Читать книгу Die Sklaven des Sultans - Jürgen Ebertowski - Страница 6
Оглавление1. Kapitel – Kaptan Sokrates’ Kaik
Es war Mitte April, und der Morgennebel begann sich zwischen den Inseln und der Landzunge aufzulösen. Die bewaldete Halbinsel mit dem verfallenen heidnischen Heiligtum aus weißem Marmor schob sich wie ein Sperrriegel aus dem Küstengebirge vor das Schiff. Wattegleicher Nebel und sanfte Dünung verhießen Kaptan Sokrates einen sonnigen Tag.
Der Skipper der „Seeschwalbe“, einer robusten Kaik, seegängig und verlässlich, lehnte sich wohlig an die Heckreling, während die beiden Schiffsjungen und der Matrose das Segel ausrichteten, denn der Wind wehte jetzt landwärts. Der Skipper war ein stämmiger Mann mittleren Alters, kurzbeinig und besaß einen Brustkorb geformt wie eine Tonne.
Sein Steuermann sah ihn erwartungsvoll an. Kaptan Sokrates nickte, worauf der Steuermann sich mit aller Kraft gegen den Balken der Ruderpinne stemmte. Die „Seeschwalbe“ drehte augenblicklich scharf nach Backbord ab und umschiffte eine Untiefe, deren einziges Anzeichen aus einem Kamm gischtiger Wellen bestand. Bereits so manchem Segler war diese tückische Stelle zum Verhängnis geworden, Kaptan Sokrates jedoch kannte jede Klippe, jede Strömung, kannte jede Landmarke an diesem Küstenstrich. Er befuhr die Gewässer, seitdem der Vater – der Allmächtige sei seiner armen Seele gnädig! – ihn als Knaben zum ersten Mal auf die Südreise mitgenommen hatte. Vom Vater hatte er nicht nur das Handwerk des Seemanns, sondern auch das des umsichtigen Schmugglers erlernt. Schmuggel war eine lohnende Tätigkeit, da Sultan Süleyman, der von allen nur der „Gesetzgebende“ genannt wurde und der nun schon seit einer Ewigkeit über das Reich der Osmanen herrschte, beständig neue Handelsgüter mit einem Aus- oder Einfuhrbann belegte beziehungsweise mit hohen Steuern. Es hatte sogar Aufstände in entlegensten Landesteilen gegeben, als wegen der ständigen Heerzüge gegen die Habsburger und Perser Sonderabgaben sowohl von Muslimen als auch von Christen und Juden erhoben worden waren. Vor Jahresfrist hatte sich im Reich des „Gesetzgebenden“ der Preis für Olivenöl innerhalb von nur einer Woche verdreifacht. Nun, Kaptan Sokrates und seine Schmugglerzunft erfreute, was die einfache Bevölkerung in die Revolte trieb: Öl in Zypern und Kreta, den Venetianern untertan, war billiger denn je gewesen. Kaptan Sokrates strich sich über den struppigen Bart und lächelte. Das Aufruhrjahr hatte sich für ihn als ein höchst profitables erwiesen.
Sommers wie winters hatte der Skipper der „Seeschwalbe“ die schneeweißen Säulen des Tempels auf der Landzungenspitze angepeilt, selbst bei rauem Wetter, wenn die ansonsten wagemutigen Fischer der Gegend schon längst in einer der zahlreichen geschützten Buchten vor Anker gegangen waren. Und bislang hatte sich stets das Risiko ausbezahlt, mit der bulligen, verlässlichen Kaik auch stürmische Gewässer nicht zu meiden.
So florierten also die Geschäfte des Kapitäns: Aus anatolischem Weizen, aus Wolle und hin und wieder auch aus Kupferplatten bestand die Konterbande für die Venezianer in Zypern oder Kreta; auf der Rückfahrt transportierte die „Seeschwalbe“ dann Wein für die Christen und Juden im Istanbuler Stadtteil Fener, brachte auch hin und wieder eine Ladung gepökeltes Schweinefleisch für die Genuesen am Nordufer des Goldenen Horns nach Galata oder Pera.
War Kaptan Sokrates erst in der Dardanellen-Straße, die ins Marmarameer führte, und hatte er es auch vermeiden können, von den Zoll- und Patrouillenschiffen der Küstenstatthalter kontrolliert zu werden, dann winkte ihm trotz der noch aufzubringenden Bestechungsgelder erfreulicher Gewinn.
Ein wenig indes verdüsterte sich die Miene des Kapitäns, als er an all das gute Silber dachte, das er stets verlor, damit die richtigen Leute zur rechten Zeit die Augen zudrückten. Bei der letzten Reise im Herbst hatte er zwar für eine Ladung Zypern-Wein einen extrem guten Preis bei seinen Stammabnehmern in Fener und Pera erzielen können, jedoch waren auch die Bestechungstarife der Hafenbehörden in Gelibolu leider hochgeschnellt, was dann die Profitsumme unterm Strich empfindlich geschmälert hatte.
Ein Weißer Eunuch, der regelmäßig und heimlich mit ein paar Kameraden von der Palastwache in der Schänke von Nico, dem hinkenden Rhodier, zechte, hatte dafür die Habgier des Großwesirs Rüstem Pascha verantwortlich gemacht, der von allen nur die „Glückslaus“ genannt wurde. Seitdem Rüstem – Der Allmächtige strafe seine Unersättlichkeit! – der Schwiegersohn des „Gesetzgebenden“ und nun auch noch dessen erster Minister war, konnte man gegen eine entsprechende Geldsumme sogar außerplanmäßige Beförderungen im Saray-Dienst erkaufen. Nichts schien mehr unmöglich im Reiche Süleymans, wenn die „Glückslaus“ nur daraus zu profitieren vermochte. Das galt für Palast-Beförderungen ebenso wie für die Ausfertigung von Zoll- oder Einfuhrdokumenten. Und besonders die Gebühren für die Frachtpapiere, die der Defterdar von Gelibolu ausstellen musste, damit man Handelsgüter auf dem Seeweg durchs Marmarameer nach Istanbul schaffen durfte, hatten sich neuerdings schmerzlich verteuert.
Desungeachtet besaß Kaptan Sokrates keinen wirklich triftigen Grund zur Klage. Eine zweite Kaik war von ihm in Samos in Auftrag gegeben worden, das Haus auf der heimatlichen Insel hatte einen geräumigen Anbau bekommen, und gleich drei Hirten kümmerten sich um die vielköpfigen Schaf- und Ziegenherden. Und wenn erst das zweite Schiff auf der Zypernroute laufen würde …
Kaptan Sokrates’ angenehmer Tagtraum wurde durch einen heiseren Ausruf des Matrosen am Bug abrupt beendet.
„Kaptan, da schwimmt jemand auf die Landzunge zu!“
„Nein“, sagte der Steuermann und starrte in den sich lichtenden Nebel. „Es sind zwei! Ich sehe zwei Köpfe!“
Kaptan Sokrates rannte nach vorne. Die Punkte in der drei Schiffslängen messenden Durchfahrt zwischen der nächsten Insel und der Landzunge wurden größer: Die Schwimmer hatten die Halbinselspitze erreicht und richteten sich unterhalb der heidnischen Ruine aus dem flachen Wasser auf.
„Was zum Teufel hat das denn zu bedeuten?“, knurrte der Skipper den Steuermann an.
„Keine Ahnung, sie scheinen von der Möveninsel zu kommen. Wahrscheinlich ein paar Fischerkinder.“
Die Möveninsel, so hieß das der Landzunge nächste Eiland, war eine unbewohnte sternförmige Insel, steinig und von hartem Gestrüpp überwuchert, sodass die Fischer nur im Sommer vom Festland manchmal ein paar Ziegen hinüber brachten.
Der Kapitän schüttelte nachdenklich den Kopf, denn die beiden Gestalten, die jetzt sichtbar erschöpft auf das Ufer zuwankten, trugen leuchtend rote Hemden und Hosen. „Nein“, sagte er. „Das sind Devschirme-Knaben. Sie fliehen vor den Janitscharen.“
„Verflucht sollen sie sein, diese Bluthunde!“ knurrte der Steuermann.
Kaptan Sokrates rief den Schiffsjungen und dem Matrosen ein barsches Kommando zu und rannte zum Heck. „Schnell! Wir müssen hier weg, bevor ihre Verfolger auftauchen!“
Es war wenig ratsam, ausgerechnet von den aufgebrachten Häschern gesichtet zu werden, die garantiert den Rotgekleideten nachstellten: Der Bauch der „Seeschwalbe“ barg eine Ladung süßen Zypern-Weins. Würde das Schiff aufgebracht und die Besatzung vor einen unbestechlichen Kadi geschleppt werden, dann drohte unter Umständen allen sogar der Pfahl.
Gemeinsam mit dem Steuermann drückte der Skipper den Ruderbalken hart nach steuerbord.
„Wohin?“
„Zur Schildkrötenbucht!“
Die „Seeschwalbe“ nahm Kurs auf eine Gruppe steil aufragender Klippen am Festlandsufer. Die Durchfahrt zur Schildkrötenbucht lag hinter dem „Fischstein“ und dem „Affenfelsen“. Jedes Schiff, größer oder mit mehr Tiefgang als eine Kaik, würde unweigerlich auf die Klippen in der Buchteinfahrt laufen.
Kaum war der Anker ausgeworfen, wurde in aller Eile das Segel eingeholt und der Mast umgelegt. Dann wateten der Kapitän und der Steuermann ans Ufer. Sie kletterten den bewaldeten Hang an der Südseite der Bucht hoch, bis sie eine lichte Stelle fanden, von wo aus sie die Inseln und die Landzungenspitze gut überschauen konnten.
‚Devschirme – Knabenlese!‘, dachte der Kapitän und verfluchte lautstark Sultan Süleyman und sein Geschlecht. Es war also wieder soweit! Alle fünf Jahre kamen die Häscher des „Gesetzgebenden“ in die Dörfer und forderten ihren Tribut an den Kindern der Christen, um sie zum Militärdienst zu pressen. Nie hörte man jemals wieder etwas von den Unglücklichen, auch wenn einige Leute wissen wollten, dass es auf dem Festland Männer gäbe, die man als Knaben entführt hätte, und die als wohlhabende Veteranen zu ihren Familien zurückgekehrt wären.
Der Kapitän ballte die Fäuste, denn er dachte an seine zwei Jungen daheim, die zwar noch nicht das Mindestalter von acht Jahren erreicht hatten, um sie zur Knabenlese tauglich zu machen, aber er musste auch wieder an den Tag denken, als die Janitscharen mit dem Kadi zu seinem Vater gekommen waren, um zwei seiner Brüder abzuholen. Der Dorfpope, der verpflichtet war, die Taufbücher vorzuzeigen, hatte noch versucht, den Kadi gnädig zu stimmen und nur einen von Kaptan Sokrates’ Brüdern einzufordern. Vergeblich. Die Janitscharen hatten Anweisung gehabt, zwei Jungen auf der Heimatinsel des Skippers zu rekrutieren, und sie waren eisern geblieben. Später erfuhr man dann, dass ein reicher Kaufmann auf der Nachbarinsel Leros seine beiden jüngsten Söhne freigekauft hatte und sich die Janitscharen deshalb auf der Insel des Kapitäns für diese Ersatz beschaffen mussten. Irgendwann war der Vater dann nach Leros gefahren, und man fand eine Woche später die verstümmelte Leiche des Kaufmanns in einem Olivenhain. – Der Skipper spuckte aus. Seine Brüder waren nie als reiche Männer auf das heimatliche Eiland zurückgekehrt!
Solche und ähnliche Erinnerungen gingen Kaptan Sokrates durch den Kopf, während seine Augen die Landzunge nach den Knaben absuchten. Sie schienen sich in den dichten Waldrücken der Halbinsel geflüchtet zu haben, jedenfalls zeigte sich nicht der geringste Schimmer Rot zwischen den Bäumen und dem Gestrüpp in Ufernähe.
„Ich sehe sie nicht mehr. Du?“
Der Steuermann schüttelte den Kopf. „Nein, aber da sind schon ihre verfluchten Häscher!“ Der Arm des Steuermannes wies auf die Möveninsel. Der Bug einer Galeere durchschnitt eine Nebelbank und verlangsamte die Fahrt vor der Landzungenspitze. Kaptan Sokrates lachte heiser. „Wenn sie es wagen sollten, durch die Enge zwischen Insel und Halbinsel zu laufen …“ Aber der Kommandant des Kriegsschiffs war umsichtig oder kannte die Untiefen, die ihn erwarteten, und denen Kaptan Sokrates kundig ausgewichen war.
Ein Beiboot mit vier Ruderpaaren wurde zu Wasser gelassen. Außer den Ruderern stiegen sechs Janitscharen die Strickleiter hinunter. Die Soldaten hielten lange Jagdbögen in den Händen. Ihre hohen, hellen Filzmützen mit dem weißen Nackentuch zeichneten sich von dem dunklen Galeerenrumpf ab. Das Beiboot umrundete langsam, sich immer dicht ans Ufer haltend, die Landzungenspitze und fuhr bis zu dem Sandstrand, wo sich die Halbinsel vom Festland abspreizte. Dort wendete es.
Der Kapitän und sein Steuermann warteten, bis die Ruderer wieder an der Galeere festgemacht hatten und das Boot an Deck gezogen wurde. Erst als das Heck des Kriegsschiffs völlig von der Möveninsel verdeckt war, kletterten die Männer den Hang hinunter.
„Wir bleiben bis zur Abenddämmerung in der Bucht“, sagte der Skipper.
„Besser wäre es“, erwiderte der Steuermann, denn er hatte einmal der Pfählung eines Räubers im Hafen von Gelibolu beigewohnt.