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1 Einleitung
ОглавлениеGesellschaftliche Schlüsselstellung von Bildung
Bildungsteilhabe und der Erwerb von Bildungsabschlüssen nehmen – wie kaum ein anderer Bereich des gesellschaftlichen Lebens – eine wichtige Schlüsselstellung in Bezug auf die eigene Persönlichkeitsentwicklung, die Lebenslage und die gesellschaftliche Positionierung ein. Das Bildungswesen hat daher die Funktion einer Schaltstelle. Denn der Erwerb oder Nichterwerb eines Bildungsabschlusses und dessen gesellschaftliche Anerkennung eröffnet oder beschränkt die Möglichkeiten, auf dem Arbeitsmarkt eine Beschäftigung zu finden und damit auch die eigene soziale Stellung. Wenngleich Bildung nicht das einzige maßgebliche Qualifikationsmerkmal für eine Stellenbewerbung darstellt, so werden im Bildungswesen doch wichtige Weichen für den Berufseintritt und den späteren Berufsweg gestellt. Die berufliche Situation wiederum beeinflusst das Einkommen, die gesellschaftliche Positionierung und ist möglicherweise mit sozialer oder räumlicher Mobilität verknüpft. Auch Lebensstile, Werte und Normen sind innerhalb der Gesellschaft nicht unabhängig von Bildung und Beruf angeordnet. Dabei ist es vielen Menschen sicherlich nicht bewusst, in welchem Maße die Teilhabe an Bildung eine grundlegende Orientierung und Prägung für den weiteren Lebensweg darstellt.
Im 18. und 19. Jahrhundert, als in zahlreichen europäischen Staaten die Schulpflicht eingeführt wurde, ging es nicht nur darum, Qualifikationen zu vermitteln, sondern auch um die staatsbürgerliche Erziehung von heranwachsenden Kindern. Kontrolle und Integration sind von Anfang an integrale Bestandteile des Bildungswesens. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb Bildung eine außerordentliche politische Relevanz besitzt und weshalb die Gestaltung des Bildungswesens – einschließlich der Entscheidungen über die Einrichtung von Schul- und Hochschulstandorten, die Beschäftigung von Lehrpersonal sowie den Inhalt von Lehrplänen – einen gesellschaftspolitisch sehr konfliktträchtigen Themenbereich darstellt. Dies zeigt sich gegenwärtig z.B. an den divergierenden Vorstellungen politischer Parteien in Bezug auf die Gestaltung und eine mögliche Reformierung des Bildungswesens.
Bildung und Wissen als ökonomische Ressource
Im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert misst man Bildung und dem Bildungswesen eine besonders große Bedeutung bei. Dies belegt nicht nur die starke Medienaufmerksamkeit, welche die PISA-Studie und andere bildungsbezogene Untersuchungen in jüngerer Zeit erfahren haben, sondern auch die anhaltende Diskussion über die Notwendigkeit einer Reformierung des Schul- und Hochschulwesens sowie die Frage der Finanzierung des Bildungsbereichs. Die Schlagworte „Wissensökonomie“ und „Wissensgesellschaft“ (STEHR 1994) unterstreichen, dass Bildung und Wissen in das ökonomische und gesellschaftliche Leben fest integriert sind. Auf dem Arbeitsmarkt werden zunehmend höhere Qualifikationen verlangt, Wissen wird zu einer ökonomischen Ressource, und in den modernen Industriestaaten zählen wissensintensive Dienstleistungen zu den wichtigsten wirtschaftlichen Wachstumsbereichen, während Arbeitsplätze im primären und sekundären Wirtschaftssektor in andere Erdteile verlagert werden. Mittlerweile werden bereits wissensintensive Dienstleistungen der Länder des globalen Nordens in Schwellenländer z.B. in Südasien ausgelagert, so dass in einigen Jahren vielleicht die Kinder der Schule im Hochland von Sri Lanka (Abb. 1.1) für wissenschaftliche Verlage in Europa tätig sein könnten.
Aktuelle Transformation des Bildungswesens
Das Bildungswesen sollte nicht als ein stabiler gesellschaftlicher Bereich angesehen werden. Auch wenn viele Schulen und Hochschulen auf eine lange Geschichte und Tradition zurückblicken können – und daraus einen hohen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Stellenwert in der Gegenwart ableiten –, so lässt sich doch seit einigen Jahren eine Transformation verschiedener Bereiche des Bildungswesens beobachten. Dies betrifft gleichermaßen die Nachfrage und das Angebot von Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten. Es vollzieht sich in vielen Bereichen eine Diversifizierung, Flexibilisierung und Internationalisierung, gleichzeitig auch eine Ökonomisierung und Privatisierung des Bildungswesens. Diese Prozesse betreffen sowohl die Bildungseinrichtungen als auch die Bildungsteilnehmerinnen und -teilnehmer sowie die Lehrenden. Neben den staatlichen Institutionen bieten zunehmend auch private Akteure Bildungsangebote auf dem wachsenden Bildungsmarkt an. Durch den Wettbewerb werden verschiedene Bildungseinrichtungen geschlossen, während andernorts neue Einrichtungen entstehen. Weiterbildungsprogramme, lebenslanges Lernen wie auch die Angebote von Fernuniversitäten eröffnen neue Perspektiven, die sich mehr und mehr auf digitale Medien stützen. Die internationale Vernetzung von Bildungs- wie auch Forschungseinrichtungen schreitet voran und führt zu einer zunehmenden Mobilität von Lernenden und Lehrenden.
Bildung auch außerhalb von Schulen und Hochschulen
Auch wenn in diesem Kapitel bislang ausschließlich von institutioneller, d.h. an öffentliche oder private Einrichtungen gebundener Bildung die Rede ist, soll nicht der Eindruck entstehen, dass Wissensvermittlung und Bildungsprozesse nicht auch außerhalb dieser Einrichtungen stattfinden können. Darauf verweisen etwa die Begriffe know-how und savoir-faire oder savoir-vivre. Selbstverständlich vollzieht sich die Vermittlung von Bildung und Wissen auch im familiären Kontext, im Freundes- und Bekanntenkreis, im nachbarlichen Austausch und zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern einer Gemeinde oder eines Stadtviertels. Ebenso können Reisen der Bildung dienen, wie schon der Begriff Bildungsreise verdeutlicht. Aber auch ein Abenteuerurlaub, eine Kur oder Wanderferien können zu einem Zuwachs von Erfahrung, Wissen und Bildung führen. Wissen und Bildung sind nicht nur in Bibliotheken, Museen und Theatern zugänglich, sondern auch über moderne Informations- und Kommunikationsmedien, zu denen auch Fernsehen und Internet zählen. Bildung ist im Alltag omnipräsent und kann im weiteren Sinne auch als Ausdruck von Kultur verstanden werden. Wir sind im alltäglichen Leben ständig von einer aus Bildung, Wissen und Kultur bestehenden Bedeutungssphäre umgeben.
Abb. 1.1: Weltkarte im Schulhof in Bandarawela (Sri Lanka) (Foto: Caroline Kramer, 2011)
Disziplinen der Bildungsforschung
Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Bildung fällt zunächst einmal in den Bereich von Pädagogik und Didaktik. Diese Disziplinen setzen sich vor allem mit der Vermittlung von Bildung, dem Bildungserwerb bzw. dem Lernen und Lehren auseinander. Sie beschäftigen sich mit Lehrenden, Lernenden und der zu vermittelnden Bildung bzw. dem aufzubereitenden Wissen oder Lernstoff. Daneben beteiligen sich jedoch auch zahlreiche andere wissenschaftliche Disziplinen an der Bildungsforschung wie z.B. Psychologie, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften. Auch aus geographischer, ethnologischer oder politikwissenschaftlicher Perspektive kann Bildungsforschung betrieben werden. Hinzu kommen unter anderem die Rechts-, Planungs- und Verwaltungswissenschaften. Bei der Bildungsforschung handelt es sich demzufolge um ein pluridisziplinäres Forschungsfeld, in dem verschiedene Disziplinen aktiv sind und miteinander kooperieren. Dabei setzen die einzelnen Disziplinen unterschiedliche Schwerpunkte und bringen spezifische Kernkompetenzen ein, ohne dass sich eine klare Trennung verschiedener Zuständigkeitsbereiche vornehmen lässt. Vielmehr gibt es zahlreiche Überschneidungs- und Ergänzungsbereiche – und oft sind es gerade diese Schnittstellen, an denen es durch disziplinübergreifenden Austausch zu anregenden Beobachtungen, neuen Ansätzen und Erkenntnissen für die Bildungsforschung kommt.
Die Bildungsgeographie vertritt vor allem geographische Ansätze und Perspektiven in der Bildungsforschung. Ihre Kompetenz liegt damit in erster Linie in raumbezogenen Aspekten von Bildungsprozessen, Bildungsverhalten und Bildungsinstitutionen. Dies betrifft beispielsweise die Lage von Bildungseinrichtungen bzw. deren Verteilung oder Anordnung im Raum, wie auch deren Verflechtungen untereinander. Hier ergeben sich einige Anknüpfungspunkte zur Bildungs- und Raum- bzw. Regionalplanung. Weiterhin befasst sich die Bildungsgeographie mit den Auswirkungen von Bildungseinrichtungen im bzw. auf den Raum, z.B. wirtschaftliche Effekte einer Hochschulgründung oder gesellschaftliche Bedeutung einer Dorf- oder Quartiersschule. Auch die Bildungsteilnehmerinnen und -teilnehmer sind von Interesse für die bildungsgeographische Forschung, wenn es etwa um Fragen der Erreichbarkeit und den Zugang zu Bildungseinrichtungen geht. In den vergangenen Jahren hat die human- und kulturgeographische Forschung dazu beigetragen, dass Raum auch als ein von Menschen produzierter oder konstruierter Raum verstanden und wissenschaftlich konzeptualisiert und untersucht werden kann.
Ziele dieses Lehrbuchs
Ziel dieses Lehrbuchs ist es, einen Beitrag zur weiteren Konstituierung einer Bildungsgeographie zu leisten. Dabei stützt sich das Buch auf beinahe 50 Jahre bildungsgeographischer Forschung, die im deutschsprachigen Raum durch Robert Geipel begründet wurde, und knüpft an das umfassende Werk von Peter MEUSBURGER (1998) an. Im vorliegenden Lehrbuch wird eine Vielzahl vorliegender Einzelarbeiten sortiert und strukturiert vorgestellt. Auf diese Weise soll ein anschaulicher Überblick über die bildungsgeographische Forschung vermittelt werden. Dabei geht es in erster Linie um eine Auseinandersetzung mit den vielfältigen Beziehungen zwischen Bildung und Raum. Es sollen aber auch Anknüpfungspunkte zu anderen Disziplinen der Bildungsforschung sowie zu anderen Teilbereichen der Human- und Kulturgeographie aufgezeigt werden. Zudem soll eine Verortung der Bildungsgeographie gegenüber den naheliegenden Forschungsfeldern der Geographiedidaktik sowie der Geographien der Kinder und Jugendlichen vorgenommen werden, die hier nicht vertieft behandelt werden können.
Seit den späten 1990er-Jahren hat sich aus einer bildungsgeographischen Tradition heraus eine inzwischen weitgehend eigenständige Geographie des Wissens (bzw. geography of knowledge) formiert. Im vorliegenden Lehrbuch wird dieser Teilbereich weitgehend ausgeklammert, da der Schwerpunkt nicht auf Wissen, sondern auf formaler bzw. institutioneller Bildung liegt. Die Grundlagen einer Geographie des Wissens wurden von MEUSBURGER (1998) dargestellt und seitdem in zahlreichen Publikationen vertieft. Ein Teil dieser Arbeiten ist im Zusammenhang mit den Heidelberger Symposien zu Knowledge and Space (http://knowledgeandspace.unihd.de) entstanden, in deren Rahmen sich internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen intensiv über Zusammenhänge von Wissen, Raum und Macht ausgetauscht haben.
Anknüpfungspunkte zum eigenen Erfahrungshorizont
Das vorliegende Buch wendet sich an Leserinnen und Leser aus dem deutschsprachigen Raum. Um den Lesenden geeignete Anknüpfungspunkte zum eigenen Erfahrungshorizont zu bieten, werden zahlreiche Beispiele aus dem deutschsprachigen Kontext verwendet. Damit jedoch deutlich wird, dass dieser Bezugsrahmen keineswegs universellen Charakter besitzt, werden immer wieder auch andere Räume der Erde exemplarisch in die Betrachtungen einbezogen. Auf diese Weise soll eine vertiefende Auseinandersetzung mit Bildung und Bildungswesen im deutschsprachigen Raum erreicht und zugleich eine verstärkte Sensibilisierung für bildungsbezogene Vernetzungen, aber auch Brüche und Unterschiede im globalen und transnationalen Rahmen erzielt werden.
Bildungsgeographie in deutschsprachiger Tradition
Im Mittelpunkt dieses Lehrbuchs und der darin vorgestellten Forschungsansätze steht die Bildungsgeographie in deutschsprachiger Tradition. Diese dient als Ausgangspunkt, um themenbezogen auch internationale (vorwiegend englischsprachige) Literatur einzuarbeiten und entsprechende Verweise herzustellen. So wird deutlich, dass es durchaus einige Verbindungen zwischen den verschiedenen Forschungsansätzen gibt, dass aber auch je nach sprachlichem und kulturellem Bezugsrahmen andere Schwerpunkte gesetzt werden.