Читать книгу Marion und Humbold - Julia Gruber - Страница 14

12

Оглавление

Marion saß im Dunkeln und schabte mit den Vorderzähnen an den Rüben. Und als es nach einiger Zeit keine mehr gab, erfand die Freundin Lieder für sie. Dann sangen sie über die braven Kühe draußen auf der Weide und den knorrigen Zwetschkenbaum. Vom warmen Adriastrand und der Schönheit der Zahlen.

Als Marion keine Kraft mehr zum Singen hatte, erzählte ihr die Freundin von den Windgeistern: Kannst du sie hören? Bei jedem Einatem reiten die wilden Gesellen nach Hause in ihren Palast. Zuerst springen sie in deine Nase und brausen dann über die Klippen und inneren Gänge deinen Hals hinunter.

Dann geht es tiefer in die Brust und dabei schubsen die Windgeister alle Organe zur Seite, die ihnen in die Quere kommen. Sie dehnen sogar deine Haut in alle Richtungen aus, damit sie mehr Platz haben. Am Ende landen sie in deinen Bauch, dem geheimen Versammlungsort.

Hier ruhen sie sich für einen Moment aus. Doch schon bald beginnt der erste zu zappeln - sie können einfach nicht still sitzen. Und ehe es dir bewusst wird, reiten die Windgeister wieder aufwärts. Lassen den Bauchraum in sich zusammensacken wie einen leeren Blasebalg und jagen als unaufhaltsame Meute deinen Brustkorb hinauf. Um sich schließlich säuselnd aus deinen Nasenhöhlen zu verabschieden. Ein Naturereignis, ein Spektakel! Meinte die Freundin und konnte nicht genug davon kriegen, die Vorgänge genauestens zu beschreiben.

Eines ließ sich jedoch nicht leugnen: Marion wurde zusehends schwächer. Da brachte ihr die Freundin eine Gämse vorbei. Ein richtige Gämse aus den Alpen, wie sie auf dem Wandkalender in der Küche zu sehen war. Mit den freundlichsten Augen der Welt. Auf ihr durften die Freundinnen reiten, und gemeinsam besuchten sie die Kühe draußen auf der Weide. Die beiden waren schon ganz desperat wegen ihrer angeschwollenen Euter. Adern traten aus der Hautoberfläche hervor, gleich Flussläufe einer samtigen Landschaft. Marion versuchte, die Kühe zu beruhigen. Kraulte sie hinter den Ohren und streichelte ihr Fell.

Dann ritten die Mädchen quer über die Felder zur Schule. Dort entdeckte Marion etwas Sensationelles: Sie konnte tatsächlich durch Wände gehen, und zwar direkt hinein ins Klassenzimmer. Dort saßen sie alle: der fleißige Hans, die Bäckerstochter Lilli, der Schober-Michl. Max wie immer in der letzten Reihe. Versuchte gerade, Renate mit kleinen Papierkügelchen aus seinem Blasrohr zu treffen.

Marion winkte ihren Klassenkollegen zu. „Schaut her, ich kann durch Wände gehen!“ Doch niemand reagierte. Die Lehrerin unterrichtete weiter, als wäre nichts geschehen. Marion setzte sich an ein freies Pult. Verschiedene Winkelarten standen am Programm. Für Marion lösten sich die Übungsbeispiele fast wie von selbst. Als die Schulstunde vorbei war, kam Geschichte an die Reihe. Das war wiederum nicht so ihr Fall. Was gingen sie fremde Herrscher an, die schon längst verstorben waren? Ein Großteil Despoten und Mörder. Da schwang sich Marion lieber wieder auf den Rücken der Gämse und gemeinsam unternahmen sie einen Ritt durch die Wolken bis ins Gebirge.

Sie landeten auf einer sonnigen Almmatte, zwischen Geröll- und Latschenfeldern. Dort gab es weitere Gämsen. Sie grasten an Kräutern und Flechten, bissen Knospen und junge Triebe von den Sträuchern. So friedlich war der Ort, die beiden Mädchen ließen sich im Gras zwischen den Tieren nieder.

Schließlich wurde Marion von einer Schnauze angestupst: Die Gämse mahnte zum Aufbruch. Gemeinsam ritten sie in ein Tal, in dem sich ein breiter Fluss schlängelte. Schwarzes Wasser, darüber ein feiner Gesang. Marion kam alles seltsam vertraut vor. Die Stimmen sangen voller Inbrunst vom Schicksal der Menschen, von Leidenschaft, Hoffnung, Liebe und Respekt. Eine Welle entsprang dem Fluss. Sie reichte Marion die Hand und deutete ihr zu folgen. Ja, das wollte sie: sich hineingleiten lassen und der Strömung ergeben.

*

Forme deine Gedanken wie Tongefäßein die ich Leben eingießesammle die Kräfte für deine InnenschauVernunft, Wille, ein Bett voll Rosenblüten reich bedecktdie Musik des Herzensdie leise Stimme der Liebedie Frische der OffenheitUnd Kraft durch die Zweifel vergangener Tagedie Bäche der Sehnsucht, leicht wehende Klage im Winddie Stirne wird weiter – und ohne Haltbis ins Unendliche verflossen die Rhythmen des LebensNichts ist mehr starr alles vergangenverträumt und wieder aufgestiegenversilbert im Glanz der aufgehenden EwigkeitUnd nackt vor dem Abgrund der beginnenden Wahrheittrunken und taumelnd vor Nüchternheit und zärtlichder Abschied zum Neubeginn* Rumms! Flog die Türe auf. Schrecklich laut war das. Und gleichzeitig weit, weit entfernt. Hände, Schritte, Stimmengewirr… ein Schwall aus blendend weißem Licht. Woher die Helligkeit? Licht auf der Haut, brannte in den Augen. So viele Gesichter, rätselhafte Worte. Die Melodien des Flusses verstummten. Die Gämse legte zum Abschied ihre schlanke Schnauze an Marions Wange. Oder waren es die Hände der Bäckerin? Alle redeten auf sie ein. Es ist gut, sagte Ines. Jetzt ist alles gut.

Marion und Humbold

Подняться наверх