Читать книгу Marion und Humbold - Julia Gruber - Страница 17

15

Оглавление

Elsbeere Humbold war gerade vierzehn Tage alt, als man ihn ins Heim brachte. In einem viel zu großen weiß-blauen Strampelanzug. Frau Gravensteiner wusste es im ersten Moment: Das war er! Sie konnte den Blick nicht von diesem Baby lösen, und so ging es eigentlich allen, die mit ihm zu tun hatten.

Bloß sein Vorname war befremdlich! Wer nennt sein Kind schon Elsbeere? Als hätte die Mutter ihrem Sohn absichtlich einen Makel anhängen wollen. Eine kleine Irritation, weil an seinem Aussehen alles so perfekt war. Frau Gravensteiner beschloss, mit diesem Problem pragmatisch umzugehen. Sie würde das Baby einfach mit seinem Nachnamen ansprechen: Humbold! Sofort schlug sie im Lexikon nach:

Friedrich Wilhelm Christian Carl Ferdinand von Humboldt (Gelehrter und Staatsmann, 1767-1835) Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander von Humboldt (Wissenschaftsfürst und Entdecker, 1769-1859) Und jetzt Elsbeere Humbold (der perfekte Mensch, erzogen im Kinderheim zu Mopping, 1972-…)

Humbold war fürwahr ein klingender Name, der einen Hauch von weiter Welt in die Niederungen ihres Provinzkinderheims brachte. Frau Gravensteiner besaß nun, was sie wollte. Jetzt konnte sie mit Zeit, Fleiß und Geduld ihre vielversprechende Theorie Fleisch werden lassen. Dazu verfasste sie einen geheimen Leitfaden, der auf den drei Säulen ihrer Erfolgspädagogik fußte.

Erziehungsrichtlinien für Proband H. (streng vertraulich) 1. Höfliche und distanzierte Umgangsformen ersetzen tiefere, potentiell verstörende Freundschaften. Immer viel Gesellschaft rund um Humbold organisieren, Affären ab Einsetzen der Pubertät fördern, tiefschürfende Beziehungen unterbrechen. Paten-Tier regelmäßig austauschen (Zifferncode statt Namensgebung). 2. Förderung des Schönheitsempfindens durch perfekt sitzende und typgerechte Kleidung. Regelmäßige Friseurbesuche und Maniküre. Mandala-Malkurse, Basteln mit Salzteig und wöchentliches Studium des hauseigenen Kunstbuches (idealerweise kombiniert mit Maniküre). 3. Bewegungstraining zum Spannungsabbau Fuß- und Handball, Kegeln, Gruppen-Wanderungen und andere Mannschaftssportarten; kein meditatives Laufen (Grübelgefahr!)

Eines muss man Frau Gravensteiner lassen: Was sie anfängt, das zieht sie auch durch. Denn schau dir an, welch Paradejunge aus Humbold geworden ist. Die Trotzphase, mit der andere Dreijährige ihre Umwelt in den Wahnsinn treiben, hat er komplett übersprungen. Nur zu Beginn der Volksschule gab es ein kurzes Aufflackern von Quertreiberei. Plötzlich wollte Humbold mit seinem Vornamen angesprochen werden, wie die anderen Kinder auch. Da er sich für „Elsbeere“ genierte, versuchte er „Barry“ durchzusetzen. Die Lehrerin unterstützte sein Vorhaben. Sie fand die Bedeutung hübsch: „Speerwerfer“ in der keltischen Tradition. Damit würde er bei den anderen Jungs sicher punkten.

Doch die beiden hatten nicht mit Frau Gravensteiner gerechnet. Solche Verschwörungen konnte sie nicht dulden. Noch am selben Tag wurde den FAK-Musikschülern der Auftrag erteilt, die großen „Humboldts“ ins rechte Licht zu rücken. Pioniere, Entdecker und Erfinder wären sie gewesen. Nämlich echte Draufgänger- und nicht bloß ordinäre Speerwerfer. Also gut, sagte Humbold schließlich. Und alles blieb, wie es war.

Bis auf diesen kleinen Ausbruchsversuch war Humbold ein gutmütiger Bursche. Höflichkeit, sagte Frau Gravensteiner ihrem Schützling bei allen sich bietenden Gelegenheiten, wäre ein Kapital, das sich hoch verzinst. Gute Manieren würden andere Menschen glücklich machen, und saubere Fingernägel erst recht. Deshalb durfte Humbold keinen seiner wöchentlichen Maniküre-Termine versäumen. Jeden Freitag Nachmittag in den Privaträumen der Heimleiterin. Dann machte sie ihm die Nägel und er blätterte einstweilen in dem dicken Kunstbuch. Aber immer nur bis zur Seite 251, bis zum Ende der Impressionisten.

Was danach kommt, frage nicht! Üble Schmierage, eckige Köpfe mit schrägen Augen. Das Wort „entartet“ wollte sie nicht unbedingt in den Mund nehmen. Obwohl eigentlich sehr treffend. Werke von Geistesgestörten, da war sich die Heimleiterin sicher. Das konnte nicht gut sein für das Seelenheil ihres Probanden. Dieser sollte nur mit der ganz großen Kunst in Berührung kommen. Mit der Elite, und die Heimleiterin hatte ein sicheres Gespür, wen man dazu zählen durfte: nämlich alles von den alten Meistern bis zum Monet. Er war ihr Held. Seine Bilder erfreuen nicht nur das Auge, sie verbreiten auch eine Aura von seelischer Gesundheit im Raum.

Deshalb hing hinter dem Schreibtisch von Frau Gravensteiner seit undenklichen Zeiten ein Seerosen-Kalender an der Wand, mit Bildern von Monets Teich in Giverny. Seerosen mit Iris, Seerosen unter der Trauerweide, Seerosen vor der Brücke. Das Kalenderjahr war schon längst Vergangenheit, doch die einzelnen Bögen wurden von der stolzen Besitzerin Monat für Monat sorgsam umgeschlagen und aktualisiert. Zusätzlich zum Kalender befand sich in Frau Gravensteiners Besitz: eine Seerosen-Tasse (Diese wurde täglich zur Vormittagspause mit Kaffee aus der Kantine befüllt.), eine Stofftasche mit Seerosen-Aufdruck (für die sommerlichen Badegänge) und ein Seerosen-Füllhalter.

Marion und Humbold

Подняться наверх