steine die Zungen beschweren – das jedenfalls hatte die Mutter immer behauptet.

„Jannis. Ich heiße Jannis.“ Der Knabe schaute hoch und blickte in ein Paar strahlend blauer Augen, leuchtende, wache Augen, wie sie auch der Vater gehabt hatte.

„Weißt du, wo du hier bist?“

„Nein.“

„Du befindest dich im Ersten Hof, dem Vorhof des Neuen Sarays unseres erhabenen Sultans – Gott schütze ihn! Es ist sein Großherrlicher Wille, dass hier im Palast kein lautes Wort fällt, also halte dich daran und senke deine Stimme, wenn du mir antwortest.“

Jannis blickte in die Runde. Das also war der berühmte Palast des „Gesetzgebenden“, den er vom Schiff aus gesehen hatte! Wenn schon der Vorhof so beeindruckend war, wie prachtvoll musste dann wohl erst das Innere des Sarays sein?

„Du bist doch ein Christ, mein Sohn, oder?“ Der Bärtige verschränkte die Arme.

„Ja“, sagte Jannis stolz. „Ich bin getauft worden.“

Der Alte nickte freundlich. „Das ist gut, denn das bedeutet, dass du an Gott glaubst und dass du glaubst, dass er allmächtig sei. Auch wir glauben an ihn, aber wir nennen ihn Allah.“

Jannis und Kosta waren zwar sonntags und an den hohen Feiertagen mit den Eltern und nach dem Tod des Vaters häufiger als zu dessen Lebzeiten mit der Mutter nach Pharnox gesegelt, um dort an den Gottesdiensten in der Kirche teilzunehmen, aber so richtig hatten sich weder er noch der Bruder dafür interessiert, was der Pope zelebrierte und redete. Als die Mutter Witwe wurde, hatte sie ebenso begonnen, die kleine Kapelle auf Thiratois regelmäßig zu besuchen, um zu beten und Kerzen vor der Marien-Ikone zu entzünden, die einst von der Großmutter Iolanthe gestiftet worden war. Am meisten hatte die Knaben beeindruckt, wenn der Pope aus der Bibel vorlas, denn niemand sonst auf den Inseln war des Lesens oder Schreibens mächtig.

„Aber wenn du irgendetwas nicht verstehst, mein Sohn, frage mich ohne Scheu.“

Jannis überlegte einen Augenblick und sagte dann: „Du sagst mir, dass ihr an Gott glaubt, den ihr Allah nennt. Aber glaubt ihr auch an die Heilige Jungfrau Maria?“

„Sicher, mein Sohn. Wir verehren sie auch, schließlich ist sie die Mutter des Propheten Jesus.“

Diese Antwort überraschte Jannis. Der Pope hatte von den Muselmanen immer behauptet, dass sie den Teufel verehrten, da sie Jesus nicht anbeten würden. Verehren und anbeten, gab es da einen Unterschied? Und warum nannte der Alte Jesus einen Propheten wie Moses? Jesus war doch Gottes Sohn!

„Weißt du, wer wir sind?“ Der Alte deutete auf die anderen bärtigen Kuttenträger.

Jannis schüttelte den Kopf.

„Wir sind Derwische und eifern unserem schon lange verstorbenen Meister Hadschi Bektasch nach. Hast du schon einmal von ihm gehört? Er war ein großer Diener Gottes.“

„Nein. Ich kenne ihn nicht.“

„Ich will dir erzählen, was er gepredigt hat.“

Die Soldaten hatten die Bärtigen voller Ehrfurcht begrüßt. Der Alte war demzufolge trotz der milden Augen ein Freund seiner Peiniger. Jannis nahm sich vor, den sanften Worten des Derwischs keinen Glauben zu schenken, mochte der auch mit Engelszungen auf ihn einreden.

Lange sprach der Bärtige über das, was sein Meister gelehrt hatte. „‚… und ob Christ oder Jude, ob Feueranbeter oder ohne Religion, Allah seid ihr alle gleichermaßen willkommen!‘, hat der Hadschi Bektasch gesagt. Auch dich, meinen Sohn, der du ein Christ bist, wird Er in seiner unermesslichen Güte und Gerechtigkeit nicht abweisen.“ Der Alte rupfte einen Grashalm aus. „Ohne die Liebe des Allmächtigen verdorrt der Mensch wie welkes Laub. ‚Wer nicht an Allah und seine Engel glaubt, an die Schriften und seine Propheten und an den Jüngsten Tag, der ist in einem großen Irrtum befangen.‘ So steht es in dem Heiligen Buch Koran geschrieben, das Allah dem Propheten Mohammed offenbart hat. Im Koran steht aber auch: ‚Den, der sich zu Ihm, der ohne Ebenbild und einzig ist, bekennt, den wird Er ins Paradies führen.‘“ Der Alte warf den Grashalm fort und begann, die blauen Steinperlen einer Kette durch die Finger gleiten zu lassen.

‚Die Mutter besitzt eine ähnliche Gebetskette, nur sind die Perlen aus poliertem Holz‘, dachte der Knabe. ‚Der Pope hat zwar nicht ‚Allah‘ gesagt, aber so ähnlich wie der Alte hat er auch immer geredet.‘

„Morgen früh wird man euch alle beschneiden“, sagte der Derwisch unvermittelt.

Jannis starrte den Bärtigen erschrocken an. Es stimmte also, was man sich manchmal schon auf den Inseln erzählt hatte, dass die Muselmanen Knaben einfingen, um sie zu verschneiden, wie man es den Stieren antat, damit sie fett und gefügig wurden. „Wenn man mich oder Kosta verschneidet, dann, dann …“ Der Knabe presste die Lippen aufeinander und ballte die Fäuste. Und ihm erschien das Bild des Bruders vor Augen, als der mit den fetten Kastraten von der Galeere gegangen war.

Der Alte lachte verhalten. „Ich sagte ‚beschneiden‘, nicht ‚verschneiden‘, mein Sohn! Jeder, der an Allah und Mohammed, seinen Propheten, glaubt, ist beschnitten worden, ich bin es, der Tschorbadschi und alle Soldaten sind es. Sehen wir etwa fett und träge aus wie kastrierte Kater? Ich verspreche dir, euch wird morgen nichts Schlimmes zugefügt werden! Man bringt euch in das Hospital der Palastschule.“ Der Alte zeigte auf ein Gebäude gleich neben dem Eingangstor. „Dort entfernt man dir das vorderste Stück der Haut von deinem Glied mit einem scharfen Messer, und es schmerzt auch nicht besonders. Danach sehen wir uns wieder. Im Übrigen ist es Muslimen strengstens verboten, Menschen und sogar Tiere zu verschneiden.“

„Aber die dicken Männer, die mich und meinen Bruder von unserer Insel geraubt haben, waren Verschnittene und Muselmanen. Sie haben an Deck der Galeere die Gebete verrichtet wie alle anderen auch!“

„Dass Kastratensklaven des Großherrlichen Haushaltes auf einer Devschirme-Fahrt mit dabei waren und wie die Janitscharen Rechtgläubige sind, das mag natürlich so gewesen sein. Dennoch: Muslime dürfen niemanden verschneiden!“

„Aber …“

„Man überlässt die Arbeit den Heiden oder Christen, mein Sohn. Sei ohne Sorge, auch dein Bruder wird bestimmt nicht zum Kastraten gemacht.“

Es war unterdessen dunkel geworden. Der Alte erhob sich. Man trieb die Knaben in ein anderes von den Steinhäusern, wo man sie erneut speiste. Unter den Pilaw, den sie dieses Mal vorgesetzt bekamen, waren saftige Hammelfleischstücke gemischt. Danach verteilten die Soldaten Decken und dünne Schlafmatten. Zum ersten Mal nach seiner Gefangennahme durfte Jannis frei mit seinen Leidensgenossen sprechen. Von den Inseln in der Nähe von Pharnox, Pserlendos und Thiratois stammte keiner der Jungen. Alle kamen von der Festlandküste im Osten des heimatlichen Archipels.

Jannis’ Hauptsorge war, was wohl die dicken Verschnittenen mit dem Bruder vorhaben mochten, und er fand in der kommenden Nacht keinen Schlaf. Immer wieder musste er auch an die Mutter und die Schwester daheim denken, die sich wegen ihres plötzlichen Verschwindens bestimmt zu Tode grämten. Erst als es zu dämmern begann, übermannte Jannis die Müdigkeit.

Der Zufall wollte es, dass er als Erster kurz nach Sonnenaufgang vom Tschorbadschi zur Beschneidung aufgerufen wurde. Als er sich nicht sofort erhob, zog der Hauptmann den Säbel und knurrte: „Wenn du nicht augenblicklich …“

Angesichts der blanken Klinge an seiner Halsschlagader zog es der Knabe vor, der Aufforderung besser Folge zu leisten.

Zwei Soldaten führten den Widerwilligen mit festem Griff aus dem Schlafsaal. Der Himmel war bewölkt, und es wehte ein frischer Wind. Auf dem großen Ersten Hof des Sarays herrschte bereits wieder geschäftiges Treiben, ohne dass ein menschlicher Laut zu vernehmen war. Männer mit hochbepackten Gemüsekörben wichen einer Reiterschar in kostbaren scharlachroten Gewändern aus, die auf das Hoftor zutrabte, Gärtner mit weichen Kappen auf dem Kopf bepflanzten einen Wegrand mit niedrigen Büschen und ein Trupp Soldaten besserte unter der Aufsicht eines Hauptmanns eine Mauer aus.

Die Soldaten gingen mit dem Knaben in eines von den Steinhäusern auf der gegenüberliegenden Hofseite und brachten ihn in ein ebenerdiges Zimmer, das sein spärliches Licht von einer verglasten Kuppel in der Decke empfing. Der Begleiter des Befehlshabers vom Vortag saß mit einem aufgeschlagenen Buch auf den Knien in einer Raumecke. Neben ihm brannte eine Öllampe. Die Soldaten packten den Knaben an den Oberarmen und drehten ihn mit dem Gesicht zu dem Sitzenden hin.

„Dein Name?“

„Jannis.“

Der Mann schaute in das Buch, lächelte und nickte. Dann griff er zur Schreibfeder und gab den Soldaten ein Zeichen, Jannis wegzuführen.

Zwei weitere Männer standen hinter einem Holzschemel in der Zimmermitte unter der Deckenkuppel. Sie trugen weiße Turbane, weite rote Kaftane und Bärte wie die Derwische. In mehreren bronzenen Kesseln kochte Wasser. Einer der Männer reichte Jannis ein dampfendes heißes Tuch und befahl ihm, sich das Glied zu waschen. Dann musste er sich auf einen Schemel setzen. Die beiden Soldaten traten mit gezogenem Krummsäbel an seine Seite und ließen keinen Zweifel daran auftauchen, dass sie ihn auch notfalls zu der Beschneidung zwingen würden.

Nun verfiel einer der Turbanträger in den monotonen Singsang einer kehligen Sprache, die ganz anders klang als die der Soldaten. Er zog die Vorhaut des Knaben in die Länge und streifte sie dabei über ein abgerundetes eingefettetes Bambusrohr vom Durchmesser seines kleinen Fingers. Dann tauchte er die Klinge eines kurzen Messers, wie man es auch zum Rasieren benutzte, in kochendes Wasser.

‚Sie verschneiden mich doch!‘, durchfuhr es Jannis mit Schrecken.

Danach ging alles sehr schnell. Durch zwei geschickte Schnitte entfernte der Mann die Haut. Die Wunde blutete nur schwach. Sofort strich der andere Turbanträger eine gelbliche Paste auf, die stark nach Kamille roch.

Jannis biss die Zähne zusammen, als die Soldaten ihn über den Hof zurück in den Schlafsaal führten und sogleich den nächsten Beschneidungskandidaten nach draußen geleiteten. Die Wunde brannte, aber der Schmerz war erträglich, wie es der alte Derwisch vorausgesagt hatte. Und – die Heilige Jungfrau sei gepriesen! – auch verschnitten hatten die Männer ihn nicht.

Im Schlafsaal wurde Jannis sofort von seinen Leidensgefährten ausgefragt, und er berichtete mit stockender Stimme. Einer der Knaben sagte dann, dass man diejenigen, die lesen und schreiben konnten, bestimmt in die Palast-Pagenschule aufnehmen würde. Ein anderer Junge, der auch die Sprache der Soldaten verstand, schüttelte den Kopf.

„Pagen werden zurzeit keine benötigt. Man will uns alle zu Militärsklaven machen.“

Jannis schaute durch die runde Fensteröffnung oben in der Saalwand und sah dunkle Wolken. Es würde bald Regen geben.

Die Sklaven des Sultans

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