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Einige Monate später

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Mein Umzug fand ganz ohne mich statt, meine Kinder und einige gute Freunde übernahmen alles, gott sei dank. Meine Habseligkeiten wurden im großen Keller des neuen Vermieters gestapelt, denn die Wohnung war noch nicht frei, meine Freundin Sonja als Vormieterin musste das Schuljahr ja auch erst noch zu Ende bringen. Eine Woche lang war ich in der Klinik umsorgt worden, dann entließ man mich mit der Begründung, man könne mir nicht mehr helfen, ich sei austherapiert. Da nahmen mich meine Eltern bei sich auf und kümmerten sich rührend um mich, ich verbrachte mehrere Wochen bei ihnen in Westdeutschland. Dann fuhr ich zurück nach Berlin, campte erst einmal auf meiner Matratze in der leeren Wohnung und holte mir nach und nach den Hausrat aus dem Keller, ich hatte ja Zeit.

Immer noch fühlte ich mich erschöpft und bleischwer. Nichts ging mehr, außer rumliegen, essen, seltener lesen oder Musik hören und manchmal ein wenig rumbasteln. Je einfacher und monotoner die Arbeit, umso besser. Ich verstand nun auch, warum Tütenkleben eine sinnvolle Tätigkeit in der Psychiatrie sein konnte. Und ich hörte für lange Zeit auf, etwas zu wissen, zu können, zu müssen, zu wollen und für irgendetwas oder irgendwen verantwortlich zu sein. Ich hatte keine Kontrolle mehr über mein Leben. Absolut keine. Ich lebte von einem Moment zum anderen, vergaß im nächsten Augenblick schon, dass mir gerade etwas weh getan hatte und wusste nicht, ob ich meine Strümpfe demnächst selbst anziehen könnte. Ich ließ alles einfach auf mich zu kommen. Dachte ich an meinen Körper, tat mir meistens etwas weh. So konnte ich lange Zeit keine Treppen steigen oder spazieren, dachte ich aber nicht daran, war ich gut gelaunt. Und das passierte im Sommer des gleichen Jahres, in dem ich meinen Namen erfuhr.

Mühsam schleppte ich mich wie die sieben Jahre zuvor zur Psychoanalyse und manchmal zum Hausarzt, aber eigentlich war das jedes Mal so anstrengend, dass ich lieber zu Hause blieb. Allerdings hatte sich auch etwas Entscheidendes in mir verändert: Im Gegensatz zu meinem ersten Zusammenbruch, der mich in eine lange dunkle Nacht der depressiven Sinnlosigkeit geworfen hatte, aus der ich nur mühsam wieder heraus klettern konnte, war ich nun zwar körperlich ein Wrack, aber es ging mir psychisch blendend, was ich meinen Freunden gegenüber so formulierte:

„In mir scheint die Sonne, aber ich habe irgendwie keine Ahnung, was ich mit meinem Körper anfangen soll und ob er überlebt.“

Früher hatte ich Bücher gelesen über ein Weiterleben nach dem Tod und hatte dies von da an auch für mich selbst in Betracht gezogen, aber nun wusste ich es mit Sicherheit, dass ich weiterleben würde, so dass es egal war, ob ich gehen würde (sterben) oder bleiben. Meine Angst vor dem Tod war wie weggeblasen. Und so verging ein Jahr.

Mein körperlicher Zustand hatte sich nur ungenügend verbessert, mein Erinnerungsvermögen war schwankend, ich hatte oft Probleme, ein Wort zu finden und jedes auszufüllende Formular machte mich ziemlich nervös und ließ mich am Ende manchmal ganz scheitern. Aber ich hatte auch eine unendliche Geduld mit mir selbst entwickelt und passte mich meinen Schwächen so an, dass es einer Wetteransage gleichkam, mehr nicht. Dann sagte ich zum Beispiel:

„Stell dir vor, heute konnte ich alleine die Treppe hoch zum Müllcontainer laufen.“

Und ich sagte das so begeistert, als hätte ich davon erzählt, dass es draußen gerade in dicken Flocken schneite.

Oder: „Stell dir vor, heute habe ich wieder Fußgelenke, meine Füße sehen aus wie Füße!“

Und im Gegensatz dazu an anderen Tagen: „Heute nutze ich die Weite meiner Schuhe mal so richtig aus!“

So kam es, dass man mir auch von offizieller Seite klarstellte, dass der Schuldienst keine Verwendung mehr für mich haben würde. Das letzte Dokument vor meiner Versetzung in den Ruhestand wegen Berufsunfähigkeit war eine Dankesurkunde zum 25-jährigen Dienstjubiläum.

Die Freude über das Dokument feierte ich mit meiner Freundin Barbara in einem Miniurlaub auf dem Bauernhof. Zu der Zeit konnte ich gerade den rechten Arm schon vier Wochen nicht heben, nur ein kleines Stück unter Schmerzen. Ein Ostheopath konnte auch nicht helfen, ermutigte mich aber, über die Schmerzgrenze hinweg zu trainieren. Ich sei vielleicht einfach nur eingerostet, hatte er noch halb im Scherz gesagt. Und so zog ich dann mehrmals täglich meine Hand in der Schlinge an einem Seil hoch ins Gebälk, das Fachwerk war geradezu ideal dafür. Ich hatte eben immer was zu tun. Und der Urlaub neigte sich schon dem Ende zu, als der Bauer – oder sollen wir sagen – das Schicksal - vorbeikam, und alle Gäste fragte, ob jemand die frisch geschorene Wolle seiner beiden Schafe geschenkt haben wollte. Ich wusste augenblicklich, dass ich gemeint war und rief: „Ja, ich!“

Denn meine Lebenserfahrung hatte mich gelehrt, dass es lange dauern konnte, bis das Schicksal erneut an die Tür klopfte. Und so kam es, dass ich am Ende unseres Urlaubs mit einem Kofferraum voller Schafschur und einem konkreten Verdacht nach Hause fuhr. Veränderungen zum Guten waren nämlich meist mit der Puppenmacherei in mein Leben gekommen. Sollte man also auch aus Wolle Puppen machen können? Mir schwebten da nicht die mir bekannten Figuren der Waldorfschulen oder die genähten Lenzi-Filzpuppen vor, sondern – eigentlich wusste ich nicht so recht, was, eben etwas Neues. Wahrscheinlich ging es aber um Filz. Zuhause angekommen, und trotz völliger Erschöpfung von der Reise, setzte ich mich gleich an den Computer, ging ins Internet und gab die Worte „Puppen, Filz“ in die Suchmaschine ein. Erst staunte ich nur mit großen Augen, dann war ich absolut begeistert: Das war es. Ja, das wollte ich machen!

Hurra, die Lichtfilzlinge kommen

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