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CARBONRENTNER DER GENERATIONENKONFLIKT MACHT BRÄGEL ZU SCHAFFEN. ALSO ERFINDET ER DEN KNIGGE FÜR RENNRADFAHRER 2005

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Es ist nur ein kleiner Anstieg. Wir fahren locker dahin, als von hinten eine Gruppe anrollt. »Keinen Stress jetzt«, keucht Brägel, »lassen wir sie einfach vorbei.« Auch der alte Hans nickt eifrig. Na gut. Es ginge zwar noch was, aber es muss ja nicht jedes Mal Rennen sein. Die anderen fahren vorbei, wir grüßen freundlich. Keine Antwort. Der alte Hans hebt mangels Luft die Hand. Keine Reaktion. »SERVUS«, kräht Brägel, als sie fast schon vorbei sind, aber die anderen bleiben stumm, schauen hinter ihren verspiegelten Brillen starr nach vorn, nach links oder durch uns durch. Lauter junge, schlanke Kerle. Einer rotzt (nach rechts), die anderen schweigen. Als der letzte vorbei ist, hören wir deutlich: »Viel Kohle, kein Tritt – typisch Carbonrentner.« Die anderen Schnösel lachen. »Los, die blasen wir aus den Schuhen«, ächzt Brägel. Ich mache ihm klar, dass er fast am Limit ist, die da vorn aber höchstens im Standby rollen, dass die Lackel fast unsere Söhne sein könnten und die beste Reaktion unsererseits jetzt gar keine ist. Brägel fügt sich schnaubend, der Präsident murmelt ein gequältes »Pedalpack, mistiges«, wir rollen schweigend weiter und hängen dunklen Gedanken nach.

Zwei Stunden später im Clubhaus die Aufarbeitung. Wir fragen uns, ob wir selbst früher auch derart respektlos gegenüber älteren Sportkumpeln waren. Der alte Hans verneint, wobei nicht sicher ist, ob es überhaupt schon ältere Rennradler gab, als Hans jung war. Damals waren gestandene Männer schließlich mit dem Wiederaufbau, dem Wirtschaftswunder und der Produktion geburtenstarker Jahrgänge beschäftigt. Brägel meint, dass er als Jugendlicher im Fußballverein den Kickern der AH immer die Sporttaschen getragen hat, was wir nicht so recht glauben wollen. Wahrscheinlich hat er da Biermarken fürs Sommerfest bekommen. Es besteht also der begründete Verdacht, dass wir auch nicht anders waren und den Respekt vor Älteren erst entwickelt haben, seit wir selbst morgens nur noch mit Dehnübungen für Kreuz und Knie in die Senkrechte kommen, also so ungefähr ab Mitte 30.


Fest steht aber, dass im Land der Anstand leidet, quer durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten. Politiker werden als Absahner enttarnt, im Aufzug grüßt keiner mehr, und jetzt lassen sich sogar schon leibhaftige Schiedsrichter von schmierigen Halbwelt-Strizzis bestechen. Dabei galten die Unparteiischen zusammen mit Ordensschwestern als letzte moralische Instanzen in schwerer Zeit. Armes Deutschland. Aber da wir vom Radclub immer schon an das Gute glauben, gehen wir begeistert auf Brägels Idee ein, eine Art Knigge für Rennradfahrer auszuarbeiten.

Nach zwei Hefe hell stehen die Rahmenbedingungen für einen anständigen Freizeitsport. Es ist ab sofort strikt verboten, sich von hinten unbemerkt fremden Radlern zu nähern, sich anschließend schamlos im Windschatten zu erholen, nur um dann an einem passenden Berg mit 350 Watt anzutreten. Das ist nicht nett. Künftig begrüßen wir Fremde mit einem freundlichen Hallo und lassen sie auch in den Genuss unseres Windschattens kommen. »Haben wir doch noch nie gemacht«, flüstert der alte Hans. Ich nicke, aber Brägel denkt schon weiter. Die Handzeichen, die auf Löcher in der Straße oder sonstige Hindernisse aufmerksam machen, müssen wieder mehr zum Einsatz kommen, wer sich die Nase ausblasen will, lässt sich an das Ende der Gruppe zurückfallen, und gepinkelt wird in Zukunft nur außerhalb geschlossener Ortschaften und mit dem Rücken zur Straße. Hupende Autofahrer werden künftig nicht mehr mit dem Einsatz körperlicher Gewalt und unanständigen Worten bedroht. Ich erinnere mich noch gut, wie Brägel vor zwei Wochen einem hupenden Autofahrer nachhetzte und ihm beim nächsten Halt mit seiner Trinkflasche ins Auto gespritzt hat. Danach hat er ihn mit einer Salve von Wörtern belegt, von denen ein paar Kinder am Straßenrand rote Ohren bekamen. Das Ganze endete mit einer eindeutigen Morddrohung für den Fall, dass sich der Automobilist nicht sofort verpissen, Verzeihung: verkrümeln würde.

Und jetzt will Brägel zum Benimm-Radler werden. »Wir müssen Vorbilder sein«, sagt er. Es soll auch Schluss damit sein, dass wir uns über andere Radfahrer lustig machen und über ihre Velos oder Trikots herziehen. »Sollen wir sie auch noch ein bisschen küssen?«, ätzt der alte Hans, dem es langsam zu viel wird. Ich denke auch, dass es jetzt reicht. Ausgerechnet Brägel, der mich erst kürzlich hämisch gefragt hat, wann ich mein sieben Jahre altes Cinelli ins Museum für historische Technik bringen wolle. Danach hat er dreckig gelacht und voller Stolz seinen neuen Carbonrenner (7,153 Kilo, das Gramm zu je einem Euro) am Stammtisch präsentiert (er hat tatsächlich das Rad in der Kneipe um den Tisch geschoben).


Ich will Brägel gerade ein bisschen einbremsen und die dritte Runde Hefe hell bestellen, als die Jungradler das Vereinsheim betreten. Sie setzen sich grußlos und bestellen Apfelschorle und Latte Macchiato. Der Präsident erhebt sich schwer (84 Kilometer, zwei Hefe hell) und sendet eine Botschaft an den Nachbartisch: »Hört mal, demnächst sagt ihr Hallo, wenn ihr an uns vorbeifahrt. Das gehört sich so.« Er setzt sich, die Jungen tun so, als hätten sie nichts gehört. Jetzt kommt Brägel. »Seid ihr taub? Habt ihr nicht gehört, was der Chef gesagt hat? Das nächste Mal wird gegrüßt, sonst zieh ich euch persönlich mit der Luftpumpe einen Scheitel über eure gegelten Igelschädel, ihr Schnösel.« Die Jungen stehen auf, verbeugen sich, rufen: »Schönen guten Tag, die Herren«, und setzen sich wieder. Dann lachen sie herzhaft. Brägels Kopf glüht wie eine Christbaumkugel, aber er setzt sich schweigend wieder hin.

Es ist wirklich gar nicht so einfach mit dem Anstand.

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