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10. Kindheit am Krawitzerhof
ОглавлениеAls Marion noch klein war, hat Oma die Küche mit Leben erfüllt. An ihre Mutter kann sie sich kaum mehr erinnern. Eine musikliebende und fröhliche Frau wäre sie gewesen. Erzählte Oma. Doch irgendwann vergeht jeder das Lachen, wenn der Mann so viel säuft. Eines Tages wäre sie mit einem Gitarristen durchgebrannt, so einem hageren John Lennon-Typ.
Danach ist Oma zu ihnen ins Haus gezogen. An ihrem bunten Haushaltskittel konnten sich Marions Kinderhände wunderbar festhalten. Auf ihren Schoß durfte sie sich flüchten, wenn der Vater getrunken hatte. Oma roch wie die Küche, nach ausgelassenem Schweinefett, Milch und frischer Hefe.
Sie war immer am Backen, Kneten und Rösten. Mit ihren Küchenerzeugnissen versorgte sie nicht nur Marion und den Vater, sondern das halbe Dorf: würziges Bauernbrot, fettige Krapfen, dampfende Striezel,… Während ihr Sohn, dieser Nichtsnutz, seinen Weltschmerz in Wein ertränkte.
Immer wieder gab es deshalb Streit. Oma zischte und fuhr mit ihrem Zeigefinger drohend durch die Luft. Als wollte sie den Vater damit aufspießen. Er saß ganz hinten im Eck und ließ den Fingertanz widerspruchslos über sich ergehen. Bis zu dem Moment, an dem es aus ihm heraus brach. Dann sauste seine Faust mit aller Wucht auf den Esstisch hernieder. Der hüpfte ein Stück weit in die Luft, und der Salzstreuer fiel mit lautem Poltern um. Vater schrie Oma ins Gesicht, dass sie jederzeit gehen konnte, wenn es ihr in seinem Haus nicht passte. Das ganze Frauen-Pack, sie würden ihn doch sowieso verlassen!
Marion mochte das nicht hören. Schnell lief sie aus dem Haus und hockte sich zum alten Zwetschkenbaum ins Gras. Presste ihre Hände gegen die Ohren, bis sie tief drinnen im Kopf etwas rauschen hörte. Es waren vielstimmige, wunderschöne Gesänge, deren Bedeutung sie nicht verstand. Wie samtig-dunkles Wasser flossen die Klänge in ihren Körper und es war so angenehm mitzusummen. Bald ließ sie ihrer Stimme freien Lauf und das Ziehen in der Brust ließ nach.
*
Es ist still gewordendie Flamme ausgetretensprachlos verwundetFerne ist wieder fernder Spiegel verschleiertsprachlos verwundertIch mache es wie die verstorbene Naturund lasse mich ein ums andere Malvom frischen Frühlingsfrieden erwecken* Eines Tages war Oma tot, einfach so, ohne Vorwarnung. Gerade hatte sie noch mit dem Holzlöffel im Hollerkoch gerührt - und aus war es mit ihr. Der Vater zog seinen einzigen Anzug an und Marion ihr schönstes Kleid. So gingen sie Hand in Hand hinter dem Sarg her, den schmalen Weg zum Friedhof hinauf, und trauerten um Oma. Dahinter kamen mit etwas Abstand die Nachbarn. Und trauerten um Omas Kuchen und Striezel.
Der Vater gelobte, vom Wein abzulassen. Bald schon würden sie zusammen Urlaub machen an der Adria. Das hatte er damals schon seiner Frau versprochen. An der Adria wäre es immer schön warm und sie könnten jeden Morgen Muscheln suchen. Noch ein bisschen sparen, und dann würde er ganz sicher mit Marion hinfahren. So war der Plan. Doch der Alltag brachte den Weltschmerz zurück, und dem Weltschmerz folgte unweigerlich der Wein. Der Vater ließ sich gehen, das Anwesen verlotterte und Omas Küche wurde ein trostloser Ort.
Meist konnte Marion dem Vater ausweichen, mit seinem aufgedunsenen Gesicht und den feuchten Augen. Nach der Schule trieb sie sich in der Gegend herum, erledigte ihre Hausübungen an der Bushaltestelle. Kletterte auf Bäume oder baute sich Häuschen beim Fluss. Doch irgendwann geht jedem Tag das Sonnenlicht aus und dann brüllte in Marions Bauch ein Tiger.
Es war der Hunger, der sie nach Hause zog, hinein in die Küche. Vater saß an der Eckbank. Mit seinen blauen Latzhosen, die behaarten Unterarme auf der Tischplatte abgestützt. Der Wein war in seinen Geist eingedrungen und hatte dort ein großes Durcheinander angerichtet. Manche Gehirnbereiche schienen lahm gelegt, andere wiederum völlig falsch verdrahtet.
Marion sah ihrer Mutter ähnlich, das musste man schon zugeben. Dem Vater fiel es zunehmend schwer, die beiden auseinander zu halten. Dann schrie er Marion an. Du Luder! Wo sie die ganze Zeit gewesen wäre und dass sie ihn nie wieder verlassen dürfte. Manchmal zog er sie mit auf sein Zimmer und legte sich schwer auf sie. Doch sein Glied war welk vom vielen Alkohol. Das machte ihn rasend. An anderen Tagen kroch er winselnd am Boden umher. Bat auf Knien, dass sie ihn nicht verlassen dürfte. Sonst bliebe ihm nichts anderes übrig, als sie einzusperren. In den Erdkeller, wo es kein Fenster gab.
Wenn er dann zu schnarchen anfing, schlich sich Marion leise in die Küche zurück und suchte nach Essbarem. Manchmal fand sich ein Stück Brot oder ein Kännchen Milch oder doch noch ein Einmachglas von Oma in der Vorratskammer. Damit trat sie vors Haus und setzte sich zum Zwetschkenbaum ins Gras.
Es war nichts in ihr: keine Trauer, kein Hass, keine Ablehnung. Da war bloß ein Körper, ein Obstbaum und die Nacht, die sich langsam herabsenkte. Und manchmal legte sie sich zu den zwei Kühen auf die Weide, streichelte über ihr braunes Fell und summte leise vor sich hinein. Und die Kühe blickten sie mit ihren dunklen, großen Augen an. Mit den langen Wimpern. Mit ihren wunderbaren, ruhigen und gütigen Augen. Dann und wann raspelte eine Zunge über ihren Oberarm. Blies ihr ein Kuhatem ins Gesicht. Er roch nach Wärme und Kräutern, und der Gesang des dunklen Flusses setzte wieder ein.
*
steinalte Lebensmelodiendurchmurmeln monotonmeine inneren Gänge da, aufgeschreckt!kreuzt, blendet, freut sichsucht schon wieder? innehalten und fortwährend ach, zurücksinken in den entlegenen Stromaller endlosen Prozesse* Eigentlich hätten es die Nachbarn wissen müssen. Eigentlich hätte die Lehrerin etwas tun sollen oder jemand in der Gemeinde. Denn Marion sah schon eine Weile schmutzig und hungrig aus. In der Schule hatte sie kein Pausenbrot dabei. Nur Äpfel von der Obstwiese. Von der Lehrerin wurde sie einige Male ausgeschimpft, weil sie weggeworfene Essensreste aus dem Mistkübel fischte.
Und dann blieb Marion plötzlich ganz von der Schule weg. Das war in den vergangenen zwei Schuljahren noch nie vorgekommen. Aber die Leute im Dorf wollten sich nicht einmischen in fremde Angelegenheiten. „S‘hod do a jeda g‘nua z‘doa mid de eignen Soch‘n.“ Ging niemanden etwas an, was der Krawitzer-Bauer da auf seinem Hof für einen Saustall hatte.
Es waren die Kühe, die Marion retteten. Sie schrien sich die Kehle heiser, weil sie dringend gemolken werden wollten. Das war überfällig. So laut war ihr Brüllen, dass der Jäger doch kurz vorbei schaute. Er sah die prallen Euter, die hervortretenden Adern und wie die Kühe die Köpfe herumwarfen vor Schmerz.
Da formte der Jäger mit seinen Händen einen Trichter und begann, laut zu rufen. Zuerst suchte er hinter dem Haus, in der Werkstätte und Scheune. Dann in der Stube, in der Dachkammer und schließlich fand er ihn. Von einem Dachbalken im hinteren Eck der Scheune baumelte der Krawitzerbauer.
Trotzdem dauerte es nochmals einige Stunden, bis die Nachbarn auch an Marion dachten. Ja, wo war denn das Kind geblieben? Eine Suchaktion wurde gestartet, auch im umliegenden Wald. Immer mehr Dörfler beteiligten sich. Bis sich die Guggenbichler an den Erdkeller erinnerte. Dort lag sie, zusammengeringelt unter ein paar Jutesäcken.
Man kann von Glück reden, dass in dem Erdkeller Rüben eingelagert waren. Verhungert ist Marion also nicht. Verdurstet auch nicht, denn die Wände des Kellers waren feucht. „Oba des kloane Diandl, so alloa im Finstan.“ Sagten die Nachbarn. Es wird wohl nicht so einfach gewesen sein für das Kind, weswegen es jetzt partout nicht sprechen wollte. Obwohl doch alle ganz gespannt auf ihren Bericht warteten. Warum um Himmels willen hat der verrückte Krawitzerbauer so etwas Abscheuliches getan? Sein eigenes Kind in ein Erdloch zu sperren!
Doch Marion blieb stumm, aus ihr war nichts herauszuholen. Saß bloß da wie ein Sack Knochen.Den Nachbarn wurde schon mulmig zumute. „Ob da Deifi ia Söh o´ghoid hod?“ Sie tauschten verstohlene Blicke. Oder sahen zu Boden. Vor allem wenn es um die Frage ging, was nun mit dem Kind passieren sollte. Ob jemand bereit wäre, die Kleine aufzunehmen. „De warad jo a xunds Diandl.“ Wenngleich etwas mager, doch mit Erbschaft. Ein Wohngebäude mit Werkstatt, Stall und Scheune, dazu der Wald und die Wiesen rundherum.
Viel wurde über die Tragödie getuschelt. In der Trafik, am Markt und beim Wirten nach dem sonntäglichen Kirchgang. In so einem kleinen Ort passiert es schließlich nicht alle Tage, dass sich jemand aufhängt. Es war dann Pater Eckhardt, der ein Machtwort sprach. Das Kinderheim im Nachbarort. Ja, warum hatten sie nicht früher daran gedacht? Allgemeines Aufatmen, man konnte sich wieder in die Augen sehen.
Die Bäckersfrau schubste das Mädchen ins Auto. Ihr rundes Gesicht glänzte vor Aufregung, als sie die Annehmlichkeiten des zukünftigem Zuhauses beschrieb. Ein sauberes Bett. Jeden Tag eine warme Dusche. Viele neue Freunde. Und das Wichtigste: dreimal täglich Mahlzeiten. Denn bekanntlich hält Essen Leib und Seele zusammen.
Marion hörte nicht zu. Da saß ein knochiger Körper auf der Rückbank eines Autos. Vorne ein Wortschwall aus dem rosigen Gesicht der Bäckerin. Etwas Mehl an der Wange. Es staubte, wenn sich der Mund bewegte. Knochige Mädchenhände, die sich an eine gelbe Tasche klammerten. Der Geruch von Kernseife, mit der die Bäckerin den verkrusteten Körper am Abend abgerieben hatte. Die hellbraunen Perlen einer Rosenkranzkette, die langsam durch die dicht behaarten Finger von Pater Eckhardt glitten. Auf seinem Bauch ein kleines Holzkreuz, das sich bei jedem Atemzug hob und senkte.