Читать книгу Marion und Humbold - Julia Gruber - Страница 13

11

Оглавление

Also, was ist jetzt mit den schrumpeligen Kartoffeln? Marion kann doch nicht die ganze Zeit in der Küche herumstehen und über alte Zeiten nachdenken. Vor allem nicht, wenn ihr Darm schon so lautstark auf Nachschub pocht. Irgendetwas Essbares muss es in diesem Haus doch geben! Aber Marion, erinnere dich: da sind noch Humbolds Rüben vor der Türe. Gemeinsam mit den Kartoffel-Veteranen und ein paar Kräutern lässt sich bestimmt ein passables Süppchen zustande bringen.

Rüben… Marion schaudert bei dem Gedanken. Wie viele Jahre hat sie diese vermieden? Seit der Erdkeller-Episode, seit diesen endlosen, finsteren Stunden. Als sich der gewohnte Zeitstrom zu einem zähflüssigen Brei verdickte. Mit Rüben hat sie sich damals durchgebracht, das sind ihre Schätze gewesen.

Aus dem Sandbett in der hinteren Ecke des Kellers hat sie eine nach der anderen ertastet und mit bloßen Fingern ausgegraben. Der Größe nach sortiert und behutsam nebeneinander aufgelegt. Nach faulen Stellen untersucht, gezählt und eingeteilt. Etwa: heute nehme ich die Drittgrößte.

Aber was bedeutete schon das Wort „heute“ in zeitloser Stille. Wo war die Grenze zwischen Heute und Morgen in diesem Meer an Dunkelheit, das nach allen Richtungen floss? Nach außen, aber auch nach innen. Das nicht Halt machte an ihrer Haut. Einsickerte in ihre Poren, ins Gewebe, in die Lungen, ins Herz. Das sich wie ein Gewicht auf jedes Gefühl in ihrer Brust legte. Auf jeden Gedanken. Was half es schon, dass Marion immer wieder an der Holztüre rüttelte und schrie, bis sie heiser war?

Mit der Zeit gewöhnten sich ihre Augen an die Umstände. Sie erkannte: schwarz ist nicht gleich schwarz. Da gab es das Schwarz der tiefsten Tiefe in der hinteren Ecke des Erdkellers, wo die Rüben lagerten. Das gewöhnliche Schwarz im mittleren Bereich, gefolgt vom Wiese-mit-Kühen-Schwarz direkt vor der Holztüre. Aber letzteres war eigentlich schon fast ein Dunkelgrau.

So war es wohl den Gefangenen in den mittelalterlichen Burgverliesen ergangen. Dachte sich Marion. Die waren mit Sicherheit Meister darin gewesen, verschiedene Schattierungen von Schwarz auseinander zu halten. „Ich seh, ich seh, was du nicht siehst und das ist „Moos-ohne-Wiederkehr-Schwarz“ oder „Aschfahl-und-Höllentor-Schwarz oder „Augen-im-finstersten-Keller-Schwarz“.

Auch Marion begann nun mit solchen Spielen. Und das war genau der Moment, als Ines auftauchte. Plötzlich war sie da. Immer gut gelaunt, ließ sie sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Für die Freundin war der Erdkeller kein Gefängnis, sondern ein Abenteuerspielplatz. Sie war die Erste, die den Mut hatte, es auszusprechen: Werden die anderen uns rechtzeitig finden? Was ist mit dem Vater passiert?

So lange hatte er sie noch nie eingesperrt. Entweder er war im Rausch die Leiter hinunter gefallen und liegen geblieben. Oder sein Geist hatte sich endgültig aufgelöst im Alkoholnebel. Das bedeutete, dass sie so bald nicht gefunden würde. Beruhige dich, Marion. Sagte Ines. Das ist eine Herausforderung. Wir schaffen das!

Und sie erzählte Marion vom Trick mit der Rübe. Nimm eine von diesen schwarz-goldenen Zauberstäben in deine Hand. Sagte sie. Und dann schabe mit den Schneidezähnen daran entlang. Das macht ein tolles Kratzgeräusch und besiegt die Stille.

Ines gab ihr auch den Tipp, die Wände nach feuchten Stellen abzusuchen, wo sich Wassertropfen bildeten. Und Marion musste ihrer Freundin recht geben: sie schmeckten nicht schlecht. Vor allem, wenn man so großen Durst hat. Nach Erde natürlich, aber nicht nur. Auch ein bisschen nach Brombeere, Champignons und Weizenfeld. Darüber konnte sie mit ihrer Freundin richtig streiten. Welche Ecke mehr nach Beeren schmeckte oder nach Steinpilzen oder doch nach Hafer.

Dann fielen Ines Rechenspiele ein. Ob sie eigentlich schon die Ziegelsteine gezählt hätte, aus denen der Raum gebaut worden war? In welchem Verhältnis die Steine der kurzen Raumseite zur langen stünden? Was wohl der größte gemeinsame Teiler davon wäre, das kleinste gemeinsame Vielfache? Wie viele Steine sie für eine zwanzig prozentige Vergrößerung des Erdkellers benötigen würde?

Jetzt denkst du vielleicht: ziemlich komplizierte Rechenoperationen für eine Achtjährige. Doch Marion hatte sich in Mathematik schon immer leichtfüßig bewegt. Ganz ohne Anstrengung. Das ist damals auch ihrer Lehrerin aufgefallen, nur hat man in jener Zeit nicht so viel Aufhebens gemacht bezüglich Hochbegabung.

Nichts konnte Marions Aufmerksamkeit so fesseln wie Zahlenspiele. Im Gegensatz zu Menschen erschienen ihr Zahlen schon immer so wunderbar verlässlich und solide. Wobei Zahlen für Marion durchaus Persönlichkeit besaßen. Die Eins erschien ihr als typischer Anführer, als Zugpferd und Pionier. Wie der Gipfel eines Berges strahlte sie etwas Erhabenes, Ernsthaftes, auch Einsames aus.

Ganz anders die Zwei. Sie hatte bereits einen Kumpanen, nämlich die Eins. Sie setzte auf die Kraft der Gemeinsamkeit, wie es gute Freundinnen tun. Dann die Drei. Bei ihr kam etwas Neues und Kreatives ins Spiel, so wie Mama und Papa plus Kind. Die Vier erschien ihr wie ein stabiler Tisch, aus dessen geordneter Sicherheit wiederum die Fünf ausbrach. Diese war wie ein Jugendlicher, der die Grenzen der Erwachsenen sprengte. Ein Abenteurer, der sich auf Weltreise begibt. So wollte Marion auch einmal werden. Die Sechs, die Sieben, die Acht,… stundenlang konnte Marion Zahlen zusammenbauen und ihre Kombinationen begeisterten sie immer wieder aufs Neue.

Als ihr vom vielen Rechnen der Kopf schwirrte, schlug Ines vor, die gemeinsame Wohnung einzurichten. Hinten bei den Rüben war die Vorratskammer, das lag auf der Hand. Was Küche und Speisezimmer betraf, kam es zwischen den beiden Freundinnen zu Meinungsverschiedenheiten. Marion wollte den einzigen losen Ziegelstein des Appartements als Hocker in der Küche haben. Für die Freundin passte er besser als Tisch im Esszimmer. Nach einigem Hin und Her einigte man sich darauf, die beiden Zimmer zu einer Wohnküche zusammen zu legen. Die Funktion des Ziegelsteins durfte die jeweilige Benutzerin bestimmen.

Dann kam der Schlafbereich an die Reihe. Er sollte durch die drei Jutesäcke markiert werden, welche Marion neben der Vorratskammer ertastet hatte. Auf jeden Fall wollten sie das Schlafzimmer in der Nähe der Türe haben. In der Wiese-mit-Kühen-Zone, weil da die Luft am Frischesten war.

Das führte zur nächsten, äußerst heiklen Frage: Wo sollte die Toilette sein? Auf keinen Fall zu nahe an der Vorratskammer oder dem Schlafbereich. Aber auch nicht zentral und raumgreifend. Nun, so viele Möglichkeiten gab es dann auch nicht. Man kam überein, die Rüben umzulagern in Richtung Bett und Ausgang. Und der ehemaligen Vorratskammer eine neue Funktion zu geben. Denn der Sand eignete sich hervorragend, um damit die Notdurft zu bedecken.

Marion und Humbold

Подняться наверх