Читать книгу Marion und Humbold - Julia Gruber - Страница 3
1. Bei Theuscher & Söhne
Оглавление*sickere durch dein herz gerufenins neulandwie altbekanntzeitgekeltertausgenüchtertmakellos meines birgtdeines* Der Kragen von Marions Mantel war nach innen eingeschlagen. Zu blöd, schon fließt ein dünnes Rinnsal zwischen ihren Schulterblättern den Rücken hinunter. Sie fühlt sich unwohl, das Unterhemd klebt an der Haut. Vorne beim rechten Schuh dürfte außerdem eine undichte Stelle im Leder sein. Die Fußspitze fühlt sich nass an. Marion bewegt ihre Zehen im Schuh. Dann hebt sie den Blick und späht die grau verschleierte Landstraße entlang. Jetzt sollte er aber kommen, der Bus.
Die Tasche hält Marion eng an ihren Mantel gedrückt. Sie enthält alle notwendigen Unterlagen für den nächsten Schritt: das Kündigungsschreiben und die Bestätigung vom Amtsarzt. Seit gestern ist sie offiziell krank geschrieben und somit wird das heute ihr letzter Tag bei Theuscher & Söhne. Vier Jahre hat sie dort gearbeitet. In der Buchhaltungsabteilung, mitten im Reich ihrer geliebten Zahlen. Noch weiß niemand von ihrer Kündigung. Auch Humbold nicht, und das ist gut so.
Sie atmet flach. Malt mit ihrem Zeigefinger imaginäre Zahlen auf ihr Hosenbein, einfach zur Beruhigung. Sie erinnert sich an den Tag ihrer Abreise nach Norddeutschland. Vor acht Jahren ist es gewesen, kurz nach Viktors Tod. Sie alleine und viel zu früh am Bahnhof. Zum Zeitvertreib hat sie sich ganz vorne hingestellt, ans äußerste Ende des Bahnsteiges. Beobachtete die ein- und ausfahrenden Züge. Die verschlungenen Muster der Schienen und wie sie sich in der Ferne im Dunst auflösten. Das metallische Geräusch der Weichen, wenn sie über den Boden glitten – wie von Zauberhand geführt - und in einer neuen Position einrasteten. Ein ganz neuer Lebensabschnitt hat damals begonnen, und heute scheint wieder so ein Weichen-Stelltag zu sein.
Marion steht im Dunkeln als Einzige an der Bushaltestelle. Für die paar Fahrgäste verzichtete die Dorfverwaltung auf Straßenlaternen. Die Finsternis ist ihr angenehm. Sie lässt alles so namenlos erscheinen. Leer und voll zur selben Zeit. Sie hält die Farben und Kontraste des Tages in sich geborgen. Und damit scheint aus dem Vielen das Eine zu werden, das Ungeteilte. Alles wächst zusammen: die frisch renovierte Fassade des Nachbarhofes und die alte Werkstatt ihres Vaters, die winterlich kahlen Obstbäume und der Wald dahinter.
Morgens nach dem Aufstehen schaltet Marion oft gar kein Licht an. So bleibt ihr die Umgebung länger vertraut. Trotz - oder vielleicht sogar wegen – der Geschichte mit dem Erdkeller in ihrer Kindheit. Dunkelheit überall. Damals hat sie ihn rauschen gehört, den Styx. Das passiert ihr auch heute noch in besonders aufwühlenden Situationen.
*
Wiege dich im Rhythmus meiner Wellenfeine Melodien wie Dunst über den Wassern ich rufe dich und bald schon kommt dir meine Dunkelheit entgegenWie der Mond am Himmel entschwindet deine Erinnerung an vergangene Tage und du sinkst tieferStreckst deine Arme ausblind, auf Führung hoffendgreifst ins Leereimmer wieder … Bis du im Leeren das Geheimnis tastestdas dich umfängt undauf sicheren Boden stellt*
Leise stimmt Marion in den Gesang des Flusses ein. Währenddessen prasseln Tropfen auf den Asphalt neben ihr. Natürlich regnet es an ihrer Bushaltestelle nicht immer. In den letzten Jahren hat Marion eine Menge spektakulärer Sonnenaufgänge erlebt. Dazu brauchst du keine Safari in Afrika zu machen. Auch in Oberösterreich ist Großartiges möglich. Wenn der Sonnenball aufsteigt, kannst du das Fortschreiten der Zeit direkt am Himmel beobachten. Gleich einer kosmischen Uhr. Marion wendet sich gerne den ersten Sonnenstrahlen zu, die hinter dem Gaishügel hervor lugen. Vom Morgenlicht bekommst du zarte Pfirsichhaut, hat ihre Oma immer gesagt. Und sie hat recht behalten.
Aber heute wird es nichts mehr mit der Sonne. Marion muss an den Betriebsleiter denken und nimmt Haltung an. Geht in Gedanken noch einmal den bevorstehenden Ablauf durch: Pünktlich kurz vor neun Uhr wird er mit seiner Sekretärin aus dem Fahrstuhl steigen und den Gang zu seinem Büro entlang schreiten. Dort möchte sie ihn abfangen und ihm das Kündigungsschreiben in die Hand drücken.
Mehrmals hat sie diese Vorgangsweise mit ihrer Freundin durch besprochen. Keine Diskussionen oder Rechtfertigungen, und vor allem kein kleinmütiges Beigeben. Es ist ihr gutes Recht zu kündigen! Marion kaut am Nagel ihres kleinen Fingers. Wenn sie schon sonst nichts tun kann. Dann kommt der Bus.