Читать книгу Marion und Humbold - Julia Gruber - Страница 4
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ОглавлениеWie gewöhnlich zieht sie sich an einen Fensterplatz in den hinteren Reihen zurück. Lehnt ihren Kopf an die vibrierende Fensterscheibe. Der Bus stoppt. Marion nickt den einsteigenden Kollegen flüchtig zu. Gerade so lange, dass sich niemand missachtet fühlt. Gerade so kurz, dass es keiner als Aufforderung zu einem Gespräch missverstehen könnte.
Dann verstärkt sich das Brummen des Motors. Es geht den Berg hinauf, das Firmengebäude wird sichtbar. Der Bus hält und die Türen öffnen sich mit einem Zischen. War das vorhin seine Stimme? Marion zuckt zusammen. Besser nicht umdrehen, besser schnell weiter.
Schon erreicht sie die großen anthrazitfarbenen Werkstüren. Morgendliche Grüße, Kommentare zur Wettersituation. Aufgrund einer überschwemmten Brücke hat der Zug aus Forgau Verspätung. Auch gut, dann bleibt ihr mehr Platz in der Garderobe. Mantel ausschütteln, Schirm verstauen, Tasche abwischen. Aus den Augenwinkeln betrachtet Marion die Anwesenden. Nein, Humbold ist nicht darunter. Erleichtert pustet sie sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht.
Hinauf in den ersten Stock. Das Büro ist noch leer, weil er am Morgen immer die Besprechung im Lager leitet. Marion setzt sich. Etwas Post hat sich angesammelt. Marion erledigt alles in der ihr eigenen Gründlichkeit. Dabei hin und wieder ein Blick auf die Uhr. Viertel vor neun.
Sie macht sich auf den Weg in die Chefetage. In das Reich der verschluckten Geräusche. Alles erscheint hier gedämpft: der Klang ihrer Schritte, die Grüße der Vorbeigehenden, auch die eigenen Gedanken. Als ob der Teppichboden den Lärm in ihrem Kopf einhüllen würde. Alle Ängste weg, die Wünsche auch. Marion ist sich nicht mehr sicher, was sie eigentlich wollte… Bohrt ihre Fingernägel in die Daumenballen, versucht sich zu konzentrieren.
Plötzlich ein feines Klingeln. Die Aufzugtüren öffnen sich und heraus tritt der Betriebsleiter samt Sekretärin. Dahinter Humbold. Damit hat Marion nicht gerechnet, das bringt sie aus dem Konzept. Warum muss er denn ausgerechnet jetzt… Sie macht einen entschlossenen Schritt vorwärts.
„Herr Bosch, bitte für Sie!“
Der Betriebsleiter schaut überrascht auf die beiden Schriftstücke, während sich Marion bereits umgedreht hat. Sie spürt Humbolds Blick im Nacken. Eilt die Treppe hinunter. Nein, diesen Arbeitstag wird sie nicht regulär beenden. Sie kann sich auch nicht von den Kolleginnen verabschieden. Mit ihrem Getuschel, ihren versteckten Andeutungen. Einfach nur fort, jetzt gleich! Man muss den Tatsachen ins Auge sehen: mit Humbold kann es nur schief gehen. Den Gerüchten zufolge wird er bald zum Schwiegersohn des Betriebsleiters aufsteigen - und dann gute Nacht.
Von ihren Kolleginnen kann Marion keine Hilfe erwarten. Weibliche Rivalität, ach wenn die wüssten! Zugegeben, Humbold sieht blendend aus… Doch Marion hat genug erlebt. Und Flucht muss kein Zeichen von Schwäche sein, im Gegenteil. Schon ist sie wieder an ihrem Arbeitstisch angelangt. Gut, dass sie sich hier nicht mit Firlefanz ausgebreitet hat: Spruchkalender, Maskottchen, Fotos von Babys und Haustieren. Marion braucht bloß ihre Tasche zu packen und …
„Warum so eilig, Lady?“
Manchmal wirkt das Leben wie ein Film, der sich in seiner Spule festgefressen hat. Alles steht. Wie hat Humbold es bloß so schnell nach unten geschafft? Eines muss man ihm lassen: der Mann hat Ziele. In dem Fall Marion. Da steht er nun, die Hände lässig am Türstock abgelegt, und versperrt ihr den Weg nach draußen. Wie ein lebendiges Fangnetz.
Was tun? Marion wendet sich an ihre Freundin Ines, weil sie hat immer die besten Ideen. „Blumentopf werfen.“ Das rät ihr die Freundin. Humbold will keine Sauerei im Büro. Keine Scherben, keine Heerschar an feuchten Hydrokultur-Kügelchen in allen Raumecken. Das macht die Sauberkeits-Erziehung von Frau Gravensteiner aus dem Kinderheim, die hängt dir ein Leben lang nach.
Marion sieht sich hastig um. Greift dann nach der Schefflera zu ihrer Rechten. Einmal Schwung holen und schon fliegt der Topf durch den Raum. Humbold fängt. Ein Mann mit ausgezeichneten Reflexen, das muss man ihm lassen. Derweil huscht Marion durch die Türe. Die Treppe hinunter und hinaus ins Freie.
Das ist noch einmal gut gegangen. Auf einen Bus nach Hause braucht sie freilich nicht zu hoffen, mitten am Vormittag. Den Weg wird sie wohl zu Fuß bewältigen müssen. Andererseits kann ihr etwas Bewegung nur gut tun nach dem ganzen Stress. Beutetiere laufen bekanntlich auch gerne ein Stückchen weiter, wenn sie ihrem Jäger entkommen konnten. Ganz nützlich, um das Adrenalin aus den Adern loszuwerden.