Читать книгу Marion und Humbold - Julia Gruber - Страница 5
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ОглавлениеAus der Portiersloge ragt der Kopf von Herrn Sauerländer.
„Hallo, Frau Krawitzer! Homa schau Dienstschluss?
Alles Irreguläre erregt seine Aufmerksamkeit. Kein Wunder, denn das Sitzen im Portierhäuschen ist auf Dauer ganz schön langweilig. Deshalb schaut sich Herr Sauerländer stundenlang Westernfilme auf seinem Schwarz-weiß-Fernseher an. Der Bildschirm nicht größer als ein Bierdeckel und die Auflösung so grobkörnig wie Hirse. Aber immer noch spannender als das, was ihm die Überwachungskameras darbieten: die Hausecke, den Parkplatz, das Dach der Produktionshalle,…
Einmal ein Held sein, das würde Herrn Sauerländer schon gefallen. Doch in den letzten zwanzig Jahren kein einziger Schusswechsel am Betriebsgelände. Nicht einmal eine Messerstecherei oder ein winziger Spionagefall. Bloß falsch geparkte Autos. Marion beugt sich zu ihm hinunter.
„Krank bin ich.“
Herr Sauerländer verzieht das Gesicht. Die Unpässlichkeit einer Büroangestellten kann ihm auch nicht weiterhelfen bei der Verwirklichung seines Heldentraums. Bedenke außerdem die Ansteckungsgefahr. Deshalb schiebt er schnell seine Leberkäsesemmel zur Seite und drückt mit dem Zeigefinger auf den grauen Knopf neben seinem Bildschirm. Klick! Das Werkstor geht auf.
Marion tritt auf die Landstraße und marschiert zügig den Hügel hinunter. Zwischen ihren Füßen überziehen kleine Rinnsale den Asphalt. Neben der Fahrbahn gluckernde, braune Bäche. Hin und wieder wird Marion von einem Auto überholt. Hinterreifen werfen Wassergirlanden in die Luft und auf ihren Mantel. Rückscheinwerfer verschwinden im allgegenwärtigen Regengrau.
Ihr ist es recht. Sie ist mit sich im Reinen, hat ihre Mutprobe bestanden. Noch zwei Ortschaften bis zum Haus ihrer Freundin Ines. Dort werden sie beratschlagen, wie es weitergehen soll. Plötzlich Bremsgeräusche. Humbold - er wird sie doch nicht mitten in der Arbeitszeit verfolgen? Quietschend wird neben ihr ein Fenster hinunter gekurbelt. Grüne Wollmütze über faltigem Gesicht, es riecht nach Kuhstall.
„Grias di! Wüsd midfoan?“
Dank des freundlichen Nachbarn ist Marion im Nu beim Haus von Ines angelangt. Der Schlüssel unter dem Blumentopf, wie immer. Mantel ausschütteln, die nassen Schuhe mit Zeitungspapier ausstopfen. Sie wird sich von Ines ein paar trockene Sachen ausborgen müssen: Hose, Socken und ein Handtuch für die Haare.
Später stellt Marion in der Küche einen Teekessel mit Wasser auf. Sally schlängelt um ihre Beine. Die grau getigerte Katze ist der Freundin vor einem Jahr zugelaufen. Nichts verströmt so ein Gefühl von Zuhause und Behaglichkeit wie eine Katze. Findet Marion. Sie gießt sich eine Tasse Tee ein und macht es sich auf der Wohnzimmerbank gemütlich. Regentropfen hämmern gegen das alte Holzfenster. Graue Schlieren verunmöglichen die Sicht nach draußen. Vielleicht gibt es außerhalb des Wohnzimmers gar keine Welt mehr? Die Firma, der Betriebsleiter, die Kolleginnen und Humbold … alle in einer großen Sintflut untergegangen. Marion wäre es recht, sie braucht gerade niemanden. Bloß dieses Sofa soll bleiben, das ist ihre Arche.
Aus der Ecke erklingt das regelmäßige Ticken der alten Pendeluhr. Tick, tack,… Marion bemerkt, dass der Schwanz der Katze im Rhythmus mittanzt. Belustigt streichelt sie über den schnurrenden Rücken. Für Sally scheint die Welt jedenfalls in Ordnung zu sein. Versonnen wendet sich Marion der alten Pendeluhr zu. Sie gehörte einst dem Großvater von Ines. Nussholz mit ländlichen Schnitzereien. An der Rückwand kannst du seine Initialen erkennen: F.K. für Franz Krawitzer. Mit Bleistift auf das Holz gekritzelt. Der Großvater lebt schon lange nicht mehr, doch das goldene Pendel seiner Uhr schwingt unermüdlich weiter.
Natürlich wird die Mechanik regelmäßig aufgezogen, mit dem kleinen Schlüssel unten im Kasten. Dabei hebt sich der Kolben, und sein Gewicht bringt wiederum das Uhrwerk in Schwung. Das Gewicht des Kolbens verhindert den Stillstand der Zeit. Ob Menschen auch solche Lasten bräuchten, um beweglich zu bleiben? Marion denkt an Humbold. Sollte sie ihm etwa dankbar sein dafür, dass er sie durch seine Penetranz gezwungen hat, diesen Schritt ins Ungewisse zu machen?