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3.3.2 Erweiterung des Bildungsbegriffs

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Ein erweitertes Verständnis von Bildung, das nicht auf die in Schulen oder Hochschulen vermittelten Lerninhalte sowie die dort erworbenen Qualifikationen und Abschlüsse beschränkt bleibt, gewinnt seit einigen Jahren auch in der Bildungsgeographie an Bedeutung. Daher kann das in Kapitel 2.2 beschriebene Bewusstsein für einen komplexen und disziplinübergreifenden Bildungsbegriff als richtungsweisend für die aktuelle bildungsgeographische Forschung angesehen werden.

Knowledge and Space

Deutlich wird die Erweiterung des Bildungsbegriffs auch darin, dass aus der Bildungsgeographie seit Ende der 1990er-Jahre eine eigenständige Geographie des Wissens (geography of knowledge) hervorgegangen ist und sich parallel dazu eine Geographie der Wissenschaft (geography of science) formierte. Dabei haben sich das Geographische Institut der Universität Heidelberg und insbesondere der dortige Lehrstuhlinhaber Peter Meusburger als treibende Kraft erwiesen. Aufbauend auf die von ihm initiierte Hettner-Lecture (1997–2006) veranstaltet Meusburger unter dem Titel Knowledge and Space eine Reihe von Symposien mit internationalem und disziplinoffenem Zuschnitt. Es geht bei diesem Ansatz in erster Linie darum, verschiedene Dimensionen von Wissen (z.B. religiöses Wissen, Zusammenhänge von Wissen und Macht) in einer dezidiert raumbezogenen Perspektive zu erfassen (MEUSBURGER 2000, 2005 und 2015b; JÖNS 2003). Da diese Forschungsrichtung nicht im engeren Bereich der Bildungsgeographie liegt, beschränken sich die Ausführungen in diesem Lehrbuch auf diesen Absatz und den Textkasten zur Geographie des Wissens.

Die Geographie des Wissens (bzw. geography of knowledge) befasst sich mit der Untersuchung von raumbezogenen Unterschieden bei der Entstehung, Verbreitung und Anwendung verschiedener Arten von Wissen. Dem englischsprachigen Eintrag von MEUSBURGER (2015b, S. 91) in der International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences zufolge richtet sich das Forschungsinteresse auf die Räumlichkeit von Prozessen des Lernens und Problemlösens sowie auf die Auswirkungen von Orten, räumlichen Beziehungen, lokalen Milieus, politischen und sozioökonomischen Strukturen auf die Entstehung und Verbreitung von Wissen. Es werden die Ursachen für raumbezogene Ungleichheiten des Wissens und deren Implikationen für Wirtschaft und Gesellschaft untersucht. In verschiedenen Forschungsarbeiten werden die Beziehungen zwischen Wissen und Macht, Wissen und Wettbewerbsfähigkeit, Wissen und Migration sowie ethnische und kulturelle Dimensionen des Wissens und andere Themen mit Bezug zu den räumlichen Disparitäten des Wissens betrachtet (MEUSBURGER 2015b, S. 91).

Non-formale Bildung und informelles Lernen

Neben verschiedenen außerschulischen und außeruniversitären Formen von Bildung, die insbesondere auch die kulturelle Dimension von Bildung berücksichtigen, entwickelt sich in Großbritannien unter dem Namen new geographies of education and learning (HOLLOWAY et al. 2010; HOLLOWAY & JÖNS 2012) ein bildungs- und sozialgeographischer Ansatz, der neben räumlichen Aspekten formaler Bildungsprozesse und -institutionen auch die nonformale Bildung und das informelle Lernen stärker in den Blick rückt. In diesem jungen Forschungsfeld fließen Untersuchungen der angelsächsischen Bildungsgeographie (geography of education) mit Ansätzen der Geographien der Kinder und Jugendlichen (children’s geographies) zusammen. Vor dem Hintergrund eines erweiterten, ganzheitlichen Bildungsverständnisses richten sich diese Arbeiten auf die spezifische räumliche Dimension bzw. die Einwirkungen des räumlichen Settings von Lernorten im weitesten Sinne auf die Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen. Hierbei verlagert sich der Blick vom institutionalisierten Rahmen des staatlichen Schulwesens hin zu anderen Räumen und Orten, an denen sich Bildungs- und Lernprozesse bei Kindern und Jugendlichen beobachten lassen. So widmet sich beispielsweise KRAFTL (2013) in seinem Buch über geographies of alternative education der geographischen Erforschung von Reformschulen, aber auch dem in Großbritannien verbreiteten Phänomen des homeschooling. Arbeiten aus dem Bereich der children’s geographies befassen sich vor allem mit informellen Lernprozessen, wie sie beispielsweise auf dem Schulhof, dem Spielplatz oder einfach auf der Straße stattfinden (MILLS & KRAFTL 2014).

Fokussierung auf handelnde und lernende Subjekte

Damit findet in der angelsächsischen geography of education and learning eine Verlagerung der Aufmerksamkeit von den Bildungsinstitutionen hin zur Beobachtung der Lernprozesse in der kontinuierlichen Auseinandersetzung von Kindern und Jugendlichen mit ihrer jeweiligen materiellen Umwelt statt. Anders ausgedrückt verschiebt sich der Blick von den Bildungsinstitutionen und Orten zu den handelnden und lernenden Subjekten. Damit nähert sie sich Fragestellungen an, die – unter Rezeption pädagogischer Theorien, beispielsweise nach KLAFKI (1975) – traditionell in der geographiedidaktischen Forschung verankert waren: Wie eignen sich Kinder und Jugendliche Räume an? Welche Lernprozesse finden durch die Auseinandersetzung mit der materiellen und sozialen Umwelt statt?

In der deutschsprachigen Geographie steht die Geographie der Kinder und Jugendlichen trotz interessanter Einzelarbeiten (BENKE 2004; BAUER 2010; SCHREIBER 2014) noch am Anfang ihrer Entwicklung. Für die künftige bildungsgeographische Forschung besteht eine wichtige Herausforderung in der stärkeren Berücksichtigung non-formaler und informeller Lernprozesse. Hierbei sollte ein ganzheitliches Bildungsverständnis im Mittelpunkt stehen, dessen verschiedene Dimensionen unter Rückgriff auf Erkenntnisse aus der frühen Bildungsgeographie, der Geographie von Kindern und Jugendlichen sowie der pädagogisch fundierten, geographiedidaktischen Forschung untersucht werden können.

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