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Die Rolle der Drehbücher

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Während man sich also in Beziehungen tunlichst aus Täter-Opfer-Helfer-Geschichten raushalten sollte, um nicht selber als Opfer zu enden, gab es auch noch die Gewaltdelikte mit fremden Personen, zu denen man also keine Beziehung hatte. Das fand ich mindestens genauso spannend. Vor vielen Jahren, als ich mich mit Gewaltprävention zu beschäftigen begann, hatte ich von einem Kriminalhauptkommissar erfahren, dass Täter immer nach einem innerlichen Drehbuch vorgingen und sich genau den Menschen aussuchten, der da hineinpasste.

Wenn ich also Angst hatte und im Drehbuch des Täters stand: "Frau hat Angst vor mir", dann bekam ich die Rolle. Und dieser Kommissar hatte herausgefunden, selbst wenn einem die Rolle schon zugeteilt wurde, so konnte man die Tat noch verhindern, wenn man sich nicht an das Drehbuch hielt! Und das bedeutete, dass man eben anders reagierte als vom Täter erwartet, zum Beispiel mit einer Überraschung, mit einer kreativen Reaktion.

Man spürte zum Beispiel ein Angstdrehbuch hinter sich laufen, denn man hatte plötzlich Angst. Aber man widerstand dem Angebot "Angst zu haben" und dem Impuls "schneller zu gehen", denn so lautete offenbar gerade das Drehbuch, das sich annäherte. Stattdessen drehte man sich zum Beispiel um und bat um Feuer. Der Täter wurde so im Handlungsverlauf unterbrochen und musste sein ganzes Drehbuch wieder von vorne inszenieren. Man konnte zwar auf diese Weise nie erfahren, ob es sich bei dem anderen wirklich um einen Täter gehandelt hatte, aber man ging zumindest bewusst mit seinen Wahrnehmungen um, fühlte sich unterwegs viel sicherer und war zudem ein Stück weit innerlich gewachsen. Und für diesen Tag hatte der Täter dann vielleicht auch genug und ging nach Hause.

Der Polizist schätzte aus der Auswertung aller Delikte Berlins, dass auf diese Weise 95% der Täter unterbrochen werden könnten und die Tat nicht begehen würden, und bei 5% hatte man eben Pech, da war nichts zu machen. Sich über eigene und fremde Muster und Drehbücher Gedanken zu machen konnte also lebenswichtig sein.

Bestimmt lag meiner Beziehung zu Barbara auch so ein Drehbuch zu Grunde, es musste ja nicht so spektakulär sein wie ein Gewaltdelikt. Ich verstand die Muster auch lange nicht, die uns aneinanderbanden, erst später begriff ich mein Muster: Ich war im Leben immer die Macherin gewesen, und trotz all der Handycaps auch geblieben, und so kümmerte ich mich auch um Barbara.

Was hatte ich eigentlich selbst davon? Na, ich konnte mich großartig und wichtig fühlen! Das war mein Muster. Ich brauchte Bedeutung und Machen. Und jeder von uns bestärkte den anderen darin, noch Opfer der Umstände zu sein und noch gar nicht zu wissen, was hier so vorging. Und wir jammerten auch jede Menge zusammen, neben dem vielen Lachen. Aber was wir eigentlich unentwegt taten, war: Wir bestätigten uns gegenseitig in dem wunderbaren Drehbuch, noch so wenig zu wissen und zu können und auf gar keinen Fall schon ganz, geheilt und verantwortlich für unser Leben zu sein, auch wenn wir uns in ein paar netten Übungen ausgesprochen oft mit genau dieser Verantwortung beschäftigten. Denn dann hätten wir keine Hilfe mehr vom anderen gebraucht. Irgendwie hing ich an Barbara wie an Mamas Schürzenzipfel und versteckte mich dahinter vor der bösen Welt. Und umgekehrt. So mussten wir uns irgendwann auch wieder trennen, weil es das Beste für uns beide war, um in die Puschen zu kommen. Aber bis es dazu kam, sollte es noch dauern.

Eine gute Beziehung gab Sicherheit. Über die längere, gewachsene Erfahrung mit dem anderen waren seine Verhaltensweisen vorhersehbar, was Sicherheit schuf, und man traf sich auch für Abläufe, die fast schon so festgelegt waren wie Rituale. Angewohnheiten, wie ich selbst Beziehungen knüpfte und aufrecht hielt, nannte ich Muster. Und die waren auch nur die Bausteine für ganze Drehbücher. Und so lange die Drehbücher passten, kam es zu einem geregelten Warenaustausch, etwa so wie der beim Handel zwischen Ländern.

Die Waren bestanden aus Gefühlen, Gedanken, Körperkontakt, neuen Mustern und Drehbüchern und vor allem Inspiration und Lebenskraft. Denn wenn der Austausch reibungslos funktionierte, wurden beide von irgendwoher zusätzlich regelrecht mit jeder Menge gutem Gefühl überschüttet, das sie sich alleine so nicht erzeugen konnten. Deshalb fühlte man sich in einer Beziehung auch so wohl.

Aber wie bei dem Warenaustausch über Ländergrenzen hinweg war die Außenhandelsbilanz zwischen den Partnern nur sehr schwer im Gleichgewicht zu halten und oft wurde die Bilanz eines Partners gegenüber der des anderen negativ, was zu einem Kursverlust wie zwischen Dollar und Euro führte, also einer Abwertung. Die Spannungen dieses Konfliktes entluden sich dann vielleicht in heimlichen oder offenen kriegerischen Handlungen von Vorwürfen bis hin zu fliegendem Geschirr. Zumindest dachte jeder sich seinen Teil. Und um auf die intensive Beziehung mit Barbara zurück zu kommen, die blieb über zwei Jahre sehr im Gleichgewicht, und das war eine sehr lange Zeit. Und ich ahnte auch noch nicht, dass gerade meine Einsichten zu den Konflikten und den Drehbüchern für die Lösung meiner Probleme noch eine große Rolle spielen würden.

Hurra, die Lichtfilzlinge kommen

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