Читать книгу Bildungsgeographie - Jürgen Schmude - Страница 10
2.1 Bildung als disziplinübergreifender Forschungsgegenstand
ОглавлениеVielseitiges Forschungsinteresse
Die an der Bildungsforschung beteiligten Disziplinen haben ein breites Spektrum von Ansätzen zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit bildungsbezogenen Fragen hervorgebracht (Abb. 2.1). Das Forschungsinteresse ist vielseitig und setzt an unterschiedlichen Stellen an. Teils geht es um individuelle, teils um innerschulische und teils um außerschulische Aspekte der Teilhabe an Bildung und des Erwerbs von Bildungsabschlüssen.
Beiträge verschiedener Disziplinen
Von den wissenschaftlichen Disziplinen, die zur Bildungsforschung beitragen, wurden in verschiedenen Fällen eigenständige Bildungstheorien hervorgebracht. Dies betrifft insbesondere die Erziehungswissenschaften, Pädagogik, Psychologie sowie die Didaktik und Kompetenzforschung. Auch in der Soziologie sind bildungsbezogene Theorien entstanden, die sich u.a. auf Fragen der Bildungsbeteiligung, des Bildungserfolgs sowie des Erwerbs von Bildungsabschlüssen beziehen (LÖW 2003; Textkasten zu Bourdieu; Kap. 4.2). Zu den theoretischen Ansätzen, die in den Wirtschaftswissenschaften entwickelt wurden und Eingang in die Bildungsforschung gefunden haben, zählen z.B. die Humankapitaltheorie, Bildungsökonometrie und Regionalökonomie (Kap. 4.4, 4.5 und 4.6). Des Weiteren nimmt Bildung in den politischen Wissenschaften (REUTER 2014; Kap. 4.3) sowie in der Entwicklungs- und Migrationsforschung eine wichtige Rolle ein (Kap. 4.4 und 4.5). Letzteres zeigt sich z.B. am besonderen Stellenwert, der Aspekten von Bildung, Wissen und Qualifikation in Entwicklungstheorien beigemessen wird. Auch im Bereich von Planung und Raumplanung werden bildungsbezogene Fragen aufgegriffen, wenn es beispielsweise um die Zulassung von Schulgründungen unter Berücksichtigung des Versorgungsprinzips in der Raumordnung geht (Kap. 4.1).
Disziplinübergreifende Kooperation
Eine besondere Herausforderung für die disziplinübergreifende Bildungsforschung liegt darin, einen interdisziplinären Austausch zu fördern. Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Ein geeigneter Ansatzpunkt besteht darin, dass die bildungsbezogenen Teildisziplinen (Bildungsgeographie, Bildungsökonomie, Bildungssoziologie etc.) als Schnittstellen zwischen der interdisziplinären Bildungsforschung und ihrer jeweiligen Kerndisziplin wirken. In diesem Sinne hat beispielsweise die Bildungssoziologie die Aufgabe, geeignete Impulse aus der Soziologie in die Bildungsforschung hineinzutragen und umgekehrt auch bildungsbezogene Themen in die Soziologie einzubringen und dort zu entwickeln (Abb. 2.1).
Der Soziologe Pierre Bourdieu (1930–2002) hat eine Theorie entwickelt, die in der Humangeographie intensiv rezipiert wurde und für die Bildungsgeographie geeignete Ansätze zur Erklärung von Unterschieden im Hinblick auf Bildungsteilhabe und Bildungserfolg bietet (BOURDIEU 1983). Demnach können sich Akteure und soziale Gruppen Kapital sowohl in materieller Form als auch „in verinnerlichter,,inkorporierter Form aneignen“ (BOURDIEU 1983, S. 183). Bourdieu unterscheidet insgesamt vier Sorten von Kapital: ökonomisches Kapital, das z.T. direkt in Geld konvertierbar ist, kulturelles Kapital, soziales Kapital und symbolisches Kapital, wobei sich sämtliche Kapitalarten in ökonomisches Kapital umwandeln lassen. Aus bildungsgeographischer Sicht ist vor allem das kulturelle Kapital von Interesse, das sich „besonders zur Institutionalisierung in Form von schulischen Titeln“ eignet (BOURDIEU 1983, S. 184). Es kann nach Bourdieu in inkorporiertem, d.h. verinnerlichtem Zustand, in objektiviertem Zustand (in Form von kulturellen Gütern, Büchern o.Ä.) oder in institutionalisiertem Zustand „einer Form von Objektivation“ (BOURDIEU 1983, S. 185) vorliegen, wie dies bei schulischen Abschlüssen der Fall ist. Mit dem Ansatz des kulturellen Kapitals erklärt Bourdieu auch die ungleichen Bildungserfolge von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft. Dabei betont er die Bedeutung der „Transmission kulturellen Kapitals in der Familie“ (BOURDIEU 1983, S. 186), was die strukturelle Reproduktion sozialer Ungleichheiten und damit eine Stabilisierung der bestehenden Unterschiede zur Folge hat. Darüber hinaus ist dieser Theorie zufolge der „ökonomische und soziale Ertrag des schulischen Titels von dem ebenfalls ererbten sozialen Kapital [abhängig]“ (BOURDIEU 1983, S. 187). Die Transformation der Kapitalsorten ist ein wesentliches Merkmal dieses Konzepts, demzufolge erworbenes institutionalisiertes kulturelles Kapital in Form von Schul-, Hochschul- oder Berufsabschlüssen auf dem Arbeitsmarkt in eine gut dotierte, machtvolle und angesehene berufliche Position (u.a. symbolisches Kapital) konvertiert werden kann. Insofern lassen sich sowohl die Reproduktion von sozialer Ungleichheit im Bildungserwerb als auch deren Folgen für den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt mit dem soziologischen Ansatz von Bourdieu besser verstehen.
Abb. 2.1: Bildungsforschung als disziplinübergreifendes Arbeitsgebiet
Eine disziplinübergreifende Zusammenarbeit wird häufig durch Hindernisse erschwert. Missverständnisse und Komplikationen können auftreten, wenn in den einzelnen Disziplinen verwendete Begrifflichkeiten, Konzepte und Theorien für die Kooperationspartner unbekannt oder mit anderen Bedeutungen belegt sind. Um einen gemeinsamen Bezugsrahmen zu schaffen, empfiehlt es sich für die Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Fächer, einen gemeinsamen thematischen oder empirischen Rahmen zu vereinbaren und in konkreten und klar abgrenzbaren Projekten zu kooperieren.
Bedeutung räumlicher Zusammenhänge
Ein weiteres verbindendes Element zwischen den verschiedenen Disziplinen der Bildungsforschung besteht in einer zunehmenden Sensibilisierung für die Bedeutung räumlicher Zusammenhänge. Dieser als spatial turn bezeichnete Trend war in den vergangenen Jahren auch für andere Bereiche der Sozial- und Kulturwissenschaften prägend. In diesem Zusammenhang hat die Geographie und insbesondere die Humangeographie verstärkte Aufmerksamkeit erfahren, da sie sich als wissenschaftliche Disziplin seit langer Zeit intensiv mit Raumkonzepten und dem wechselseitigen Verhältnis zwischen Mensch und Raum befasst. Im Rahmen der interdisziplinären Bildungsforschung kommt der Bildungsgeographie demzufolge die besondere Aufgabe zu, die Zusammenhänge von Bildung und Raum empirisch-methodisch zu untersuchen wie auch theoretisch-konzeptionell zu ordnen und zu reflektieren (Kapitel 3).