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6. Kapitel – Der Gutshof am Beyschehir-See

„Dschengis?“

„Ja, Herr?“ Der junge Mann rannte über das Feld und nahm Hassan die Jagdbeute ab.

„Und was hast du?“

„Einen Rehbock, Herr. Der Hund bewacht ihn.“

„Gut, dann zünde jetzt den Holzstoß an!“

Das Feuer war das vereinbarte Zeichen für Ali, den ältesten Sohn des Gutsherrn, sie mit dem Boot abzuholen.

Annähernd zwei Jahre waren vergangen, die Jannis nun bereits auf Hassans Gut am Beyschehir-See lebte. Aus dem Knaben war ein junger Mann geworden, der nicht nur mit Pfeil und Bogen umzugehen wusste. Beim Ringkampf hatte er sogar Hassans Bruder Omar bezwingen können. Dschengis gerufen zu werden, war ihm nun so vertraut wie einst der alte Name Jannis. Den Fischersohn Jannis von der Insel gab es noch, wenn in den langen Winternächten manchmal die Erinnerung an Thiratois, die Erinnerung an Mutter, Schwester und den Bruder den Schlaf in Bann hielt; aber diese Nächte, in denen er dann vor Heimweh geradezu krank war, wurden mit der Zeit immer seltener. Zum einen, weil Hassan der gutmütige Herr blieb, den der Junge zu Beginn seiner Gefangenschaft in Anadolu kennengelernt hatte, zum anderen aber auch, weil Hassan trotz aller Milde darauf sah, dass aus Dschengis ein Kriegsmann wurde, der sein Handwerk beherrschte. Der junge Mann, von Natur aus schon kein Schwächling, wurde zusehends kräftiger und sehniger. Er genoss es, gefordert zu werden, und gab sich stets erst dann zufrieden, wenn er von allen Gleichaltrigen auf dem Gut den Speer am weitesten schleudern, den schwersten Stein stemmen oder das bockigste Pferd bezwingen konnte. Zur Schulung von Hassans Zöglingen gehörte außer harter körperlichen Feld- und Waldarbeit ein regelmäßiges Waffentraining. Neben dem Fechtunterricht mit dem Yagatan, dem Krummsäbel, legte der Gutsherr besonderen Wert auf das Bogenschießen und den Ringkampf. In beiden Disziplinen machte Dschengis rasche Fortschritte. Besonders Pfeil und Bogen wusste er bald so sicher zu handhaben wie sein Herr und Lehrmeister.

Jede Woche ritten Dschengis und der etwas jüngere Sohn Hassans, Ali, zum Kloster der Derwische am südlichen Seeufer. Das Kloster, eine ehemalige Burg, war ein mächtiger Mauerring auf einer kahlen Landzunge. Dort erhielten die Knaben Unterricht, nicht nur im Rezitieren des Heiligen Korans, sondern auch im Lesen und Schreiben. Vorsteher der Derwischgemeinschaft war der bärtige Alte, der den Kreiseltanz in der Karawanserei geleitet hatte. Die anderen Derwische, aber auch Dschengis und Ali, redeten den Alten ehrfürchtig mit „Scheich“ an. Damit Dschengis schnell die fremde Sprache erlernte, erhielt er gesonderten Unterricht bei einem der frommen Männer, der des Griechischen mächtig war. Geduldig und freundlich unterwies er den Jungen. Keine einzige von Dschengis’ Fragen ließ er unbeantwortet. Als der wissen wollte, ob Muslime einen Mann verschneiden dürften, erhielt er im Kloster die gleiche Antwort wie von dem bärtigen Alten im Großherrlichen Sarayhof, und war darüber beruhigt, dass man seinen Bruder Kosta nicht zum Eunuchen gemacht hatte.

Tief im Innern sagte zwar eine Stimme dem Fischersohn Jannis, dass die Derwische in Wahrheit seine Peiniger waren, die mit süßen Zungen redeten, und dass er ihnen auf keinen Fall Glauben schenken sollte. Aber der junge Mann, der zum Krieger reifte, und den man Dschengis rief, wusste auch immer häufiger zu schätzen, dass die Bärtigen nie ein hartes Wort an ihn richteten, wenn er sich beim Lernen oder Rezitieren ungeschickt anstellte. Ihre Geduld schien ohne Grenzen und auch die von Hassan, dem Gutsherrn. Nie wurde Dschengis geschlagen. Nie sah Jannis den Herrn seine Söhne mit der Hand oder dem Stock züchtigen.

Einmal kam ein Janitscharenhauptmann auf den Gutshof, um zu kontrollieren, wie Dschengis sich unter Hassans Obhut entwickelte. Er reiste befriedigt ab und meinte, dass der junge Mann bestimmt schon in zwei weiteren Jahren reif für die Ausbildungstruppe der Großherrlichen Garde sein würde. Normalerweise wären drei Jahre Anatolien für Devschirme-Knaben vorgesehen.

Dschengis konnte bald nach der Abreise des Tschorbadschi seine Geschicklichkeit mit Pfeil und Bogen nutzbringend anwenden, als eine Bande von Briganten, auch Haydutlar genannt, in Abwesenheit von Hassan und der meisten wehrfähigen Männer versuchte, den Gutshof zu stürmen. Dschengis, Ali und einem halben Dutzend waffenfähiger Knechte gelang es, die Angreifer von den Hofmauern fernzuhalten, bis Hassan, der mit seinen Gefolgsleuten den Statthalter Prinz Selim auf Entenjagd am Seeufer begleitet hatte, die Haydutlar vertrieb.

Prinz Selim liebte es, mit dem Großherrlichen Prinzenerzieher, Lala Mustafa Pascha, und seinen Freunden in den Marschen des Beyschehir-Sees den begehrten Smaragdenten nachzustellen, und so blieb der Gutshof von Zeit zu Zeit ohne kopfstarke Bewachung. Lala Mustafa Pascha war eigentlich der Lehrer seines jüngeren Bruders Beyazit. Dessen herrische, überhebliche Art war dem Pascha zuwider. So kam es, dass er mit dem Schehzade Selim auf weitaus vertrauterem Fuß stand als mit Prinz Beyazit und mehr Zeit in Konya als in Beyazits Residenz verbrachte.

Vor dem Mauerabschnitt des Gutes, den Dschengis verteidigt hatte, lagen drei Leichen. Eine davon war die des Bandenchefs. Ein Pfeil hatte dessen Hals durchbohrt.

Der Prinz und seine Janitscharenleibwache verfolgten die Banditen noch eine Strecke und kehrten dann in bester Laune zum Gutshof zurück. Räuber zu jagen war weitaus kurzweiliger als Enten zu schießen, zumal die Soldaten die Pferde und Waffen von fünf Männern erbeutet hatten und deren Köpfe zur Abschreckung ähnlicher Aktionen aufgespießt vor dem Gutshoftor zur Schau gestellt wurden.

Prinz Selim hatte höchstpersönlich einen der Räuber mit einem meisterhaften Fernschuss aus dem Sattel geholt.

Als Hassan ihm und dem Gefolge einen Erfrischungstrunk bringen ließ, fragte der Schehzade, wer der Schütze sei, der den Anführer der Briganten getötet hatte.

Man brachte ihm Dschengis, und Hassan erklärte dem Großherrlichen Statthalter, dass er ein Devschirme-Knabe war.

Der Schehzade war ein korpulenter Mann mit einem runden Gesicht, das ein gelber Vollbart zierte. Er war mittelgroß und besaß einen merkwürdig proportionierten Körper mit sehr langen Beinen und kurzem Rumpf. Auffällig waren auch seine hohe Stirn sowie die dünnen, fast farblosen Augenbrauen.

Der Prinz musterte den jungen Mann anerkennend, der vor ihm im Staub kniete. „Du hast außerordentliche Treffsicherheit bewiesen. Wenn du mit der Militärausbildung fertig bist, nehme ich dich in meine Leibwache auf.“ Und er befahl Mustafa Pascha: „Gib ihm eine Belohnung, Lala!“

Der Großherrliche Prinzenerzieher warf Dschengis eine kleine Goldmünze zu. Der junge Mann drückte seine Stirn auf den Boden. Er hatte kaum verstanden, was der Prinz gesagt hatte. Der Sohn des „Gesetzgebenden“ lispelte stark.

Auf Anweisung von Hassan nähte Dschengis die Münze als glücksbringendes Amulett in ein Stück Seidentuch, das er fortan immer bei sich trug.

Zwei Tage nachdem der Prinz wieder nach Konya zurückgekehrt war, begann eine Hundertschaft von Haydutlar Hassans Gutshof zu belagern, um ihren getöteten Anführer zu rächen.

Die Sklaven des Sultans

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