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14. Im Heim

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Derweil braust Humbold durch die Landschaft. Er ist nervös. Die Kathi schimpft immer, wenn er zu spät kommt. Weil Ordnung muss sein. Und von nichts kommt nichts. Sie hat stets einen passenden Spruch auf Lager, um seine Versäumnisse zu kommentieren. Kathi ist nämlich eine recht Dominante. Aber fesch, keine Frage. Und die Tochter vom Betriebsleiter, das darf man auch nicht vergessen.

Humbold hat für sich große Karrierepläne. Nach all den Jahren im Kinderheim unter der permanenten Kontrolle von Frau Gravensteiner möchte er auch einmal etwas zu sagen haben. Nicht nur abhängig sein von weiblicher Gnade. Chef bei Theuscher & Söhne… das würde ihm schon gefallen. Kathi hat gesagt, dass er sich keine Sorgen machen müsse. Sie hätte schon alles eingefädelt.

Auch für Kathi ist Humbold eine gute Partie. Immer dieser leicht fragende Blick in seinem hübschen Gesicht. Als wisse er nicht, was er wolle und bräuchte eine starke Hand, die ihn führt. Kein Problem für Kathi. Dazu seine gepflegte Erscheinung: breitschultrig, Sixpack,… Und die grünen Augen, die vergisst man nicht so schnell.

Die Augen hat er wohl von der Mutter geerbt. Sie soll eine aus der Dienstleistungsbranche gewesen sein. Käufliches Gewerbe, sagt Frau Gravensteiner. Und sie muss es wissen. Schließlich leitet sie das Kinderheim in Mopping, das Humbold nach der Geburt aufgenommen hat. Von der Fürsorge abgeliefert, weil so eine Mutter ist doch kein Umfeld für ein Baby. Vater gab es keinen Bestimmten, dafür viele Möglichkeiten.

Schon als Säugling war Humbold einfach zum Verlieben. So einen hübschen Kerl hat Frau Gravensteiner in ihrer Karriere noch nicht gesehen. Und jetzt kam er gerade recht. Weil Frau Eleonore Gravensteiner war nicht nur Leiterin eines mittelklassigen Kinderheims. Nicht nur zuständig für rund zweihundert Waisenkinder, für ihr pünktliches Erscheinen bei den Mahlzeiten, das ordentliche Essen mit Messer und Gabel, den Zustand der Betten und Spinde, die Erledigung der Hausaufgaben. Nein, Frau Gravensteiner war zu Höherem geboren, sie hatte eine geheime Mission! Durch beharrliche Fürsorge könne man jedes Kind der Hölle seiner Herkunft entreißen. Das war ihre These. Wichtig dafür wäre natürlich eine klare Führung, und ihre beruhte auf drei pädagogischen Grundpfeilern:

1. Höflichkeit

Ein gepflegter Umgangston, tadellose Manieren und gelebte Hilfsbereitschaft. Frau Gravensteiner duldete weder Schreiereien, Kämpfe oder sonst ein anmaßendes Benehmen unter ihren Schützlingen. Das Tragen von Verantwortung füreinander sollte früh gelernt werden. Deshalb bekam jedes Kind im Heim die Patenschaft über ein Tier übertragen: eine Katze, ein Schwein, ein Huhn, vielleicht sogar eine Kuh. Je nach Verfügbarkeit, zum Heimgelände gehörte praktischerweise ein Bauernhof. Jedes Kind wurde für den Zustand seines Paten-Tieres persönlich zur Rechenschaft gezogen. Hatte es die Fütterung vergessen, stornierte Frau Gravensteiner dem Paten-Kind umgehend die Mahlzeit.

2. Schönheit

Ein geschmackvolles Umfeld fördert tugendhafte Gedanken. Deshalb achtete Frau Gravensteiner stets auf üppige Balkonblumen im Eingangsbereich. Die Gänge des Heims waren mit Reproduktionen der wichtigsten Kunstwerke der Menschheitsgeschichte geschmückt, das hieß: mit Bildern der Impressionisten. Zur Schulung des ästhetischen Empfindens wurden alle Kinder dazu angehalten, am wöchentlichen Mandala-Malkurs teilzunehmen.

3. Bewegung

Wie schon der Lateiner sagt: Mens sana in corpore sano. Ein ehrgeiziges Workout für alle - speziell für die pubertierenden Burschen - war Teil des täglichen Stundenplans.

Um ihre Erziehungsmethodik durchzusetzen hielt es Frau Gravensteiner mit ihrer russischen Köchin Marija. „Dowerjai, no prowerjai.“ Das pflegte Marija immer zu sagen, wenn sie eine letzte Kontrollrunde durch die Heimküche drehte und die Vorratskammer absperrte. Übersetzt: Vertraue, aber prüfe nach!

Weil Frau Gravensteiner selbst bloß über zwei Augen verfügte - und das war für ein Kinderheim dieser Größe deutlich zu wenig - baute sie sich über die Jahre ein hilfreiches Netzwerk unter ihren Schützlingen auf. Alle Kinder waren gleich - bis auf ein paar Ausnahmen: ihre FAK-Musikschüler. Diese durften dem wöchentlichen Freitag-Abend-Konzert in ihrer Privatwohnung lauschen.

Sollte tatsächlich jemand zur besagten Zeit an ihrer Eingangstüre horchen, würde er die sanften Klänge eines Streichorchesters hören. Freilich aus einem leeren Zimmer, denn die eigentliche FAK-Versammlung fand im hinteren Wohnbereich statt. Hier wurden die Vorkommnisse der letzten Woche diskutiert. Wer hat was gemacht oder gesagt? Auch Kleinigkeiten – feine Unstimmigkeiten oder Andeutungen - interessierten Frau Gravensteiner. Als Belohnung gab es Bonbons, und natürlich eine Extraportion Ehre. Die durfte man nicht vergessen.

Auf solche Weise konnte Frau Gravensteiner problematische Unruheherde bereits im Keim ersticken und den Frieden im Heim wahren. Ein Erfolgsrezept, das auch die Statistik bestätigte: geringere Kriminalitäts- und Selbstmordraten als in vergleichbaren Institutionen. Deshalb wurde Frau Gravensteiner die bronzene Verdienstnadel des Landes verliehen. Zehn Jahre Leitung eines zweihundert-Seelen-Heimes ist schließlich kein Vogeldreck. Doch Frau Gravensteiner wollte mehr erreichen. Viel mehr. In ihren geheimen Studien (die zu gegebener Zeit das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollten) ging es um nichts Geringeres als um die Aufzucht des perfekten Menschen.

Nun stellt sich die Frage: Was zeichnet einen solchen aus? Frau Gravensteiner machte sich die Antwort darauf nicht leicht. Gründliche Recherchen in Bibliotheken und anspruchsvolle Diskussionen (vor allem mit sich selbst). Sie warf ihre gesamte Kompetenz und Lebenserfahrung in die Waagschale, um schließlich feststellen zu können:

Der perfekte Mensch, das ist der zufriedene Mensch!

Eigentlich recht nahe liegend. Denn wer zufrieden ist, trägt Frieden in sich. Sagt schon das Wort. Und Frieden braucht die Welt am allermeisten. Nun ist es mit dem Fragenstellen wie mit dem Dragee-Keks-Essen: Hast du einmal damit angefangen, kannst du nicht mehr aufhören. Deshalb gleich die Nächste: Wie wird ein Mensch dauerhaft zufrieden? Das ist so leicht dann auch wieder nicht. Braucht man bloß sich selbst anzusehen.

Doch auch darauf fand die ehrgeizige Heimleitung eine bestechend einfache Antwort. Sie kam ihr ganz plötzlich beim sommerlichen Badegang im Gemeindeteich in den Sinn. Ihr Kopf benebelt von der Mittagshitze und vom meditativen Zirpen der Grillen. In so einer Situation tritt der Verstand gerne ein Stück weit zurück und schafft damit Raum für die innewohnende Genialität. Plötzlich traf es sie wie der Blitz: Zufrieden ist, wer an der Oberfläche lebt.

Ja, so kinderleicht kann die Lösung sein für eine der wichtigsten Fragen der Menschheit. (Großartige Dinge sind oft bestechend einfach.) Nicht in der Tiefe soll der Mensch schürfen, wenn er dauerhaften Frieden gewinnen will. Denn im Bodensatz der Seele lauern Gefahren ohne Ende: alte Traumas, Kummer, Angst,…

Das wusste die Heimleiterin aus eigener Anschauung. Jeder ihrer Schützlinge hatte zumindest seine Eltern verloren, wenn nicht Schlimmeres. Da bist du gezeichnet für dein Leben. Keine Therapie kann solche Erfahrungen wegwischen. Denn die Gespenster der Vergangenheit verstecken sich nur zu gerne im Untergrund und fangen dann bei den unpassendsten Gelegenheiten zu heulen an. Vor allem wenn du nach unten stocherst.

Als Sinnbild dafür braucht man sich bloß den Gemeindeteich anzuschauen: Unten am Boden sammelt sich der ganze Schlamm. Tauchst du hinunter, wirst du besudelt. Kein Mensch verweilt deshalb freiwillig und über längere Zeit am Grunde eines Sees. Noch dazu Atemprobleme.

Nein, wer ein dauerhaft zufriedenes Leben wünscht, der sollte an der Oberfläche des Lebens bleiben. An der Sonnenseite. Wahre Lebenskunst bestünde demnach darin, sich eine kompromisslose und alle Lebensbereiche durchdringende Oberflächlichkeit zu eigen zu machen. Sich so weit wie möglich von den Widersprüchen des Seelengrundes fernzuhalten. Der ewigen Sinnsuche, dem krampfhaften Grübeln nach Bedeutungen aus dem Weg zu gehen.

Des Menschen Aufgabe war also, sich innerlich leicht zu machen und von der Oberfläche tragen zu lassen – wie beim Schwimmen im See. Eine schlüssige Erkenntnis. Jetzt brauchte Frau Gravensteiner nur noch einen geeigneten Probanden, um ihre These in der Praxis zu verifizieren.

Marion und Humbold

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