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Aus dem Hamsterrad gefallen

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Ich hatte meine Freundin Carmen um Hilfe gebeten, denn ich fühlte mich diesmal außerstande, die Zeugnisse für meine Klasse selbst zu schreiben, auch wenn das natürlich wie jedes Jahr von mir erwartet wurde. Sie kannte meine Schüler gut, ich hatte Carmen als Referendarin betreut, und so lernten wir uns auch kennen. Bis vor kurzem hatten wir manchmal sogar gemeinsam unterrichtet. Wir ähnelten uns ein wenig, allerdings mit einer ganzen Generation Unterschied, und verstanden uns daher gut. Seit sie vor ein paar Wochen ihre Prüfung mit Bravour bestanden hatte, war sie arbeitslos. Meine Klasse ging sie also eigentlich nichts mehr an. Dennoch saß sie an diesem Sonntagmorgen hilfsbereit am Computer, während ihr Mann mit den Kindern losgezogen war, und bewältigte spielend die Eintragungen in eine Maske. Es war die gleiche Maske für Zeugnisformulare, die mich selbst vorher schier in die Verzweiflung getrieben hatte. Bereits vor Tagen hatten wir sehr lange an den verbalen Beurteilungen gesessen, nun ging es nur noch um die formal korrekte Eingabe aller Daten und den Ausdruck auf Papier, und wegen der Gültigkeit als Urkunde durfte man da keine Fehler machen, selbst Leerzeichen und Striche mussten pedantisch sitzen. Carmen hatte mir den bequemsten Sessel herangeholt und arbeitete emsig. Plötzlich drehte sie sich zu mir um und sagte besorgt:

„Du bist vollkommen erschöpft! Du solltest nicht bis zu den Ferien warten. Melde dich morgen krank.“

Ich protestierte: „Aber ich fühle mich doch überhaupt nicht anders als sonst auch! Ich bin doch nicht krank! Ich huste nicht, ich hinke nicht und mir tut auch nichts weh. Ich kann doch nur einfach nicht mehr. Ich bin einfach nur unendlich müde...“

Damit meinte ich nicht nur die Schule, sondern einfach alles, mein ganzes Leben. Und als sei ein innerer Damm gebrochen, traten Tränen in meine Augen, dann Bäche und schließlich Sturzfluten, bei denen selbst ganze Taschentuchpäckchen nicht mehr nachkamen. Carmen musste in ihre Vorratskammer stürzen, um mich mit Nachschub zu versorgen. Ich heulte und heulte, während ich außerdem Carmen noch unter Tränen weiter anfeuerte, sich um mich überhaupt nicht zu kümmern und stattdessen die Zeugnisse zu Ende zu schreiben, denn damit würde es mir sicher bald besser gehen.

Seit langem schon fühlte ich mich morgens beim Aufwachen bereits genauso erschöpft wie am Tag zuvor beim Zubettgehen, das war wirklich nichts Neues. Dann konnte ich doch auch noch die paar Tage bis zu den großen Ferien so weiter machen, die anderthalb Wochen gingen dann auch noch rum. Erst fiel mir die Arbeit nur an ein bis zwei Tagen pro Woche schwer und die anderen Tage beschenkten mich umso reicher mit Anerkennung und Zufriedenheit, denn mein Job machte mir ausgerechnet jetzt auch noch so viel Spaß, wie nie zuvor. Bald aber waren es drei Tage die Woche, dann vier, schließlich gab es kaum noch Tage mit Freude. Alles strengte mich nur noch an. Und ein Gedanke wurde so langsam zur fixen Idee: „Ich kann nicht mehr, und ich will auch nicht mehr.“

Carmen hatte die Zeugnisaktion glücklich beendet und der Drucker ratterte los. Nun unterbrach sie meine wehleidig-versunkene Selbstbetrachtung und schaute mir in die verquollenen Augen.

„Also, pass auf: Du gehst morgen nicht zur Schule. Du rufst an und meldest dich krank. Die Zeugnisse bringe ich für dich vorbei. Dann muss eben ein anderer mit den Kids den Ausflug machen und der Rest kann auch mal ausfallen oder vertreten werden.“

Ich nickte ergeben, eigentlich hatte sie ja recht. Ich fühlte mich nur viel zu schwach um überhaupt noch irgendetwas zu entscheiden. Ich war nämlich längst und vor allem entscheidungsunfähig und wusste es nicht.

Carmen fuhr fort: „Ich kenne dich. Selbst wenn wir beide das nun zusammen vernünftig entscheiden, wirst du morgen früh einfach weiter machen, weil du dich nicht krank fühlst. Und dann fallen dir die Kinder ein und die tausend Dinge, die du noch mit ihnen erledigen willst. Die du ihnen versprochen und mit ihnen geplant hast. Wir machen das anders.“

Sie holte ein Blatt Papier und schrieb darauf mit großen Buchstaben:

„Ich kann nicht in die Schule gehen und ich melde mich krank. Carmen hat das bestätigt und ich habe es ihr versprochen.“

Den Zettel sollte ich auf meinen Küchentisch kleben, morgens dann gleich die Schule anrufen, zum Arzt gehen und mich danach hinlegen. Ich unterschrieb die Zeugnisse, wir umarmten uns zum Abschied und sie wünschte mir noch gute Besserung und schöne Ferien. Es sollten lange Ferien werden.

Am nächsten Morgen war ich tatsächlich versucht weiter zu machen. Den Zettel auf dem Tisch ignorierte ich erst einmal, zog mich an, packte meine Sachen und ging los. Ich kam nur bis zur nächsten Ecke, dann kehrte ich verwirrt und unsicher um, ging zurück, setzte mich in die Küche, las den Zettel wieder und immer wieder.

„Ich kann nicht in die Schule gehen und ich melde mich krank. Carmen hat das bestätigt und ich habe es ihr versprochen.“

„So ein Käse,“ dachte ich dann wieder, und mir fielen meine gut geplanten Stunden ein, die Kinder und die Kollegen, auf die ich mich ja auch freute. Ich machte mich also erneut auf, um dann doch an der nächsten Kreuzung wieder umzukehren. Schließlich blieb ich einfach am Tisch sitzen und betrachtete das Blatt Papier. Daneben hatte ich mir abends das Telefon schon bereitgelegt. Ich rief in der Schule an, sagte meine Sätze, nahm die guten Wünsche der verständnisvollen Sekretärin entgegen und legte auf. Nun brachte ich ganz mechanisch den Arztbesuch hinter mich, legte die Krankschreibung gefaltet in den sorgsam vorbereiteten frankierten Briefumschlag, warf ihn in den Briefkasten und legte mich nieder. Ruhe. Endlich. Mit der Aussicht auf mehr als sieben freie Wochen bis zum nächsten Schuljahr.

So verging der Montag, und das war zufällig auch noch genau der Tag, an dem die Bauarbeiter frühmorgens eine Mörtelmischmaschine vor meinem Fenster aufbauten und sofort lautstark in Betrieb setzten. Ich wohnte damals im Souterrain und musste nun ausgerechnet in einer Baustelle meine Genesung vorantreiben. Und das auch noch als Staub-Allergiker, lüften konnte ich nur noch nachts. Aber ich war längst zu schwach für jeden Protest oder vernünftigen Gedanken und stopfte meine Ohren in die Kissen, um das laute Rumpeln nicht zu hören. Meine Wohnung stand bereits voller Umzugskisten und kaum etwas befand sich noch an seinem alten Platz, denn eigentlich war für den Beginn der Ferien mein Umzug geplant, um genau dieser Haussanierung zu entkommen, die mich nun nervlich an den Rand des Wahnsinns trieb. Meine Krankschreibung kam also viel zu früh und völlig ungelegen. Doch mittlerweile war mir selbst mein Umzug egal. Es dauerte ein paar Tage, bis die Vermieterin auf die Idee kam, dass die Maschine eine Zumutung für mich sei, ich hörte sie schimpfen. Zu der Zeit hatten die Bauarbeiter die Kellerverschläge in der anderen Haushälfte bereits beseitigt und zogen mitsamt Mörtelmixer in den dortigen Keller ein. Nun lag die Baustelle meiner Wohnung gegenüber und es rumpelte und dröhnte vom Flur. Ich lag derweil bei geschlossenem Fenster in meinem finsteren Verlies und wurde immer schwächer. Ich spürte kaum noch Hunger oder Durst und fiel in einen geistigen Dämmerzustand, aus dem ich nur ab und zu auftauchte, wenn sich körperliche Bedürfnisse meldeten.

„Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr...“ Ich wollte nur noch eines: Ruhe. Frieden.

„Ich sterbe!“ dachte ich irgendwann und es berührte mich nicht. Ich wollte dieses Leben nicht mehr, das seit langem nur noch aus Arbeit bestand. Ich wollte nur noch meinen Frieden finden. Mein Leben war voller Brüche und Enttäuschungen gewesen, und die wenigsten meiner Träume hatten sich auch nur annähernd erfüllt. Nur meine Kinder, die hatte ich beide aus ganzem Herzen gewollt und bekommen. Aber die lebten längst ihr eigenes Leben. Nein, keiner würde mich wirklich vermissen. Ich konnte gehen. Ich versank wieder im Dämmer. Ein Geräusch der Bauarbeiter riss mich erneut aus meinem Nebelreich. Nun wurde ich mir vage bewusst, dass ich ganz flach atmete. Ich war einer Ohnmacht nahe. Ich sterbe... Einverstanden, dachte ich noch und versank erneut im Nebel.

„Nein!“ schrie es plötzlich in mir und mein zweites Ich aus jener Nacht drang durch die Schleier meines Dämmerns bis in mein Bewusstsein. „Ich will leben!“ platzte es aus mir heraus und zwang meinen völlig erschöpften Körper zu tiefen Yoga-Atemzügen. Es dauerte trotz großer Kraftanstrengung dann noch sehr lange, bis ich wieder soweit bei Kräften war, herum zu kriechen und nach dem Telefon zu suchen. Ich wollte einen Arzt rufen. Aber in diesem Durcheinander bestand so gut wie keine Chance, den Hörer oder die Basisstation zu finden, ich gab wieder auf. In meinem wirren Geist kam ich nicht auf die Idee, mir von meinen Nachbarn helfen zu lassen, es gab nur noch einen Gedanken in meinem Kopf:

„Ich muss sofort zum Arzt, sonst sterbe ich.“

Die fünfhundert Meter bis zu meiner Hausärztin bewältigte ich irgendwie, ich taumelte, lehnte mich an Zäune und versuchte das helle Tageslicht möglichst zu meiden. Wie ein Penner muss ich ausgesehen haben, ungewaschen und natürlich noch in den Kleidern von Montag, die hatte ich seit vier Tagen nicht gewechselt. Nur Geldbörse und Schlüssel nahm ich mit, und das mehr aus einem vertrauten Reflex heraus.

Ich kämpfte mich langsam die Stufen hoch zu der Praxis im ersten Stock, sank auf die kleine Bank im Empfang und erhielt auch sogleich Hilfe. Die Ärztin fragte mich, wann ich das letzte Mal etwas getrunken hätte und ich wusste es nicht mehr. Sie stabilisierte meinen Kreislauf mit einer Spritze, hängte mich an einen Tropf mit Nährlösung und empfahl mir dringlich die sofortige Einweisung in die psychiatrische Notfallstation des Universitätsklinikums. Burn-Out... Und bis man sich dort um mich kümmern könne, würde ich am besten schlafen, weil mein Körper sonst hyperventilierte. Ich war mit allem einverstanden. Sie rief den Notfallwagen, und das letzte, an das ich mich erinnern kann, war, dass sie mich mit ihrer Spritze einschläferte.

Hurra, die Lichtfilzlinge kommen

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