Читать книгу Gekonnt leiden - Jürgen Löhle - Страница 8

KONZENTRATION AUFS WESENTLICHE DIE STARS MACHEN ES VOR: MAN KANN NICHT DAS GANZE JAHR ÜBER IN BESTFORM SEIN. JEDER BRAUCHT SEINEN SAISONHÖHEPUNKT … 1994 bis 2001

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Zu meiner großen Freude kommt Brägel zur Zeit ziemlich bleich daher. »Na, Alter, was ist? Hast du Grippe, oder ist deine neue Flamme doch wieder mit einem anderen abgezwitschert?« Eigentlich müsste er nach so einer Ansprache am Montagmorgen aus der Haut fahren. Wenigstens ein kleines bisschen. Statt dessen nimmt mich der Lapp mit Leidensmiene zur Seite. »Pass gut auf«, flüstert er. Und dann geht es los. Von wegen Grippe. Er habe sich beim Italiener durch eine mit alter Sahne verhunzte Lasagne eine Schädigung seiner empfindlichen Darmflora zugezogen (Durchfall). Das wiederum hatte eine katastrophale Störung seines Trainings zur Folge. Besonders, weil auch noch eine hartnäckige bakterielle Infektion der oberen Atemwege (Husten) dazukam. Zudem plagen ihn eine Einblutung in die unteren Hautschichten am linken Oberschenkel (blauer Fleck nach Kontakt mit der Schreibtischkante) und eine chronische Entzündung in der Mundhöhle (Zahnfleischbluten nach Biss in einen grünen Apfel). »Von wegen ein bisschen blass; ich bin am Ende«, nuschelt der Nachbar.

Das mag ja sein, seine weinerliche Art ist aber doch ziemlich neu. Zumindest, wenn er noch nicht einmal im Sattel sitzt. Also bohre ich ein bisschen nach, bis er endlich mit dem Grund seiner Leiden rüberkommt. Brägel hat ein Buch der »Arbeitsgemeinschaft Radsportärzte in Deutschland« (ARD) gelesen. Der Titel: »Jan Ullrich – in 100 Tagen vom Totenlager zum Toursieg«. Das hat ihn schwer beeindruckt und mit zwei Erkenntnissen zurückgelassen. Erstens: Jeder sportive Mensch ist im Prinzip dermaßen krank, dass er sekündlich mit seinem Ende rechnen muss. Zweitens: Radsport auf höchstem Niveau ist nur dann möglich, wenn man maximal einmal im Jahr ernsthaft in die Pedale tritt. Für ihn heißt das: Alle Konzentration gilt dem 18. Juli 1999, einem Sonntag. Da findet die RTF »Rund um Kleckersdorf« statt, und Brägel hat für die mittlere Strecke gemeldet. 90 Kilometer mit zwei Hügeln.

So ein Schmarrn. Der Kerl weiß genau, dass wir jedes Jahr Kleckersdorf fahren, manchmal sogar die 135 Kilometer. Und er weiß auch, dass wir uns an diesem Tag, wie jedes Jahr, nachmittags auf meiner Terrasse zur Übertragung der Touretappe treffen werden. Den Hinweis kontert er freilich gnadenlos. »Du willst ja auch nur mitfahren. Ich will alles, ich will den Sieg.«

Und deswegen ist er jetzt sterbenskrank. Weil ja auch der Ullrich immer erst zu dick und dann zu schwächlich daherkommt, kopiert Brägel gnadenlos das südbadische Erfolgsmodell, was ihm beim Gewicht sowieso nicht schwerfällt. Und den ganzen Krankenzirkus macht er nur, um mich an einem lächerlichen Fünfprozenter abzuhängen; was ihm im übrigen nicht gelingen wird. Ganz sicher nicht.

Der Wahnsinnige konsultiert jetzt einen Sportmediziner, einen Ernährungsberater, einen Physiotherapeuten, einen Akupunkteur, vier Geistheiler, eine spiritistische »Gnade« und einen Guru aus der Schweiz, der gut gegen Blähungen sein soll und 500 Mark pro Sitzung kassiert. Dienstag abends geht er zudem in ein Rebirthing-Seminar. Brägel glaubt ganz fest daran, dass er die Wiedergeburt von Fausto Coppi sei. Das ist natürlich völliger Blödsinn, weil der Nachbar schon gelebt hat, als Coppi noch gar nicht tot war. Außerdem ist der Italiener nie von Lasagne krank geworden. Capito? »Dann war ich eben Eddy Merckx«, grollt er. Himmel, hilf; am Ende einigen wir uns darauf, dass er früher vielleicht einmal als Josef Fischer unterwegs war. Nein, nicht unser Außenminister. Fischer hat 1896 die erste Auflage von Paris–Roubaix gewonnen und müsste damit 1999 eigentlich für eine Wiedergeburt zur Verfügung stehen. Aber auch das ist unwahrscheinlich, schließlich haben die Jungs damals nicht so geschwächelt.


Brägel hat jetzt erst einmal alle RTF-Termine bis Mitte Juni abgesagt. Er will mit seiner Entourage im warmen Süden trainieren und sich zum ersten Mal Mitte Juni über 60 Kilometer bei einer 200-Kilometer-Touristikfahrt in der Emilia Romagna ausbelasten. »Bei der ersten Verpflegung gehe ich aber raus«, sagt er. Wenn das der alte Fischer hören könnte.

Auch das Training hat er radikal umgestellt. Brägel radelt mit vorgeschnalltem Pollenfilter und trinkt vorher zwei Liter Blutreinigungstee. Auch das ist von Ullrich im übrigen nicht bekannt, ebensowenig wie der tägliche Einlauf mit Bachblütenextrakt. Für die Zeit nach dem 18. Juli hat Brägel eine Serie kleinerer RTFs (so um die 40 Kilometer) eingeplant. »Und einige Pressetermine«, erklärt er. Sollen wir ihm wirklich sagen, dass die örtliche Zeitung seit Wochen stöhnend seine Faxe in den Papierkorb wirft? Besser nicht, er ist schon bleich genug. Außerdem wird ihn die Erkenntnis hart treffen, dass es bei der Kleckersdorfer RTF gar keine Zeitmessung gibt. Zumindest nicht bei der mittleren Runde.

Aber, wie gesagt, er hat sowieso keine Chance, auch gesund nicht. Doch dass er im Moment so blass ist, macht einem schon Sorgen. So sieht Jan Ullrich nicht mal im Dezember nach einer Woche Vollgas-Fete aus. Vor einigen Jahren gab es ja einmal einen Dopingverdacht gegen Brägel. Er soll mit Eigenurin experimentiert haben. Es ist zwar (leider) nicht bewiesen worden, aber eines ist auch klar: Nie wieder ein Schluck aus seinem Bidon. Am Ende wird man davon noch krank.

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