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MORGENSTUND MIT HUND WER ES ZU ETWAS BRINGEN WILL, BRAUCHT EIN WENIG DISZIPLIN. ALSO VERSUCHT SICH DER RADCLUB AM MORGENDLICHEN TRAINING 2014

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So ein Tag hat eben auch nur 24 Stunden – und das ist eine bittere Erkenntnis für alle, die ENDLICH mal ein bisschen mehr Radkilometer auf die Uhr bekommen wollen. Also auch für Brägel, der uns deshalb am Stammtisch euphorisch mit »Männer, der frühe Vogel fängt den Wurm« begrüßt. »Wer hängt im Turm?«, fragt der alte Hans, bekommt aber keine Antwort. Wir ahnen dagegen Schlimmes, was sich prompt bestätigt. Brägel will ab sofort zweimal pro Woche zusätzlich morgens zwischen halb sechs und sieben anderthalb Stunden in den Sattel. Selbst bei gemächlichem Tempo kämen so noch mal zwischen 250 und 300 Kilometer pro Monat zusammen.

Ehrlich gesagt, ist die Idee menschenverachtend. Um 05:30 Uhr fängt der Vogel gar nichts, weil es bis auf wenige Wochen im Jahr stockdunkel ist. Und auf jeden Fall im Bett angenehmer. Brägel legt allerdings auch gar keinen Wert darauf, dass wir uns ihm anschließen. Da er aber ohne uns einen gewaltigen Trainingsvorsprung herausradeln würde, müssen wir natürlich mit. Alles andere geht gar nicht. Und so trifft sich zwei Tage später ein Haufen elender Gestalten mitten in der Nacht vor dem Clubheim. Es nieselt ein wenig. Brägel hat an seinem Rad einen gefühlt 1.000 Watt starken Strahler montiert, der hektisch flackert wie ein Diskostroboskop. Seine Klamotten werden von weißen Leuchtstreifen durchzogen, die ihm das Aussehen eines geröntgten Zebras verleihen. Quer über das Kinn ziert Brägel zudem ein dickes Pflaster, weil er beim Rasieren noch nicht richtig wach war. Einige andere offenbar auch noch nicht. Der Präsident trägt das Trikot seiner Frau, das ihn in eine pinkfarbene Presswurst verwandelt, was man zum Glück aber nur in Brägels Strobo-Gewitter sieht. Der alte Hans steht still und schweigt. Im fahlen Licht einer Straßenlampe erkennt man aber, dass er heute eine ziemlich faltige Unterlippe zur Schau trägt. Wahrscheinlich liegen die Beißerchen noch im Glas. »Morgenstund hat Gold im Mund«, ruft Brägel. »Wo ist ein Hund?«, nuschelt der alte Hans. Tatsächlich – unten keine Zähne.


Pünktlich um 05:30 Uhr fahren wir los. Brägel mit seiner Lightshow vorneweg, der alte Hans am Ende, weil auch er ein leistungsstarkes Licht am Rad hat. Wir anderen mit unseren Billigfunzeln vom Baumarkt-Wühltisch in der Mitte. Die Straße ist leer, auf dem Weg aus der Stadt begegnet uns nur der Zeitungsausträger, der erst schaut, als hätte er ein UFO gesehen, und sich dann an die Stirn tippt. Kurz danach sind wir auf der kurzen Trainingsrunde. Nach fünf Kilometern haben sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt, es rollt eigentlich ganz anständig. Aber nur bis kurz nach sechs. Es ist zwar immer noch stockdunkel, aber plötzlich nähern sich uns aus der Wiese neben der Straße hüpfende Lichtpunkte, die von schrillen Pfiffen begleitet werden. »Achtung, Hunde!«, brüllt Brägel und bremst. Tatsächlich – kurz darauf stehen zwei freundlich wedelnde Fellbündel mit Blinkhalsband vor uns. Einer pinkelt Brägel ans Vorderrad, der andere versucht, den Präsident im Gesicht zu schlecken. Plötzlich taucht eine Frau auf, die aussieht, als hätte sie nie und nimmer um diese Zeit mit Sozialkontakt gerechnet. Gummistiefel, darüber einen Parka, unter dem etwas herausragt, das wie ein Nachthemd aussieht. »Ich muss ja morgens raus, aber ihr«, sagt sie, leint ihre kleinen Strolche an und trollt sich. Der Präsident will sie wegen der Hunde noch beleidigen, aber wir halten ihn zurück. Sie hat ja recht.

Wir fahren weiter über so gut wie autofreie Straßen. Es rollt gut, und um 07:00 Uhr sind wir wieder am Clubheim. Es dämmert, wir haben 37 Kilometer mehr auf dem Zähler und fühlen uns tatsächlich sehr gut. »Das ist doch ein geiler Start in den Tag«, jubelt Brägel.

Ein Thema auf Dauer ist es trotzdem nicht. Der Euphorie folgte nämlich das 15-Uhr-Loch, in das alle todmüde purzelten. Und die allermeisten am Arbeitsplatz. Brägel berichtete zudem von familiärem Ärger, weil er, aufgeputscht vom Sport, sich seiner Gattin in einer Art nähern wollte, für die Viola um kurz nach sieben null Verständnis zeigte.

Und den zahnlosen alten Hans hält man auch nicht wirklich aus. Also – Morgentraining ja, aber höchstens einmal im Monat.

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