Читать книгу Die Sklaven des Sultans - Jürgen Ebertowski - Страница 14
Оглавление4. Kapitel – Die Karawanserei von Aktepe
Der Reiter redete freundlich auf Jannis ein, bis ihm klar wurde, dass der keines seiner Worte verstand. Er bedeutete ihm alsdann, den Inhalt des Reisebündels auf die Satteltaschen der Stute zu verteilen und aufzusitzen. Der Knabe steckte seinen linken Fuß in den Steigbügel und zog sich am Sattelknauf wie an einem Baumast hoch. Das Tier, eine ältere, gutmütige Stute, nahm Jannis’ ungeschickten ersten Versuch, einen Pferderücken zu erklimmen, gelassen hin. Kaum saß der Junge, gab der Reiter ein halb geflüstertes Kommando und die Pferde setzten sich gemächlich in Bewegung. Bis auch der rechte Fuß Halt im Steigbügel fand, versuchte Jannis durch verzweifeltes Armrudern die Balance zu halten.
Der Reiter beobachtete einen Augenblick mit sichtlichem Vergnügen, wie der Knabe sich abmühte, auf dem Pferd zu bleiben. Als er sah, dass Jannis sich im Sattel halten konnte, setzte er sich mit seinem Rappen vor die Stute und trabte los. Jannis klammerte sich mit beiden Händen am Sattelknauf fest.
Die Karawane hatte sich der Stadt aus dem Norden genähert, jetzt entfernte sich der Reiter mit Jannis in Richtung Westen. Solange die Einzelheiten der Befestigungsmauern noch deutlich auszumachen waren, ritten sie durch Felder, die aus steingefassten Brunnen bewässert wurden. Esel oder Maulesel, denen man die Augen verbunden hatte, zogen je einen Balken im Kreis um das Brunnenloch. Diese Balken waren durch ein Gestänge mit einem Schöpfrad verbunden, das Wasser in ein System aus Bambusrohren hob, welches sich über die Felder verteilte wie das Netz einer Spinne. Am Ende der Felder begann Weideland.
Jannis fand heraus, dass es sich bequemer ritt, wenn er sich aufrecht hielt und die Beine nicht um den Bauch des Pferdes krampfte. Er betrachtete die breiten Schultern des voranreitenden Mannes. Ein Köcher am Sattel enthielt ein Dutzend Pfeile, ein anderer den Bogen. Der Reiter hatte den Schaft einer Lanze unter die rechte Schulter geklemmt, das Mittelstück der Waffe lag quer vor ihm über dem Sattelknauf. Im Leibgurt aus breitem, eisenbeschlagenem Leder steckten ein Krummsäbel und zwei Dolche. Hin und wieder blickte der Mann sich zu dem Knaben um und nickte ihm aufmunternd zu. Manchmal sagte er auch etwas, aber Jannis blieb als Antwort nur ein hilfloses Achselzucken. Dann lachte der Reiter bloß, und Jannis spürte irgendwie, dass er ein gutmütiger Mann war. Er hieß Hassan, und der Knabe überlegte, ob er wohl sein neuer Herr war. Wenn das der Fall sein sollte, dann hatte es das Schicksal noch einigermaßen gut mit ihm gemeint, denn als die Knaben auf dem Platz vor der Stadt auf die Reiter verteilt worden waren, hatte Jannis gesehen, wie Spiro und ein anderer Junge von einem der Reiter aneinandergefesselt wurden und an einem langen Seil hinter dem Pferd herlaufen mussten.
Die Landschaft war karg, nur einmal ritten sie über einen buschbewachsenen Hügel und scheuchten einen Schwarm großer Vögel auf. Im Nu hatte Hassan den Bogen angelegt und ein Rebhuhn geschossen. Er stieg ab, um den Vogel zu holen, und Jannis dachte für einen Moment daran, einfach auf der Stute davonzupreschen, verwarf aber diesen Gedanken gleich wieder. Hassans Pfeil, der ein kleines Ziel wie ein Rebhuhn fast beiläufig erlegt hatte, würde ihn, den ungeschickten Reiter, gewiss sofort einholen und auch mit dem Bogen nicht verfehlen. Hassan köpfte das Rebhuhn mit dem Säbel, hängte es eine Weile an einen Busch, damit es ausbluten konnte, und ließ die Beute dann in einer der zahlreichen Satteltaschen seines Rappen verschwinden.
Als der Tag sich neigte, ritten sie genau in den sinkenden Sonnenball. Hassan zügelte sein Pferd und wartete, bis die Stute des Knaben neben ihm trabte, dann deutete er auf eine Ansammlung grauer Mauern weit vor ihnen. „Aktepe Hane“, sagte er mehrmals, führte unsichtbare Speisen zum Mund, machte Kaubewegungen und trank aus einem durch Daumen und Zeigefinger angedeuteten Becher.
Sie erreichten die Karawanserei im letzten Tageslicht. Die Herberge lag am Fuße eines kahlen Hügels. Ein bogenförmiges Tor öffnete sich auf einen von einer hölzernen Galerie gesäumten Hof. Kurz vor ihnen war eine Händlergruppe eingetroffen. Hassan und Jannis hatten gesehen, wie die Kaufleute über die Hügelkuppe zum Hoftor geritten waren. Im Hof wurden jetzt Pferde gestriegelt, Kamele am Brunnen in der Hofmitte getränkt, Traglasten unter dem hölzernen Galerieumlauf gestapelt, und in einer Hofecke brieten zwei Männer über einem offenen Feuer einen Hammel. Sie scherzten laut miteinander. Jannis fiel auf, dass ihre Gesichter über und über durch Pockennarben entstellt waren.
Der Reiter schwang sich federnd von seinem Rappen, aber als Jannis abstieg, spürte er jeden Muskel und jeden Knochen. Dazu brannten die Innenseiten seiner Oberschenkel, als hätte er sich die Haut verbrüht. Vorsichtig löste er den Hosenstoff von den wunden Stellen. Hassan beobachtete ihn dabei und griff in eine Satteltasche. Dann reichte er Jannis eine hölzerne Dose. Sie enthielt eine nach Kamille riechende Paste, die auch die blassgelbe Farbe der Medizin besaß, die die Beschneider nach der Entfernung der Vorhaut aufgetragen hatten. Jannis’ Begleiter machte eine Geste des Einreibens.
Der Junge nickte und führte seine rechte Hand ans Herz, so wie er es bei den Janitscharen gesehen hatte, wenn sie ihre Mahlzeiten von den Köchen aus dem großen Kessel zugeteilt bekamen, um sich zu bedanken. Nur war dieser Kessel aus Eisen und nicht aus Bronze.
Er schaute suchend umher.
Der Reiter verstand, band die Pferde an eine Säule und ging mit dem Knaben in einen geweißten Raum mit verschieden großen, steinernen Wassertrögen. Dort ließ er ihn allein.
Als Jannis wieder in den Hof trat, sah er weder Hassan noch die Pferde. Nur ihre Satteltaschen hingen über einem Balken neben einer Türöffnung unter der Holzgalerie. Jannis spähte in das Halbdunkel des Raums.
„Dschengis, gel!“ Es war Hassans Stimme.
Jannis trat ein. Im Verlauf des Marsches hatte er sich an den neuen Namen gewöhnt und reagierte schnell, wenn man ihn so anrief. Selbst das geringste Zögern hatte sein jähzorniger Janitscharen-Bewacher während des Marsches nach Konya durch Hiebe und Stöße mit dem Lanzenschaft geahndet.
Hassan saß auf einer Matte vor einer im Boden versenkten Kochstelle und war damit beschäftigt, ein Feuer in Gang zu bringen.
„Otur!“
Dieses Wort kannte Jannis. Er setzte sich.
Hassan gab dem Knaben einen Tonbecher. „Itsch!“
Jannis trank hastig. Es war mit Wasser verquirlter Yoghurt, kalt und köstlich erfrischend. Hassan legte das Rebhuhn vor den Knaben, zupfte seiner Jagdbeute eine lange Schwanzfeder aus und zeigte nach draußen.
Jannis nickte, nahm die Jagdbeute und begann sie in der Türöffnung zu rupfen. Während er arbeitete, sah er Hassan beim Brotbacken zu. Der mischte viel Mehl und wenig Wasser in einer Holzschüssel und drückte eine flache Eisenpfanne in die Glut. Dann formte er Kugeln aus der Teigmasse und rollte die Stücke mit einem runden Stab auf einem Brett zu handtellergroßen Fladen aus, die er in der Pfanne buk. Als der Teig verbraucht war und sich neben der Feuerstelle mehrere Lagen Fladenbrot stapelten, hatte der Knabe auch das Rebhuhn vom Federkleid befreit.
Es war unterdessen dunkel geworden, und Hassan entzündete zwei Öllampen. Er wusch das Rebhuhn, trocknete es mit einem Tuch und zerteilte es. Die Stücke bestreute er mit Salz aus einer verschraubbaren Blechhülse. Bald erfüllte verlockender Bratenduft den Raum. Kurz darauf setzten sie sich auf die Binsenmatten neben der Feuermulde und aßen schweigend. Nach der Mahlzeit lehnte sich Hassan wohlig zurück und streckte die Beine aus.
‚Sollte er jetzt einschlafen‘, dachte Jannis, ‚dann wäre es ein Leichtes …‘
In diesem Augenblick erschien ein Mann in der Türöffnung. Er rief fragend Hassans Namen, trat aber, ohne auf Antwort zu warten, ein.
Jannis’ Bewacher sprang mit einem Freudenschrei auf, eilte dem Fremden entgegen, kniete vor ihm nieder und küsste seine Hände, die er dann unter ehrfürchtigem Gemurmel an seine Stirn drückte. Im trüben Schimmer der Ölflammen sah Jannis das faltige Gesicht eines alten, bärtigen Mannes. Er steckte in einer staubigen Kutte und trug einen zerschlissenen Turban auf dem Kopf. Der Alte erinnerte ihn stark an den Derwisch im Saray-Hof des Sultans.
Hassan und der Fremde unterhielten sich eine Weile. Jannis vermeinte mehrmals seinen neuen Namen Dschengis herauszuhören. Erneut küsste Hassan den Handrücken des Alten. Der Mann berührte daraufhin leicht Hassans Stirn und bedachte den Knaben mit einem langen forschenden Blick. Dann schüttelte er kaum wahrnehmbar den Kopf. Jannis schaute betreten zu Boden. Der Blick des Alten war keineswegs furchteinflößend, im Gegenteil, seine Augen waren milde, aber wie auch bei dem Derwisch im Sultanspalast hatte Jannis das Gefühl, dass der Fremde bis tief in sein Innerstes zu schauen vermochte.
‚Er hat gesehen, dass ich fliehen will‘, dachte Jannis bestürzt, ‚und warnt mich davor, es zu tun!‘
Der Fremde verließ den Raum.
Die Zeit für das Abendgebet nahte. Nach den vorgeschriebenen Waschungen versammelten sich alle Reisenden in einem Saal in der südöstlichen Hofecke. Der bärtige Alte war der Vorbeter.
Mitten in der Nacht erwachte Jannis auf seiner dünnen Schlafmatte von einem eigenartigen Geräusch. Er richtete sich auf und stellte fest, dass noch Glut in der Herdasche schimmerte. Mit einem Strohhalm zündete er eine der Öllampen an. Hassan war nicht mehr im Raum. Jannis ging zur Tür. Sie war von außen zugesperrt worden. Durch eine Ritze konnte der Knabe auf den Hof sehen. Zwei Wächter hockten an einem Feuer vor dem Karawanserei-Tor.
Wieder hörte er das Geräusch. Es klang wie ein entferntes Dröhnen und kam von der rückwärtigen Mauer. Jannis presste das Ohr gegen die Wand. Jemand trommelte im angrenzenden Raum. Eine Leiter führte zu einer Luke in der Zimmerdecke. Der Junge hob sie einen Finger breit an. Sie öffnete sich zur Hofgalerie. Jede hastige Bewegung vermeidend kletterte der Knabe durch die Luke. Das Trommeln war jetzt deutlicher vernehmbar. Auch eine Flöte hörte er. Sie spielte eine sich ständig wiederholende Melodie.
Die den Hof umlaufende Galerie zog sich an den Wohnräumen der Reisenden im Karawanserei-Obergeschoß entlang. In einem Zimmer brannte ein flackerndes Öllicht. Jannis spähte durch eine enge Fensteröffnung in den Raum. Er war bis auf die Ölleuchte und einen Holzschemel vollkommen leer.
Die Türen und Fenster lagen im Schatten der Galerieüberdachung. Jannis schaute zu den Wächtern am Hoffeuer hinunter. Sie hatten nichts bemerkt.
Der Knabe zwängte sich durch die Fensteröffnung und befand sich in einem Zimmer direkt über der Musik. Er kniete nieder und legte das Ohr gegen die glatten Eichenplanken des Fußbodens. Trommel und Flöte waren verstummt, dafür hatte ein vielstimmiger Gesang eingesetzt, erst leise, dann beständig anschwellend.
Die Öllampe flackerte noch einmal auf und erlosch.
Unter Jannis wurde nun wieder die Trommel angeschlagen, und gleich darauf ertönte erneut die monotone Flötenmelodie. Jetzt verstand der Knabe auch die ständig wiederkehrenden Worte des Gesangs: „Allah hu!“
In einer Zimmerecke bemerkte Jannis plötzlich einen Lichtschimmer. Er erhob sich und tastete sich auf den hellen Fleck zu. Es war ein Astloch in einer Eichenplanke. Der Junge legte sich flach auf den Boden.
Der Saal unter ihm war vom Schein unzähliger Lampen erhellt. Eine Gruppe weißgekleideter Männer mit hohen Filzkappen hockte verstreut um den bärtigen, alten Vorbeter. Zwei weitere Männer erkannte Jannis sofort wieder. Es waren die beiden pockennarbigen Kaufleute, die den Hammel auf dem Karawansereihof gebraten hatten.
Der Alte trug nicht mehr seine zerschlissene Kutte, sondern ebenfalls einen weiten weißen Mantel. Im Gegensatz zu den Köpfen der Männer wurde sein Kopf von einem grünen Turban bedeckt. Der Alte und die Männer wiegten sich im Takt der Trommel, die außerhalb von Jannis’ Blickfeld geschlagen wurde. Auch der Flötenspieler war dem Blick des Knaben entzogen.
Immer aufreizender ertönte die Flötenmelodie, immer energischer erklang die Trommel, und auch der Sprechgesang schwoll an: „Al-lah hu! Al-All-lah-hu!“
Plötzlich sprang einer der Männer auf und begann, sich mit weit ausgebreiteten Armen um seine Achse zu drehen, erst langsam, dann immer schneller, bis sich sein weiter Mantel wie ein rotierendes Rad bauschte. Während er sich drehte, rezitierten die anderen Männer weiterhin laut: „Al-lah hu! Al-All-lah-hu!“
Ein neuer Sänger gesellte sich zu dem Kreisenden. Es war Hassan.
Bald drehten sich bis auf den Alten alle im Takt der Trommel. Die Gesichter der Tänzer glänzten vor Schweiß. Ein Mann sackte erschöpft, aber mit einem ekstatischen Lächeln auf den Lippen, zu Boden. Die pockennarbigen Händler stolperten über den Liegenden.
Der Alte warf die Arme in die Luft und schaute mit dem Ausdruck höchster Verklärung nach oben. Sein heiserer, langgezogener Schrei übertönte alles. „Allah huuuu!“
Die Tänzer schleuderten mit einem Ruck die Köpfe in die entgegengesetzte Richtung der Drehung, und ein vielstimmiges „Hu, hu, hu!“ ging in keuchendes Atmen über. Hassan sank langsam auf beide Knie und begrub sein Gesicht in den Handflächen.
Jannis schlich zum Fenster zurück. Die Hoftorwächter saßen noch immer reglos am Feuer. Wenig später hatte er die Deckenluke leise hinter sich geschlossen und lag wieder auf der dünnen Schlafmatte neben der Feuermulde.
Noch lange beschäftigten ihn die Bilder des Gesehenen, und er vermeinte noch immer die aufreizende Musik zu hören. Dieser seltsame, verzückte Tanz der Männer, was mochte er bedeuten? War es womöglich eine Art von Messe, in der die Muselmanen ihren Gott Allah verehrten? Seinen Namen hatten sie schließlich ständig gerufen. Und der Alte, der die Gedanken anderer zu lesen vermochte, konnten das alle Musel-manen-Popen? Dass der alte Mann ein Priester war, daran zweifelte der Knabe nicht. Hassan hatte dessen Hand an den Mund geführt, wie er und Kostas die Hände des Popen von Pharnox geküsst hatten.
Als Hassan zurückkam, wälzte sich Jannis unruhig im Schlaf, als träumte er gerade einen besonders bedrückenden Traum.