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Dionysos

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Bei Barbara begann ich auch an meiner zweiten Figur zu arbeiten, denn den Bären aus der Bastelpackung zählte ich nicht mit. Dabei konzentrierte ich mich ganz auf Freude und alles, was das Leben schöner machte. Das Leben sollte man doch auch genießen können und ich wollte das jetzt auch tun. Und wenn das Filzen tatsächlich die angenommenen Auswirkungen hatte, so wollte ich nun bewusster mit meinem Talent umgehen und mir die Freude herbeizaubern. Mit oder ohne Partner, ich wollte nicht mehr im Mangel sondern in der Fülle leben, statt wie die vielen Jahre davor nur noch zu überleben. Und vorsichtshalber betete ich auch zu Gott, dass er mich beim Filzen führen möge.

Unter meinen Händen formte sich die Rohwolle zu einem großen Kopf, diesmal aber – anders als bei der Maske - mit Nadeln gefilzt und dreidimensional. Ein lebensfroher Männerkopf entstand mit einer wuchtigen Nase und schwarzgelocktem Haar. Wieder war der Filz viel zu locker, stundenlang stach ich geduldig auf die Wolle ein. Aber er wollte einfach nicht fest werden. Schließlich war wenigstens der Kopf nach etlichen Stunden doch einigermaßen in Form, als es Zeit war zu gehen. Ich verabschiedete mich von Barbara ohne Traurigkeit. Wir hatten eine schöne Zeit erlebt und würden ja sowieso mindestens jeden zweiten Tag miteinander telefonieren, der modernen Telefon-Flatrate sei Dank.

Zu der nächsten Freundin waren es nur ein paar Autobahnstunden, ich freute mich auf Sonja. Sie kannte bereits meine großen Tierhandpuppen aus der Phase „Isolierschaum, Plüsch und Knetmasse“ und war auch bereits gespannt auf das Ergebnis meines experimentellen Monats mit Schafwolle und Natur. Ich packte den Kopf aus und da erst fiel mir auf, wie groß der wirklich geraten war. Ein Körper zu diesem Kopf würde mir absolut zu viel Arbeit machen! Es musste bei dem Kopf bleiben, mehr Lust hatte ich nicht. Meine Freundin war trotzdem ganz begeistert.

„Den muss ich unbedingt haben, der sieht ja aus wie Dionysos!“

Sonja war Fachfrau auf dem Gebiet der griechischen Götterwelt, hatte neben dem Lehramt noch Philosophie studiert und sich intensiv mit den alten Griechen beschäftigt. Mir fiel nun auch auf, dass ihn schon ein wenig das Flair von einem Gott des Vergnügens, des Überflusses, des Rausches und des Weines umgab. Auf dem Balkon fand ich ein Füllhorn aus Ton, das ich Sonja einige Zeit zuvor zum Abschied aus Berlin getöpfert hatte, es war mir nun wieder eingefallen. Dort passte der Kopf des Dionysos auch perfekt in die Öffnung und so schenkte ich ihn Sonja. Sie freute sich riesig und bestand auf einer Gegengabe, einem silbernen, leise klingelnden Kugelanhänger, und so erhielt ich mein erstes Narrenglöckchen, auch wenn ich selbst den Narren zum damaligen Zeitpunkt noch ganz weit von mir gewiesen hätte. Sonja war ganz hin und weg von ihrem Dionysos und ich eigentlich auch so zufrieden mit mir selbst und meiner Filzerei wie noch bei keiner Filzpuppe zuvor. In der Nacht, als Sonja schlief, filzte ich rasch noch Trauben und Weinranken und ließ sie aus dem Füllhorn über die Haare des Gottes quellen, um das Götteridyll noch zu perfektionieren.


Ich wurde sehr nachdenklich. Hatte ich bei Barbara schon gewusst, dass der Kopf für Sonja genau richtig sein würde? Dass da ein griechischer Gott unter meiner Filznadel entstand? Und im Jahr zuvor, hatte ich da irgendwie gewusst, dass ich später ein Füllhorn brauchen würde und es dann auch noch genau in der idealen Kopfgröße getöpfert? Nein, nichts dergleichen. Ich machte einfach und sah keine dieser Zusammenhänge und schon gar nicht voraus.

Und: Es war schon das zweite Mal passiert, dass jemand unbedingt eine Puppe von mir haben wollte. „Die ist genau für mich!“ Seit über dreißig Jahren machte ich nun Puppen aus allen nur denkbaren Materialien, aber das war mir noch nie passiert. Meine Freundinnen waren auch früher begeistert von meinen Puppen und voll des Lobes, aber nur selten wollten sie auch eine Puppe von mir haben. Selbst geschenkt nicht. „Die verstaubt nur“ oder „die ist doch zu schade“ waren ihre Ausreden, aber tief in mir drin wusste ich, so gut gefallen hatten meine Puppen ihnen dann doch nicht, sie wollten nur nett sein.

Und nun riss man mir schon die zweite Filzfigur fast aus der Hand! Ich genoss es, es war wunderbar, auch wenn ich nicht wusste, was jetzt anders war als früher, denn ich machte wie immer einfach drauflos, abgesehen davon, dass ich mich diesmal sehr konzentriert hatte, Gott einzuladen und auch nur an Freude und Fülle in meinem Leben zu denken. Hatte es mit dem Filz zu tun? Oder womit sonst? Es tauchten immer neue Fragen dazu auf. Hatte ich mich positiv verändert und spiegelte sich das automatisch in den Filzfiguren? Möglicherweise spürten meine beiden Freundinnen aber auch genau diese Kraft, die ich in der Hütte im Wald als mein Talent entdeckt hatte und die in den Märchenbüchern meiner Kinderzeit „Zaubern“ genannte wurde? Spürten Sonja und Barbara den Zauber meiner Filzfiguren? Und da fiel mir ein: Man sprach doch sogar davon, dass einen etwas regelrecht „verzaubert“ hatte, wenn es besonders gut gefiel.

Und irgendwie benahmen sich die beiden auch so, als seien sie regelrecht verliebt in ihre Puppe. Aber das war wiederum normal, befand ich und gab innerlich wieder Entwarnung zu der seit meinem Zusammenbruch in schöner Regelmäßigkeit auftauchenden Frage, ob ich nun doch noch verrückt geworden sei. Ich hatte schon mehr als einmal erlebt, wie verliebt Männer um ihr neues Auto schlichen. Waren dann neben den Wollfasern auch meine Gedanken und Gefühle in den Filz hineingeflossen und gespeichert wie bei einer Musikaufnahme auf CD? Vielleicht hatte sich ja auch nur mein innerer Durchfluss an kreativer Lebenskraft vergrößert und das erlaubte mir nun, viel schöner zu gestalten als vorher? Nun, das konnte doch auch sein! Ich fand die beiden Puppen ja auch irgendwie sehr eindrucksvoll. Aber dann lag die Faszination eines wunderbaren neuen Autos auch nur an den vielen herrlichen technischen Gedanken, gefühlten Fahrzeugträumen und kraftvollen Händen, die dieses Wunderwerk der Technik entwarfen und in einer komplizierten Montage erschufen, und Männer spürten das dann eben: So viele Männer an einem Auto! Wenn sie dann mit diesem glänzenden Metallgerät losfuhren, saßen sie mit all diesen anderen Männern zusammen hinterm Steuer und so kraftvoll und potent fühlten sie sich dann auch. Machte ich etwas Ähnliches für Frauen? Gut, zugegeben, meine Statistik stand mit zwei Probandinnen noch auf sehr schwachen Beinen, aber ich wollte dranbleiben. Ich liebte es einfach, wenn ich auf interessante Forschungsfragen stieß, die mein Leben auf unterhaltsame Weise bereicherten. Oder sagen wir es einmal anders: Seit ich nicht mehr arbeitete, fiel mir etwas die Decke auf den Kopf. Und diese Frage zumindest hatte mich nachher auch nicht mehr weiter beschäftigt.

Tags darauf wanderte ich mit Sonja durch den Schwetzinger Schlosspark, in dem ganz viele Götterskulpturen aufgestellt waren. Mit jeder Statue schwelgten wir beide in der griechischen Mythologie. Gottseidank gab es viele Bänke, um immer wieder zu ruhen, denn mein Körper ächzte und stöhnte, diesmal schmerzten vor allem die Knie, aber in mir und draußen im Park schien die Sonne. Sonja erzählte Geschichten um Geschichten über die Damen und Herren vom Olymp, einfach wundervoll. Und ich bekam richtig Lust, noch mehr solche mythologischen Gestalten entstehen zu lassen. Einmal erzählte Sonja mir so ganz nebenbei, dass sie immer schon im Wald Elfen, Trolle, Zwerge und andere Wesen gesehen hätte und manchmal mit ihnen spräche.

„Aber das ist doch zumindest bei allen Kindern so,“ meinte sie, als ich sie darum beneidete: Denn in meinem Leben war bis vor kurzem alles rational und ganz normal gewesen. Sonja umgekehrt staunte, dass ich diese Kindheitserfahrung nicht gemacht hatte.

Durch das Gespräch über Elfen und Zwerge fiel mir jedoch plötzlich etwas anderes ein: Auch bei Sonja hatte ich die ganze Nacht schlecht geschlafen! Und so fragte ich sie:

„Denkst du oft beim Einschlafen noch an diese Welten?“ und „Kannst du gut in deinem Bett schlafen?“

Mein Verdacht wurde bestätigt, denn ich schlief in Sonjas Bett und sie war in das Bett ihres Sohnes gewechselt. Aber ich sagte noch nichts. Als ich mich abends hinlegte, spürte ich diesmal sehr genau hin, und richtig, da war dieses unruhige und wellige Fließen wieder, aber natürlich achtete ich auch mehr darauf. Ein Tor! Na klar! Diesmal wusste ich sofort, was zu tun war. Ich ging zum Balkon, suchte mir eine schöne Stelle im Garten aus, bugsierte das Tor umgehend in einen Edelstein und warf den Stein dann in hohem Bogen hinunter. Nun verstand ich auch, warum manche Leute immer ein paar Edelsteine dabei haben, für alle Fälle.

Danach war das Bett nur noch ein Bett und ich schlief die zweite Nacht prima. Sonja war am nächsten Morgen erstaunt, als ich ihr von Toren erzählte, aber es klang für sie alles plausibel. Und es war offenbar wichtiger, als ich bisher annahm, was ich in meinem Bett dachte und fühlte, vor allem kurz vor dem Einschlafen. Und da begriff ich auch, wie viel mehr Bedeutung es haben musste, mir als letztes ein Gebet anzugewöhnen. Aber ich wusste damals auch noch nicht, ob diese Tore allen Menschen passieren konnten.

Dionysos jedenfalls fand seinen Platz auf dem Balkon. Einmal beobachtete Sonja dort Vögel, die sich immer wieder ganz still vor den Kopf setzten. Sie wollte sicher gehen und schaute auf dem Boden nach, ob da Krümel lägen, aber der Boden vor dem Füllhorn war ganz sauber. Die Vögel – so vermuteten wir beide ab da, hatten sich mit Dionysos ausgetauscht. Der Kopf bildete den Mittelpunkt da draußen auf dem Balkon. Aber weshalb kamen die Vögel wirklich? Zumindest fühlten sie sich wohl vor dem Dionysos. Sonja empfand auch immer öfter, dass der Kopf (eigentlich also Dionysos) sich mit ihr in Gedanken unterhielt. Eines Nachts schien der Mond durch ihr Balkonfenster und er stand genau über der Stelle, wo sie wusste, dass dort der Kopf lag. Merkwürdig war nur, dass das helle Licht nach einer Weile wieder verschwand und so trat sie auf den Balkon, um den Mond am wolkenlosen Himmel zu suchen. Aber der stand ganz woanders, und auch nicht so, dass er sich hätte spiegeln können. Erstaunt berichtete sie mir davon. Ich hatte mittlerweile schon von einigen paranormalen Begebenheiten rund um meine anderen Filzfiguren gehört und wunderte mich nicht mehr. „Er hat dich gerufen,“ bestätigte ich nur die Gedanken meiner Freundin.

Hurra, die Lichtfilzlinge kommen

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